Tagungsbericht: "Körper-Kränkungen. Der menschliche Leib als Medium der Herabsetzung"
Erschienen in:
H-Soz-Kult, 23.04.2020, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8747>.
VerfasserInnen: Antje Junghanß / Bernhard Kaiser / Mirjam Gräbner.
Unter dem Titel „Körper-Kränkungen. Der menschliche Leib als Medium der Herabsetzung“ hielt der SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ vom 13. bis 15. November 2019 seine zweite Jahrestagung ab. Jürgen Müller und Uwe Israel (beide Dresden), die gemeinsam für die inhaltliche Konzeption verantwortlich zeichneten, betonten in ihrer Einführung, dass der menschliche Körper stets sozial überformt sei. Sein invektives Potential sei sowohl aktiv als auch passiv zu denken: In Gesten, Gebärden, Tätowierungen oder ähnlichem könne der Körper selbst schmähend zum Einsatz kommen; daneben aber könnten der Körper beziehungsweise bestimmte Körpermerkmale – häufig im Rückgriff auf Semantiken von Reinheit und Gesundheit – geschmäht bzw. stigmatisiert werden. Körperideale könnten einen Konformitätsdruck aufbauen, der geeignet sei, Prozesse von Selbsthass und -ekel auszulösen. Historisch schlugen die in den unterschiedlichen Sektionen der Tagung präsentierten Fallbeispiele einen Bogen von der Antike über die Frühe Neuzeit in die Weimarer Republik bis hin zu zeitgenössischen Phänomenen.
Den Einstieg machten die Altertumswissenschaften. JAN MEISTER (Bern) und CHRISTOPH SCHWAMEIS (Dresden) zeigten in ihren Vorträgen, dass antike Redner in ihrem Bestreben, den Geschmähten in den Augen des Publikums zu diskreditieren, dazu tendierten, durch Verweise auf äußerlich sichtbare Personenmerkmale Verstöße gegen Verhaltensnormen zu markieren, deren allgemeine Akzeptanz und Geltung sie mehr oder weniger implizit voraussetzten. Dabei argumentierte Meister, dass in der ciceronianischen Rhetorik vornehmlich gestaltbare Körpermerkmale wie Frisur und Gepflegtheit bewertet wurden. Angeborene körperliche Auffälligkeiten seien dagegen nicht als Zeichen für einen verwerflichen Lebenswandel interpretiert worden.
In der Diskussion ging es vor allem um die von Christoph Schwameis aufgeworfene Frage, ob aufgrund der Thematisierung eines moralischen Normverstoßes nicht angenommen werden müsse, dass eine solche Norm auch tatsächlich bestanden hat. Demgegenüber wurde angesichts der Möglichkeit konkurrierender Normvorstellungen in Erwägung gezogen, dass eine Norm im Moment der Bezugnahme durch den Redner lediglich behauptet und dadurch erst gesetzt werden konnte.
Die zweite Sektion schloss inhaltlich unmittelbar an diese Diskussion an, da auch hier betrachtet wurde, in welcher Weise Normvorstellungen vermittels Invektiven verhandelt werden können. So veranschaulichte KATJA KANZLER (Leipzig/Dresden) in ihrem Vortrag anhand von Beispielen aus dem zeitgenössischen Makeover-TV, wie etwa die Kleiderwahl selbst und somit Abweichungen von bloßen Konventionen zum Gegenstand invektiv aufgeladener Kritik gemacht werden. Dabei schrieben die Invektiven gegen die Kandidat/innen der Shows eine bürgerlich geprägte Gendernormativität fort. Obwohl jüngere Formate wie „Queer Eye“ ausdrücklich auf verbale Herabsetzungen verzichteten, findet nach Kanzler auch in ihnen eine implizite Abwertung statt, indem ein unsicheres Verhältnis zum eigenen Körper als verbesserungswürdig angesehen wird.
Wie BETTINA UPPENKAMP (Hamburg) in ihrem Vortrag zeigte, können Invektiven aber auch umgekehrt als Protest gegen gesellschaftlich tradierte Rollenzuschreibungen und Normierungen zum Einsatz kommen. So sei die Zurschaustellung der Vulva, verbunden mit einem fixierenden Blick wie in Valie Exports „Aktionshose: Genitalpanik“ als bewusster Bruch eines jahrhundertealten Darstellungstabus gegen eine traditionell männlich codierte Blickrichtung auf den weiblichen Körper gerichtet. Zum anderen werde damit gegen einen rein männlichen Geniekult opponiert, welcher der Frau kaum Kreativität zugestehe. Die Zertrümmerung der herkömmlichen Bilder des Weiblichen stünden im Dienst einer Selbstbemächtigung der Frauen, die dadurch frei würden, authentische Bilder ihrer selbst zu entwerfen.
