Jul 09, 2019
CFA: „Invective Gaze im digitalen Bild“ – Themenheft der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift
Proposals für mögliche Beiträge
Gesucht wird nach Proposals im Umfang von 600 bis max. 900 Wörter bis zum 31. Oktober 2019 an und . Die Auswahl soll bis Ende November erfolgen. Nach Zusage bitten wir um Einreichung der fertigen Beiträge bis zum 30. April 2020. Am 25./26. Juni 2020 ist an der TU Dresden ein gemeinsamer, für alle Beitragende verpflichtender Workshop zum gegenseitigen Review angedacht. (Anreise- und Übernachtungskosten werden vom SFB 1285 Invektivität übernommen). Das geplante Themenheft der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift (Antrag aktuell in wohlwollender Prüfung) wird als Open-Access Publikation zugänglich gemacht und nach Relaunch der Seite (September 2019) dort in digitalem Format mit Einbindungsmöglichkeiten von Foto- und Videoausschnitten veröffentlicht. Die Publikation des Gesamtheftes ist für Herbst 2020 geplant.
„Invective Gaze im digitalen Bild“ – Themenheft der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift (Hg. v. Elisabeth Heyne und Tanja Prokić)
Die Digitalisierung hat unser Verhältnis zum Blick intensiviert und zugleich wesentlich verschoben. Der digitale Blick zirkuliert zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen internationaler Politik, Terrorismus, Konsumverhalten und Körpersprache, global, alters-, klassen-, geschlechterübergreifend, gleichwohl je spezifisch und mit ungeahntem invektiven Potenzial. Was diese neuen Blicke für eine neue Form der Subjektivität bedeuten, kann die Psychoanalyse, die in ihrer Lacan’schen Prägung letztlich nur die visuelle Ökonomie des Kapitalismus „ausdrückt“, längst nicht mehr beantworten. Es bedarf eines integrativen Ansatzes, der digitale Medienkultur, Kultur- und Medienwissenschaften mit Fragen einer global orientierten Ökonomie, Soziologie etc. verschränkt und in eine historische Perspektive stellt, um den Sachverhalt in seiner Komplexität zu erfassen.
Das geplante Themenheft lotet die Konstellation aus, in der sich ein spezifisch herabsetzender, entblößender Blick innerhalb der gegenwärtigen medientechnischen Zusammenhänge herausbilden konnte: Der invective gaze. Dieser bietet aufgrund der digitalen Bilderflut und ihrer Angewiesenheit auf permanente Anerkennung sowie aufgrund der besonderen Verteilung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der beteiligten Akteur*innen neue Potenziale der Herabwürdigung, Beschämung, Kontrolle. Indem dieser Blick vermehrt auf die Lust am Schauen, Glotzen, Starren setzt, erzeugt er Voyeur*innen und verhilft dem digitalen Blicken als politischer, sozialer und ökonomischer Praktik – die es freilich immer schon war – zu neuer Macht. Das Themenheft fragt daher: Welche Genealogien gehen einer kapitalistisch infizierten digitalen Bilderlogik voraus? D.h. wie verhalten sich z.B. Schaulust und Spektakel der Weimarer Republik zu jener neuen Lust am Schauen? Lässt sich erstmals in Echtzeit im Digitalen die Herausbildung neuer Bild-Genres beobachten? Welche Rolle spielen Aufmerksamkeitsregime bei der Selektion und Variation dieser Genres? Was verraten sie über digitale Communities bzw. sogenannte Digital Tribes?1 Wie konstituieren Blasen und Autoplay einen überindividuellen Gaffer-Blick? Und wie entscheidend ist die medientechnische Seite des digitalen Bildes, seine (Im-)Materialität auf Basis eines textbasierten Codes, dessen Eigenart in der rasanten und unbegrenzten Vervielfältigung, Teilung, Speicherung und (textuellen wie bildlichen) Kommentierung besteht?
