29.07.2022
Ukrainisches Kulturerbe in Gefahr: Die UNESCO und das Völkerrecht für die Erhaltung der ukrainischen Kultur und Identität
Erste Reaktionen der UNESCO auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022
„We must safeguard the cultural heritage in Ukraine, as a testimony of the past but also as a catalyst for peace and cohesion for the future, which the international community has a duty to protect and preserve.“ Link
Mit diesem Statement zu Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 positionierte sich die Generaldirektorin der UNESCO, Audrey Azoulay, in klarer Weise und unterstrich gleichzeitig die hohe Bedeutung, die das Kulturerbe, ob materiell oder immateriell, nicht nur in Zeiten des Friedens einnimmt. In dieselbe Richtung weist Lazare Eloundou Assomo, Direktor des Welterbezentrums der UNESCO, der Kulturerbe eine besondere Rolle zuspricht: „…we turn to heritage as a source of resilience in armed conflict. We must protect heritage as a means for trauma healing and hope for the future.“ Link
Kulturerbe in seiner ganzen Vielfalt verbindet wie kein zweites Gut unserer Zeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und muss daher in Friedenszeiten präventiv gesichert und in bewaffneten Konflikten aktiv geschützt werden.
Insgesamt befinden sich sieben offiziell anerkannte Weltkulturerbestätten in der Ukraine, darunter die Sophienkathedrale in Kiew, das Höhlenkloster Lawra Petschersk sowie das historische Zentrum von Lwiw.
17 weitere Stätten, die sich auf der sogenannten Tentativliste befinden, sind außerdem für eine Nominierung zur Aufnahme in die Welterbeliste vorgesehen. Diese Stätten sind ebenso wie das gesamte beeindruckend reiche materielle und immaterielle Kulturerbe der Ukraine zu schützen und für lebende und künftige Generationen zu bewahren.
Selbst wenn das kriegsbedingte Ausmaß der Zerstörung noch unklar ist, so verstößt doch eine bewusst herbeigeführte Schädigung von Kulturerbestätten klar gegen die angeführten internationalen Abkommen und damit gegen geltendes Völkerrecht.
Als Antwort auf die dramatischen Folgen für das Kulturerbe auf ukrainischem Boden hat die UNESCO seit Beginn des Krieges eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die sowohl auf den Erhalt von beweglichem und unbeweglichem Kulturgut (vgl. Haager Konvention 1954, Art. 1) als auch auf die Unterstützung von Menschen ausgerichtet sind. So haben die UNESCO, ICCROM und das Maidan Museum in Kiew das Handbuch „Endangered Heritage: Emergency Evaluation of Heritage Collections“ ins Ukrainische übersetzt. Diese Anleitung kann helfen, „der Zerstörung und Plünderung von kulturellen Objekten vorzubeugen“ Link und stellt eine technische Unterstützung der UNESCO für die Sammlungen und Museen in der Ukraine dar.
Eine technische Delegation der UNESCO besuchte im Juli 2022 Kiew, um die Bedarfe der ukrainischen Behörden innerhalb der Zuständigkeit der UNESCO zu evaluieren und, wo möglich, Unterstützung zu leisten. Da es vielfach an Verpackungsmaterial, feuersicheren Kisten, Brandschutzmitteln und ähnlichem fehlt, benötigen die Kulturinstitutionen der Ukraine auch Hilfe von ausländischen Partnern, um Kulturgüter zu retten, etwa von dem neu ins Leben gerufenen „Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine“. (Johannes Nathan, in Politik & Kultur 6/22, S. 4, Link )
Über die Beschädigung und Zerstörung von Kulturerbe hinaus, zeigt sich die UNESCO ob der möglichen Entwendung und illegalen Verbringung von beweglichen Kulturschätzen außer Landes außerordentlich besorgt.
Gemeinsam mit einer Reihe Internationaler Einrichtungen und Organisationen ruft die UNESCO daher eindringlich auf, die Regeln des Übereinkommens über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut von 1970 zu respektieren. Link Die in den Handel mit Kulturgütern involvierte Öffentlichkeit sowie Händler:innen sollen es unterlassen, „am Import, Export und der Übertragung von Besitzrechten von Kulturgütern“ mitzuwirken. Dies gelte insbesondere, wenn ein hinreichender Grund zur Annahme bestehe, dass diese Güter rechtswidrig veräußert, heimlich ausgegraben oder illegal aus der Ukraine geschafft wurden.Link
Die Gefahren für das überaus reiche und wertvolle ukrainische Kulturerbe sind somit vielfältig und real. Die Vernichtung nicht nur des materiellen, sondern auch des immateriellen Kulturerbes bedroht die ukrainische Identität. Die Zerstörung von Archiven führt zu einem Verlust des kulturellen Gedächtnisses, vermittelt durch Sprache, Texte, Bilder, Traditionen und Kunst. Kunst- und Kulturschaffende sind in ihrer Existenz bedroht.