ANDREAS BEYER (Basel) stellte in seiner Respondenz mit Blick auf die Beobachtungen zum Makeover-Format die These auf, dass das Publikum eher am Akt der Beschämung als an den dargebotenen Transformationsprozessen der Kandidat/innen Interesse zeige. Seine Vermutung, dass die offenkundige Lust an der Beschämung sich insbesondere an nicht-normativen Körpern entzünde, wurde dankbar aufgegriffen. Seine generelle Frage nach dem Verhältnis von Provokation und Invektivität konnte nur andiskutiert werden.
MARTIN PRZYBILSKI (Trier/Bonn) widmete sich zu Beginn des zweiten Veranstaltungstages den Invektiven, denen die jüdische Gemeinschaft aufgrund ihrer Beschneidungspraxis von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit vonseiten der Christen ausgesetzt war. Wie er zeigen konnte, griff man die Angriffe autoinvektiv auf und machte sie gleichzeitig zur Grundlage eines Überlegenheitsnarrativs.
Das Phänomen der Autoinvektive wurde im weiteren Verlauf der Tagung als besondere invektive Konstellation vielfach diskutiert. Es wurde unter anderem erörtert, an welche Bedingungen das ihr inhärente inversive Potential geknüpft ist. DAGMAR ELLERBROCK (Dresden) beobachtete in ihrer Respondenz, dass Frauen in den Polemiken und den Autoinvektiven stets passiv als bloßes tertium comparationis erschienen.
JONAS BENS (Berlin) fokussierte im zweiten Vortrag der Sektion auf gegensätzliche normative Arrangements von menschlichen und nicht-menschlichen Körpern, wie er sie im Strafprozess wegen der während des Malischen Bürgerkriegs 2012/2013 zerstörten Mausoleen von Timbuktu beobachten konnte. Die emotionale Aufladung von Körpern bezeichnete er mit dem Begriff der Sentimentalisierung. Im Mittelpunkt der Diskussion stand daraufhin die Frage, wie sich Sentimentalisierung und Invektivität zueinander verhalten. Dabei wurde die gegenseitige Bedingtheit der scheinbar gegenläufigen Mechanismen von Aufwertung und Herabsetzung deutlich. In dieser Bestimmung als dynamisches Verhältnis fand die Diskussion vom Vortag ihre Fortsetzung.
In der darauffolgenden Sektion über Körper-Metaphern zeigte CHRISTIAN JASER (Berlin) anhand des Textus Roffensis aus dem 12. Jahrhundert, wie rituelle Verfluchungen im institutionellen Rahmen der Kirche durch die Aufzählung der einzelnen Körperteile an Kraft gewännen. Im Anschluss wurde das invektive Potential einer solchen Amplifikation diskutiert. Unbestimmt blieb allerdings das Verhältnis von Fluch und Invektive.
ANTJE SABLOTNY (Dresden) und ALBRECHT DRÖSE (Dresden) legten ihren Fokus auf Sakralisierung und Desakralisierung des Körpers der Heiligen sowie, übertragen, der katholischen Kirche im interkonfessionellen Konflikt des 16. Jahrhunderts. Der reine, sakrale Körper der Heiligen (corpus incorruptum) habe als bevorzugter Angriffspunkt der reformatorischen Invektive gedient, die ihn in seiner profanen Körperlichkeit bloßzustellen versucht habe (corpus corruptum). Im Fazit wurde die Vermutung formuliert und im Anschluss diskutiert, dass die beobachtete Desemantisierung des heiligen Körpers eine Neu-Semiotisierung von Körpervorstellungen ermöglicht habe. In seiner Respondenz schlug JOHANNES HELMRATH (Berlin) ergänzend mögliche Semantiken der Nacktheit vor, die in religiösen Körperdiskursen aufgerufen würden.