Entsprechend unseres übergreifenden Ansatzes legen wir den analytischen Schwerpunkt auf drei Themenfelder, die im invective gaze immer auch zusammenfallen können:
1. Invektive Bildökonomien: Kommerzialisierung und digitale Demütigung
Die enge Verknüpfung von Ökonomie und massenmedialer Visualität wird im geplanten Themenheft bis in die jungen Jahre der Weimarer Republik zurückverfolgt.2 Es ist vornehmlich das Auge, das dort als Einfallstor für kommerzielle Reize adressiert wird. Fotografie und fotografischer Druck beschleunigen und verstärken die Reizfrequenzen. Im Zeitalter der Digitalisierung ist es dem ökonomischen Kreislauf gelungen, bereits den Blick (der einer Beteiligungslogik der digitalen Medien folgend immer auch mit einem taktilen Klick einhergehen soll/kann/muss) zu kommodifizieren. Ohne tatsächlich des abgebildeten Gegenstands habhaft zu werden, erzeugt bereits der Blick auf das begehrenswerte Objekt einen Wert, der im Moment der Weiterleitung, des Teilens oder Klickens erzeugt wird. Das Ineinander von Algorithmen und medientechnischen Affordanzen3 sorgt dafür, dass sich der Blick restlos vom Auge löst; Blicken ist Klicken.
Nicht mehr unsere Daten sind die eigentliche Währung, mit der der digitale Markt operiert, es ist die Aufmerksamkeit innerhalb des unendlichen Zirkulierens der Bilder geworden. Teilen und geteilt zu werden ersetzt das vorhergehende Begehren nach kapitaler Selbstveredelung via bestimmter Objekte durch ein Begehren+. Dieses Begehren+ findet seinen treffendsten Ausdruck im vereinheitlichenden wie vereinheitlichten Blick der Influencer, die selbst Medium des Blicks geworden sind, das kein Außen (außerhalb des Feeds) mehr zulässt (ideologischer und Marken-Influence gleichen sich genau in dieser Allmachtsfantasie der absoluten Bild-Maschine4 Die Neuperspektivierung der Aufteilung des Öffentlichen und Privaten erzeugt dabei eine doppelte Blicksituation: Das Begehren+ vollzieht sich immer nur vor und durch die Aufmerksamkeit der Follower/des Publikums/der Community, die wiederum durch den Klick selbst zu Akteur*innen werden können. Diese doppelte Blicksituation (trotz physischer Absenz) begünstigt die Virulenz der Demütigung im digitalen Bild: Denn die Scham bedarf eines gesehenen Sehens.5 Welche Rolle spielen also bildförmige Shaming-, Mobbing- und Stalking-Praktiken in dieser Dynamik der unendlichen Zirkulation? Welche neuen Öffentlichkeiten, Publika differenzieren sich mit den digitalen Demütigungsbühnen heraus? Ist der Prozess beschleunigter (Ent-, Ab-, Be-)Wertung notwendiger Antrieb für die affektiv aufgeladenen, digitalen Bildzirkulation und ihrer Begehrensökonomie?
2. Invective Gaze als Kriegsbildermaschine (Bilderkrieg, Bildterror, Bildpolitik)
Die Akzeleration von Anerkennung und Demütigung übersteigt individuelle Kapazitäten und genau darin liegt die Riskanz für demokratische Individualitätskonzepte. Zugleich zeichnen sich dadurch aktuell Konjunkturen kollektiver und radikalisierter Bewegungen wie etwa Digital Tribes ab, deren destruktive Affektmodellierung derzeit vor allem demokratiefeindliche Kräfte – zumindest in größerem Umfang – zu mobilisieren vermag. Die Eskalation, die die Medien logisch fordern, wird hier politisch nutzbar gemacht und ist nicht mehr auf den menschlichen Blick bzw. Klick beschränkt. Denn die Beschleunigung wird vor allem durch die Ablösung der Dynamik von menschlichen Akteur*innen möglich, durch die Kommunikation der Algorithmen und Bots, die sich die medientechnische Un/Sichtbarkeit digitaler Prozesse zunutze macht und schon jetzt die Hälfte des Internet Traffic ausmacht.6 Sie führt zudem eine fundamentale Verunsicherung in Bezug auf die Fälschbarkeit digitaler Bilderströme ein. Es reicht also nicht aus, in Absehung von den technischen Mechanismen und digitalen Entwicklungen allein menschliche Affektpotenziale oder Emotionsdynamiken zu untersuchen, will man Phänomenen politischer Wahlbeeinflussung, Shitstorms oder digitaler Hetze auf den Grund gehen. Beides muss dagegen eng miteinander verknüpft werden.
