Kulturelle Medien gesellschaftlicher Transformation (I)
Kulturelle Medien gesellschaftlicher Transformation
Veranstaltung der Sektion Kultursoziologie beim DGS-Kongress 2018 in
Göttingen (24.-28.9.2018)
Organisation: Anna Henkel, Hilmar Schäfer, Dominik Schrage
Gesellschaftliche Transformationen sind ein, wenn nicht der Kerngegenstand der Soziologie, zumindest erscheint es auch auf diesem Kongress wieder so, und es gibt ja allerhand Plausibilität dafür in modernen Zeiten. Waren es um die Wende zum 20. Jahrhundert Industrialisierung, Verstädterung, Bürokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft, so sind es nun Entwicklungen wie Globalisierung, Mobilisierung, Beschleunigung, Digitalisierung oder sozial-ökologische Transformationen. Theorien des sozialen Wandels, wenn man das überhaupt in dieser Knappheit sagen kann, untersuchen aus einer makrostrukturellen Perspektive die Etablierung breitenwirksamer sozialer Akteursgruppen und Präferenzordnungen – ohne jedoch nach der spezifischen Kulturalität der sie tragenden Praktiken und Sinnhorizonte zu fragen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die sehr einflussreiche „Theorie der gesellschaftlichen Phasenverschiebung“ von William Ogburn (1922). Obwohl in ihrer grundsätzlichen quantifzierenden Unterscheidung von unabhängigen, als dynamisch aufgefassten Variablen und abhängigen, das heißt von diesen beeinflussten Variablen, die Zuordnung von Technikentwicklung als dynamisch und Kultur als statisch-nachhinkend inhaltlich gar nicht festgelegt ist, so hat gerade dies doch im industriegesellschaftlichen Paradigma alle Plausibilität auf seiner Seite gehabt und wird auch heute noch überwiegend so interpretiert. Damit wird gewissermaßen subkutan die Marx’sche Doppelkonstruktion von Gesellschaft dynamisierenden Produktivkräften auf der einen und den den Veränderungen der gesellschaftlichen Basis nachhinkenden kulturellen Überbauphänomenen repliziert.
In dieser Perspektive bleiben aber kulturelle Phänomene, die ursprünglich von kleineren Gruppen (wie etwa Avantgarden) initiiert werden und in abgegrenzten Feldern wie den Künsten, in Intellektuellenzirkeln oder auch Subkulturen eine besondere Bedeutung erlangen, angesichts ihrer geringen „Fallzahl“ unterhalb des Radars makrostruktureller Analysen. „Kultur“ als ein Ensemble von „Normen und Werten“ wurde als „kulturelles System“ bei Parsons als statisch gedachte Ressource für systemstabilisierendes Handeln gefasst, oder wie eben erwähnt bei Ogburn nachhinkend, die „lags“ sind scheinbar immer kulturelle.
Demgegenüber ist die Untersuchung gerade solcher Avantgardephänomene ein zentrales Interesse der Kultursoziologie – jedoch häufig, ohne dass diese Fallanalysen kultureller Formen explizit auf ihre Einbindung in gesellschaftliche Transformationsprozesse hin befragt werden. Eine gewichtige Ausnahme ist dabei sicherlich Simmel, dessen Gegenüberstellung von objektiver und subjektiver Kultur zwar sicherlich mit der soeben erläuterten Perspektive konform geht, der aber wie kaum ein anderer der frühen Soziologen ein Interesse für die kleinen sozialen Formen und ästhetischen Phänomene entwickelte und sie in Beziehung zu den großen Tendenzen der modernen Gesellschaft setzte.
So werden die potentiell transformativen Implikationen der in der Kultursoziologie dicht beschriebenen Phänomene oft übersehen. Gegenstand dieser Veranstaltung soll es daher sein, makrostrukturelle gesellschaftliche Transformationsprozesse und Fallanalysen kultureller Formen explizit aufeinander zu beziehen.
Konkrete Phänomene aus dem kultursoziologischen Forschungsfeld sollen auf ihre Einbindung in gesellschaftliche Transformationsprozesse hin befragt werden. Ein möglicher Ansatz ist, dieses Verhältnis mit Hilfe eines erweiterten, konzeptionell gemeinten, Medienbegriffs zu fassen: Zu so verstandenen kulturellen Medien gesellschaftlicher Transformation gehören demnach auch materiale und symbolische Formen wie etwa Architektur, Technologie, künstlerische Darstellungsweisen oder Konsumobjekte; gemeint sind also nicht nur die klassischen Verbreitungsmedien Sprache, Schrift, Buchdruck, Massenmedien und elektronische Medien wie Internet oder Twitter. Dies impliziert, dass sich gesellschaftlicher Wandel in den zu betrachtenden Formen nicht nur widerspiegelt, sondern durch sie auch hervorgebracht wird. In dieser Funktion kann die Analyse der so verstandenen kulturellen Medien gesellschaftlicher Transformation an eine Reihe geläufiger Konzepte und Metaphern anschließen, wie beispielsweise „Katalysator“, „Transmissionsriemen“ oder „Ansteckung“.
So kann zum Beispiel gefragt werden, ob ein spezifischer Architekturstil soziale Gefüge verändern kann. Weitere mögliche Fragestellungen könnten sein: Welche Rolle spielen Protestsongs für politische Umbrüche? Inwiefern hat die progressive Rockmusik zum Wertewandel der 1960er und 1970er Jahre beigetragen? Wie moderieren generationsspezifische Nutzungsweisen von technischen Medien die Aneignung und Durchsetzung neuer Technologien? Wie wirken juristische Innovationen wie etwa Modifikationen der Patentgesetzgebung auf die Durchsetzung wissenschaftlich-technischer Innovationen? Inwieweit bringt sich in einem verdinglichenden Umgang mit Natur nicht nur ein Natur-Kultur-Verhältnis zum Ausdruck, sondern wird diese Dichotomie perpetuiert? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit Verbreitungsmedien wie aktuell die digitalen Medien selbst auf ‚kulturelle Medien‘ angewiesen sind oder in einem Rückkopplungsverhältnis zu diesen stehen.
Indem mit dieser Veranstaltung makrostrukturelle Dimensionen gesellschaftlichen Wandels aus kultursoziologischen Fallstudien heraus erschlossen werden, soll ein neues, auch sektionsübergreifendes Forschungsfeld eröffnet werden.
Vorträge der Ad hoc-Gruppe:
Warenform und Energiebegriff. Historisch-soziologische Überlegungen zum Verhältnis von Kommodifizierung, Mathematisierung und Technisierung (Daniela Russ Universität Bielefeld)
Das Spießerverdikt: Von der Philisterschelte zur Gutmenschenbeschimpfung (Sonja Engel)
Die 1000 besten Songs aller Zeiten. Musikbestenlisten als Ausdruck und kulturelle Medien gesellschaftlichen Wandels (Oliver Berli, Michael Parzer)
Solutionismus, Transparenz oder kollektiver Narzissmus? Der „Geist“ des digitalen Kapitalismus in the making (Tilman Reitz, Susanne Draheim)