15.02.2023
Workshopbericht "Die heile, unvernetzte Welt?" mit Prof. Dr. Urs Stäheli am 23.01.2023
Zum Abschluss des Wintersemesters 2022/2023 lud das Schaufler Kolleg@TU Dresden Prof. Dr. Urs Stäheli, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg, zu einem interdisziplinären Workshop ein. Gegenstand des Workshops waren Diskussionen um Künstliche Intelligenz im Zusammenhang mit Fragen von sozialer Ver- wie Entnetzung.
Gegenwartsgesellschaften werden häufig als Netzwerke beschrieben. In einem Netzwerk erscheinen Personen und anderen soziale Entitäten als Knoten, die mit anderen durch Beziehungen verbunden ist. Ein Knoten mit vielen Verbindungen wird als zentraler in einem solchen Netzwerk angeordnet, Knoten mit wenigen Verbindungen liegen am Rand. Zentrale Positionen in Netzwerken werden als wünschenswert betrachtet: Die Einzelne wird nach ihrer Konnektivität bewertet. Eine Gesellschaft, die sich als Netzwerk organisiert, fördert ständige Erreichbarkeit und Flexibilität. Normatives Ziel ist dann der Aufbau einer möglichst hohen Anzahl von Assoziationen.
Urs Stähelis Buch „Soziologie der Entnetzung“, 2021 erschienen, analysiert Netzwerke als reale wie auch imaginäre Kräfte und erarbeitet ein theoretisches Vokabular zur Beschreibung von Praktiken, Techniken und Infrastrukturen der Entnetzung, die sich innerhalb von Netzwerken realisieren. Stähelis Ansatz verhandelt dabei populäre Vernetzungskritiken als immanente Formen der Kritik. Da man sich „nicht einfach von der Tradition des relationalen Denkens freischwimmen kann, sondern ihrer bedarf, um überhaupt erst über Entnetzung nachdenken zu können“ (Stäheli 2021:19), erscheinen ihm Vernetzungskritiken besonders in ihrer konstitutiven Widersprüchlichkeit interessant. Stäheli richtet seinen Blick auf Beispiele wie den Schüchternen (als Beispiel einer personellen Entnetzung), den Ladenhüter (als Beispiel einer Entnetzung von Objekten) und das Buffering (als Beispiel für die Entnetzung von Daten), die unter der Metapher des Netzwerkes als Fehler erscheinen.
Er wendet sich gegen romantisierte Vorstellungen des ohnehin zumeist nur zeitlich begrenzt möglichen Entkommens von den Zumutungen und Zwängen des Netzwerks: „Das grundlegende Axiom der Netzwerkgesellschaft [ist,] dass es kein Außen von Netzwerken gibt und dass daher jede Form der Entnetzung eine naive subjektivistische Selbsttäuschung ist“ (Stäheli 2021:12). Entnetzungspraktiken wie Digital Detox oder Phänomene der Übervernetzung wie net fatique sind keine die Vernetzung auflösenden, sondern der Metapher immanente Praktiken und Phänomen.
Auch in anderen Bereich, z. B. der Ökologie und Biologie, werden Netzwerke als Metapher zur Beschreibung und Interpretation des Untersuchungsgegenstandes genutzt. Die Vorstellung eines Schleimpilzes oder eines Moos etwa wären Bilder einer ‚natürlichen‘ und ‚harmonischen‘ Ordnung. Doch die Fremdartigkeit die in einer solchen Struktur stecken kann, wie sie exemplarisch bei Deleuze und Guattari im Begriff des Rhizoms eine Darstellung findet, ist Stäheli ein theoretischer Wortgeber für das, was er als Netzwerkfieber bezeichnet: das wuchernd wachsende Netz, das keine Grundlage besitzt außer den eigenen Beziehungen. Kollegiat Michael Klipphahn-Karge fasst Aspekte dieser Phänomene unter den Begriff der Alterität, denen er in seiner Forschungsarbeit Bedeutung zumisst und erläutert am Beispiel der Gedanken Horst Bredekamps zum einem Pokal als Daphne (Wenzel und Abraham Jamnitzer, um 1580), dass diese Weise der theoretischen Betrachtung gewinnbringend erscheint.
Die Metapher des Netzwerkes impliziert einen „Konnektivitätsbias“, den Stäheli in der Analogie zur Apophänie, einem pathologischen Zwang zur Mustererkennung, anschaulich macht. In algorithmischen Modellen erfolgt die Erkennung von Mustern und das Herstellen von Beziehungen auf Grundlage von errechneten Wahrscheinlichkeiten. Erfolgt die Herstellung von Beziehungen in einer Gesellschaft auf die gleiche Weise? Das eingangs beschriebene Bild scheint mit den aktuellen Techniken und der tatsächlichen Organisation gesellschaftlicher Strukturen nicht übereinzustimmen.
Die vielfältigen Diagnosen der Übervernetzung in den Blick nehmend, erschöpfen sich Stähelis Betrachtungen aber nicht im Bereich der Digitalisierung. Dass die Netzwerkmetapher schon älter als die Digitalisierung ist, kann die Kollegiatin Rebekka Roschy durch ihre bisherigen Forschungsergebnisse unterstreichen. Bereits in den Arbeiten von Georg Simmel ist die Metapher der Vernetzung zu finden und daher eher an Vorstellungen der Moderne als an spezifische Techniken, wie sie unter der Digitalisierung zusammengefasst werden, geknüpft.
Inwiefern ist Technik hier Grund oder Konsequenz einer Metapher, die in der frühen Moderne entstanden ist? Entstehen die Widersprüchlichkeiten aus einem unzureichendem Verständnis der Metapher, unzulänglicher technischer Realisierung oder daraus, dass der Wirklichkeit ein anderes Modell zugrunde liegt? Und welche alternativen Modelle oder Vorstellungen können wir entwickeln, um die Ambivalenzen, die sich allgegenwärtig zeigen, begreifen zu können? Diese und viele andere Fragen konnten wir im Workshop mit Urs Stäheli besprechen. Das Schaufler Kolleg@TU Dresden bedankt sich herzlich für den produktiven Austausch!
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Prof. Dr. Urs Stäheli ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg. Sein Buch „Soziologie der Entnetzung“ ist 2021 im Suhrkamp Verlag erscheinen.
Der Workshop wurde von Richard Groß, Stipendiat des Schaufler Kolleg@TU Dresden organisiert und moderiert.
Bericht: Sandra Siwek