Vor diesem Hintergrund muss auch die Rolle der Bilder für den Terror per Livestream (Christchurch) und den Krieg im 21. Jahrhundert reformuliert werden: „Wen der Terror der Bilder nicht zum Täter macht, den macht er zum Voyeur“, schrieb 2015 Hans Magnus Enzensberger. Für den Politologen Herfried Münkler „stellt der Terrorismus eine Form der Kriegsführung dar, in welcher der Kampf mit Waffen als Antriebsrad für den eigentlichen Kampf mit Bildern fungiert“.7 Es liegt auf der Hand, dass der Krieg der Bilder und der Plattformkapitalismus dabei eine enge Verbindung eingehen.8 Die Indifferenz der Plattformen gegenüber den geteilten Inhalten ist Voraussetzung für deren Profit, die Affordanz zur Indifferenz seitens der User*innen komplettiert das Spiel der Redundanz. Spektakel schleifen sich ab, der Drang nach Mehr offenbar nicht. Plattformmigration macht die Kontrolle in diesem Sinne schwierig.9 Während sich der Betreiber Hiroyuki Nishimura von 5ch (früher 2channel) sogar weigert, Verantwortung für Schädigungen Dritter zu übernehmen, treten andere Plattformen diese an eine automatisierte Software ab, sodass im Extremfall nur noch Algorithmus mit Algorithmus kommuniziert:
„Youtube teilte der SZ mit, das Video sei in der Hochphase jede Sekunde einmal hochgeladen worden. Die Menge habe das Unternehmen zu einem ungewöhnlichen Schritt veranlasst. Das Sicherheitsteam entmachtete die menschlichen Kontrolleure, die Inhaltserkennung und -löschung wurde komplett auf Algorithmen übertragen, um der Masse an Uploads Herr zu werden.“10
Der entscheidende Wandel unseres Zugangs zu den Bildern, und des algorithmisierten Kampfes mit ihnen,11 lässt sich allerdings erst vor dem Hintergrund historischer Kriegsbildermaschinen beschreiben. Für solche Vergleiche und kontrastierenden Perspektiven soll das Themenheft explizit Raum bieten.
3. Digitale Bildkörper und Affekte der Scham, Beschämung, Beleidigung:
#weightism #bodyshaming #afterbabybody #fatphobia
Genres (Memes) bilden sich im digitalen Raum in Lichtgeschwindigkeit aus; jedem Verlangen korrespondiert ein Bildtyp, der als Substitut für das ,ursprüngliche‘ Begehren fungiert. Ein Markt an Bildern befriedigt sowohl das neoliberale Streben nach Selbstverwirklichung als auch die Sehnsucht nach Ähnlichkeiten. Die Pinnwände von Pinterest geben Zeugnis von dieser Praxis des mimetischen Arrangierens, genauso wie die YouTube-Kanäle, die selbstentblößenden Bilderreihen auf Instagram oder die radikalen Imageboards von 4chan bzw. 8chan. In ihnen drückt sich eine neue Form gesellschaftlicher Rollenspiele aus, die an die sozialen Inszenierungspraktiken im 18. Jahrhundert erinnern.12
Anders als auf politischer Ebene arbeiten sich die Beschämungs- oder Herabsetzungsdynamiken – geht es um den einzelnen, im Internet exponierten Körper – stärker an der Schnittstelle von physischem und digitalem Körper ab. Der permanent uploadende Blick ist hier immer schon ein doppelter: durch auf Kunstwerke/ Konzerte/ Landschaft/ Essen/ Wohnen/ Körper gerichtete Augen und Smartphonebildschirme – und zurück. Dabei lassen sich Wechselwirkungen in beide Richtungen erkennen: Von Auswirkungen wie Handydaumen, Generation Kurzsichtigkeit und möglichen Smartphonehörnern13 abgesehen prägen die technischen Voraussetzungen der (Selfie)Kameras in Handy oder Laptop vermittelt über den Bilderstrom global neue Körpertechniken, wirken zurück auf unsere Sehgewohnheiten und vielleicht sogar Gestik und Mimik.14
Vor allem aber stellen sie neue Umgangsweisen mit der Beschämung zur Verfügung. In dieser zeigt sich die enge Verbindung technischer, ökonomischer und juristischer Dynamiken: Mögliche Upload-Filter und juristische Beschränkungen exzessiver, ekelerregender, anstößiger oder krimineller Inhalte seitens der großen Plattformen hat der Diskurs hier längst verinnerlicht und stellt Scham oft über die doppelte Blickperspektive aus, die das digitale Bild kennzeichnet: Im erfolgreichen Genre des Reaction Videos, das statt des betrachteten Bildes/Videos nur die Gesichter der Betrachtenden und ihre meist stark affektiven Reaktionen zeigt, in der Verlängerung
der Reactionreaction-(etc.)videos oder als Kunst- oder Werbestrategie. Die Zensur ist hier zum affektiven Bild-Genre geworden, das es ermöglicht, Inhalte konsumierbar zu machen, die zumindest auf YouTube nicht zeigbar wären.15