Täter:innen, die Verbrechen an Kulturgut begehen, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Innerhalb der Vereinten Nationen überwacht die UNESCO im Rahmen einer unabhängigen, koordinierten Untersuchung der Lage heute die Zerstörung und Beschädigung von Kulturerbe durch Satellitenbilder und Beobachtungen vor Ort Link Alle für den Erhalt des Kulturerbes relevanten Entwicklungen werden engmaschig dokumentiert und die Beweislage für die Durchführung von Strafverfahren wird nach Kräften gesichert. Denn die Zerstörung von (Welt-)Kulturerbe ist sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene strafrechtlich verfolgbar. Ist ein Staat nicht willens oder nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen, so können Täter:innen international zur Rechenschaft gezogen werden, wie der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag im Jahr 2016 im Fall gegen Ahmad Al Faqi Al Mahdi nach der Zerstörung der Mausoleen in Timbuktu, Mali, einem UNESCO-Weltkulturerbe, bereits erfolgreich gezeigt hat. Link
Dass es um die breite Ächtung von Kriegsverbrechen auch auf politischer Ebene geht, machte die Deutsche UNESCO-Kommission (DUK) deutlich. Sie verlangte in ihrer auf der 82. Mitgliederversammlung am 24. Juni 2022 verabschiedeten Resolution, im Rahmen der UNESCO Regeln einzuführen, „die es ermöglichen, dass Staaten bei schwerwiegenden Völkerrechtsverstößen und gravierenden Menschenrechtsverletzungen (…) ihr Stimmrecht in allen zwischenstaatlichen Gremien der UNESCO verlieren und insbesondere Vorsitz nicht mehr ausüben dürfen“. Link
Daneben stellt sich bereits heute die Frage der angemessenen Behandlung von Kulturgut in der Postkonfliktphase. Im Interview mit der spanischen Nachrichtenagentur EFE versprach UNESCO-Generaldirektorin Azoulay, die UNESCO werde „die Welt mobilisieren, um das (kulturelle) Erbe der Ukraine wiederaufzubauen“. Link Hierzu wurde bereits jetzt ein Hilfsfonds ins Leben gerufen, der durch die finanzielle Unterstützung der Mitgliedstaaten sowohl die aktuellen Schutzmaßnahmen als auch den Wiederaufbau von zerstörtem Kulturerbe sicherstellen soll. Link
Dies zeigt: Die Welt wird die in der Ukraine lebenden Menschen und ihr wertvolles Kulturerbe nicht vergessen, auch wenn heute schon klar ist, wie schwer die Heilung der vielen Wunden sein wird.
Linksammlung:
- UNESCO, zerstörte Stätten: https://www.unesco.org/en/articles/damaged-cultural-sites-ukraine-verified-unesco, ENG, (Stand: 08.05.2023);
- In the Face of War (Übersicht über Folgen des Konfliktes sowie UNESCO-Maßnahmen): https://www.unesco.org/en/ukraine-war?hub=66116, ENG, (Stand: 08.05.2023);
- DUK-Pressemitteilung anlässlich des Jahrestages des Ukraine-Krieges: https://www.unesco.de/presse/pressemitteilungen/ein-jahr-krieg-gegen-die-ukraine, DE, (Stand: 08.05.2023);
- Pressemeldung über die Verstärkung der Schutzmaßnahmen für Kulturgüter: https://www.unesco.org/en/articles/endangered-heritage-ukraine-unesco-reinforces-protective-measures, ENG, (Stand: 08.05.2023);
- Webseite von World Heritage Watch: https://world-heritage-watch.org/content/, ENG, (Stand: 10.05.2023);
- Zentrale Webseite des Netzwerks Kulturgutschutz: https://icom-deutschland.de/de/icom4ukraine.html, DE/ENG, (Stand: 08.05.2023);
- Webseite des Auswärtigen Amts über den Aktionsplan Ukraine: https://donezk.diplo.de/ukr-de/themen/weitere-themen/-/1427336, DE, (Stand: 10.05.2023);
- Deutscher Kulturrat, Übersicht über die Lage in der Ukraine: https://www.kulturrat.de/ukraine/, DE, (Stand: 10.05.2023).