In den beiden Vorträgen der Sektion V wurde untersucht, wie differenziertere, objektivere Formen medizinischer Diagnostik in der Moderne (insbesondere ab dem 20. Jahrhundert) überraschenderweise mit stärkeren Stigmatisierungen bestimmter Merkmale einhergingen. HEINER FANGERAU (Düsseldorf) beschrieb die moralische Bewertung bestimmter Krankheiten, NINA MACKERT (Leipzig) die Herabwürdigung dicker Körper. In beiden Beispielen wurde deutlich, dass den Betroffenen häufig eine Eigenverantwortung für ihren Zustand zugeschrieben wird. DOMINIK SCHRAGE (Dresden) wies in seiner Respondenz auf die Möglichkeit einer verbindenden Foucault‘schen Perspektive in beiden Vorträgen hin und benannte die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Körpervorstellungen und Bezügen, wie sie in den unterschiedlichen Körper-Invektiven und Reaktionen darauf deutlich würden, als eine der großen Linien der Tagung.
Den Abschluss des Tages bildete ein öffentlicher Abendvortrag von HARTMUT BÖHME (Berlin), der darin zunächst eine umfassende kulturtheoretische Einordnung des Invektiven vornahm, aus der hier nur einige wenige weiterführende Gedanken herausgegriffen seien: Böhme eröffnete seine systematischen Ausführungen mit der Überlegung, den Ursprung der Invektive entgegen einem intuitiven Impuls weniger beim Angreifenden als vielmehr in unserer natürlichen Verletzlichkeit zu vermuten. Gleichzeitig betonte er, dass sich Invektiven in erster Linie gegen ein zurechtgemachtes Bild der Gegner/innen richteten, wobei freilich immer ein Bezug zur wirklichen Person gegeben sei. Den Geschmähten werde erst ein Gesicht verliehen, nur um es hernach destruieren zu können. Gemäß dieser Logik der symbolischen Repräsentation können sich Invektiven nicht nur gegen Personen und Gruppen, sondern auch gegen geweihte Objekte und symbolische Werte richten, die in diesen Objekten verkörpert sind. Aufgrund ihrer destruktiven Kraft seien Invektiven seit jeher von Einhegungen begleitet. Im Zuge dessen werde jedoch zu oft verdrängt, dass ihnen, mit Schumpeter gesprochen, auch ein kreatives und kulturstabilisierendes Potential innewohne.
Im zweiten Teil des Vortrags konzentrierte sich Böhme darauf, Traditionen von Bildinvektiven mit Bezug auf den menschlichen Körper nachzuzeichnen. Die im Vortrag unter anderem gebotenen bildlichen Darstellungen einer uralten Entwürdigungspraxis, einen Leichnam kopfüber an den Füßen aufzuhängen, lösten im Publikum spürbar starke Beklemmung aus. Es handle sich bei dieser Art der Schändung, die weit über den Tod hinausgeht, um semiotisch aufgeladene Invektiven gegen die symbolischen Ordnungen, die sich in Personen verkörpern.
Am dritten Veranstaltungstag wurden vornehmlich Formen und Wirkweisen der Herabsetzung des Körpers exponierter Persönlichkeiten untersucht. Die Fallbeispiele entstammten unterschiedlichen Epochen (Reformationszeit, Weimarer Republik, Gegenwart), die jedoch insofern Ähnlichkeiten aufwiesen, als es sich jeweils um Umbruchsituationen handelte und technischer Fortschritt (Buchdruck, Zeitungswesen, Social Media) eine größere mediale Reichweite erlaubte. Die Herabsetzungen verfestigten sich dabei jeweils zu wiedererkennbaren, lesbaren Formeln, wobei insbesondere für zeitgenössische Protestbewegungen eine transkulturelle Ausweitung des Bildrepertoires zu beobachten sei.