Dieser Modus des Reaktiven, der auf der spezifischen digitalen Logik der Exponierung vor Zuschauenden, des angeblickten Blicks und dem Verlust der Kontrolle über das eigene Bild, das von jedem gespeichert, runtergeladen, abfotografiert werden kann, fußt, wirkt ebenso auf Social Media-Plattformen wie in Kommentarspalten. Die durch die Anforderung der Prosumerlogik erzeugten neuen öffentlichen Körper scheinen exakt auf die ökonomischen Bestimmungen des Mediums angepasst. Welche Rolle übernehmen nun Emotionen wie Neid, Hass und Scham beim endlosen Scrollen durch Timelines? Wie lässt sich das Verhältnis und die Modellierung von digitalem und physischen Körper unter dem invective gaze vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung des digitalen Blicks bestimmen? Ist der Modus des Reaktiven die notwendige Voraussetzung für den Exzess digitaler Lust an der Herabsetzung?
Fußnoten
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David Roberts: Donald Trump and the rise of tribal epistemology, in: https://www.vox.com/policy-andpolitics/2017/3/22/14762030/donald-trump-tribal-epistemology (2017); siehe auch Michael Seemann: Digitaler Tribalismus und Fake News, in http://www.ctrl-verlust.net/digitaler-tribalismus-und-fake-news (2017).
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Die historische Perspektive ist hier zunächst mit Blick auf die Geschwindigkeit und Reichweite visueller Verbreitungsmedien auf das 20. Jahrhundert eingegrenzt worden. Ein früherer Einsatzpunkt, etwa im Barock oder der Sattelzeit, wäre allerdings ebenfalls denkbar.
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Caroline Levine: Forms, Whole, Rhthym, Hierarchy, Network, Princeton: University Press 2017.
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Arno Frank: Das Internet und der Anschlag von Christchurch Wir schauen nicht weg, in: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/christchurch-und-das-internet-das-gestreamte-massaker-a-1258167.html (2019).
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Vgl. Anna Häusler/Elisabeth Heyne/Lars Koch/Tanja Prokic: Verletzen und Beleidigen. Versuche einer theatralen Kritik der Herabsetzung. Berlin: August Verlag 2019. -
Luka Labrovic: 2018 Bad Bot Report: The Year Bad Bots Went Mainstream, in: www.globaldots.com/2018-bad-bot-report-the-year-bad-bots-went-mainstream/ (2018).
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Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek: Rowohlt Verlag 2002, S. 197.
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Jannis Brühl und Anna Ernst: Die Plattformen kommen mit dem Löschen nicht hinterher, in: https://www.sueddeutsche.de/politik/facebook-video-christchurch-kopien-1.4374124 (2019).
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Chris Sonderby: Update on New Zealand: https://newsroom.fb.com/news/2019/03/update-on-newzealand/ (2019).
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Vgl. erneut Brühl, Ernst.
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Der sich wiederum aus den menschlichen Differenzierungen von Daten speist. Vgl. dazu: Cathy O’Neil: Weapons of math destruction: How big data increases inequality and threatens democracy. New York: Crown 2016; Safiya Umoja Noble: Algorithms of oppression: how search engines reinforce racism. New York: New York University Press 2018.
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Vgl. Wolfgang Ullrich: Selfies. Berlin: Wagenbach 2019 (= Digitale Bildkulturen).
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Denise Grady: About the Idea That You’re Growing Horns From Looking Down at Your Phone …, in: https://www.nytimes.com/2019/06/20/health/horns-cellphones-bones.html (2019).
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Vgl. Ullrich: Selfies.
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Mit ihnen ist es auch möglich, in der ersten Folge einer Serie im britischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen (fiktiven) Premierminister bei Sodomie mit einem Schwein zu zeigen: Black Mirror, Episode 1, Staffel 1. UK: Channel 4, 2011.