In der Sektion „Heroen und Anti-Heroen – Luther als Exempel“ stand der Körper des Reformators im Zentrum, der, wie MARINA MÜNKLER (Dresden) in den einführenden, systematischen Überlegungen zu ihrem Vortrag ausführte, im Rückgriff auf ein ähnliches Metaphernrepertoire wie in den von Dröse und Sablotny untersuchten Angriffen auf die Körper der Heiligen bzw. die katholische Kirche insgesamt, zum symbolischen Austragungsort des Gegensatzes von Heil und Verdammnis geworden sei. Daraufhin präsentierte JÜRGEN MÜLLER (Dresden) anhand dreier Beispiele versteckte Herabsetzungen Luthers in Kryptoporträts, die den Darstellungen eine zusätzlich zu entschlüsselnde Bedeutungsebene verliehen. LYNDAL ROPERs (Oxford) Vortrag ergänzte die beiden ersten durch einen (kunst-)historischen Abriss zur Wirkmacht der Cranach‘schen Lutherbildnisse, deren invektives Potential darin liege, so beobachtete THOMAS KAUFMANN (Göttingen) in seiner Respondenz, dass sie als testes veritatis post Lutherum als polemische Behauptungen der lutherischen Lehre verstanden werden können. In seinen Überlegungen zu den wechselseitigen Bezugnahmen (anti-)reformatorischer Polemiken skizzierte er neben der Möglichkeit der Fortschreibung wiedererkennbarer Motive auch die Variante der selbstbewussten Aneignung, die den Angriffen ihre verletzende Kraft nehmen könne. Abschließend wünschte sich Kaufmann eine klare Verhältnisbestimmung etwa von Invektive, Gewalt, Agonalität, Polemik.
Im letzten Panel der Tagung zeigten beide Beiträge, wie politische Protestkulturen ihre Schlagkraft aus der invektiven Fokussierung, Funktionalisierung und Mediatisierung von Politikerkörpern ziehen. SILKE FEHLEMANN (Dresden) führte aus, wie sich mithilfe der Invektivitätsperspektive klar herausarbeiten lasse, dass und in welcher Weise die Diffamierung des Körpers ein zentrales Werkzeug der Destabilisierung politischer Führungspersönlichkeiten und des Erfolges der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik gewesen sei. KERSTIN SCHANKWEILER (Dresden) untersuchte in ihrem Vortrag die Rolle von Bildern in der Konstitution zeitgenössischer Protestbewegungen. In ihrer Anwendung des triadischen Modells aus Invektierer, Invektiertem und Publikum stellte sie die Frage, ob sich die Rolle des klassischen Publikums in den von ihr vorgestellten Fällen auflöse, wo Invektiven insbesondere auch über soziale Medien reproduziert und fortgeschrieben würden, in denen potentiell alle Nutzer/innen auch zu Akteur/innen werden können („prosumer“). Alternativ bzw. ergänzend schlug sie den Begriff der Zeugenschaft vor. ELISABETH TILLER (Dresden) stellte in ihrer Respondenz heraus, dass in beiden Vorträgen Schmähungen männlicher Machthaber betrachtet worden seien. Ergänzend ließe sich nun fragen, wie Körper-Kränkungen gegen mächtige Frauenfiguren wie Margaret Thatcher oder Angela Merkel sich von der gegen Männer unterschieden. In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass die Dichotomie der doppelten Verletzlichkeit des Körpers dazu verhelfen könne, das Verhältnis von Invektivität und Gewalt zu bestimmen.
Die Tagung verdeutlichte die zentrale Rolle des menschlichen Körpers als Medium von Herabsetzung, wobei der Medienbegriff noch etwas klarer hätte konturiert werden können. Bemerkenswert war die Vielfalt der Zugänge, die jedoch nicht als eine Reihung disparater Einzelbetrachtungen erschienen, sondern durch klug gewählte Sektionseinteilungen in ihrer jeweiligen Perspektivierung aufeinander bezogen waren. Als sinnvoll erwies sich auch die Entscheidung der Veranstalter, viel Zeit für Diskussionen einzuplanen. In deren Rahmen wurden vielfach Fragen nach Verhältnisbestimmungen aufgeworfen – etwa von Invektivität zu Normativität oder zu Grenzphänomenen wie Provokation, Gewalt etc.; Fragen, die den Forschungsverbund in seiner weiteren Arbeit begleiten dürften. Zugleich wurde in den Vorträgen wie Diskussionen auch sichtbar, dass es – einer Überlegung des Sonderforschungsbereichs folgend – ergiebig ist, Invektivität als Kippfigur zu betrachten und die gegenläufigen Dynamiken von Herabsetzung zu untersuchen: etwa in der engen Verzahnung von Schmähung und autoinvektiver Aneignung, von emotionaler Aufladung und impliziter Abwertung, von Desemantisierung und Neu-Semiotisierung. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist für spätestens Anfang 2021 geplant.