16.12.2019
Weihnachtszeit ist Märchenzeit
Von bösen Stiefmüttern und Vätern, die nur Beiwerk sind - Ein Exkurs in die zauberhafte Welt der Geschichten vergangener Zeiten
Anne Vetter
Die Herrnhuter Sterne leuchten, am Adventskranz ist die zweite Kerze entzündet und die ersten Weihnachtsfeiern sind geschafft. Die beste Zeit also, es sich gemütlich zu machen, die Plätzchenschale zu greifen und tief in die Märchenwelt einzutauchen. Hinein in kleine Katen, prunkvolle Schlösser und dunkle Wälder. Hand in Hand mit Schneidern, Schustern, Bauernmägden, Prinzen und Prinzessinnen. Seit an Seit mit klugen Tieren zum Kampf gegen Zwerge, Hexen, Teufel und andere böswillige Kreaturen.
Und das in Dresden und Kiel, Breslau und Lyon, Liberec und Bergen. Oder weiter weg: in Russland, Indien und dem arabischen Raum. »Im Gegensatz zu Legenden und Sagen sind Märchen nicht regional«, erklärt Ludger Udolph, emeritierter Professor für Slavistik an der TU Dresden. Märchen waren sein Spezialgebiet und sind bis heute seine Leidenschaft. »Märchen können uns so viel sagen. Sie bieten unendliche Anknüpfungspunkte für die Gegenwart, obwohl sie völlig andere Lösungen vorgeben, als wir durch die Zeit der Aufklärung gelernt haben. Sie sind schräg, schrill und schrecklich.« Doch sie bedienen tiefsitzende menschliche Erfahrungen. Hinzu kommt ihre einfache Struktur mit wenigen Zwischentönen und einer klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Mehr braucht es nicht für ein weltweit erfolgreiches Genre, das im 19. Jahrhundert von West nach Ost und Nord nach Süd einen ganzen Literaturkanon aufbrach.
Vorbild war bis ins ferne Russland, wo Alexander Afanassjew (1826–1871) die russischen Volksmärchen niederschrieb, die Hausmärchensammlung der Gebrüder Grimm. »Der Kulturtransfer war in dieser Zeit sehr ausgeprägt. Der östliche Kulturraum öffnete sich stark nach Westen«, erläutert Alexander Lasch, Professor für Germanistische Linguistik und Sprachgeschichte an der TU Dresden. Ähnlich wie im deutschen Sprachraum wirkten Märchen auch in Russland bis in die romantische Literatur hinein. »Sie waren für Autoren wie Alexander Puschkin eine wichtige Inspirationsquelle.«
»Wir haben hier einen wirklich interessanten Widerspruch«, ergänzt Christian Prunitsch, Professor für westslavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. »Denn der Antrieb, Märchen in der jeweiligen Landessprache zu sammeln, war die Stärkung des Nationalbewusstseins.« Polen und Tschechien waren bis ins 17. Jahrhundert hinein erfolgreiche und wichtige europäische Nationen. Daran wollten Märchensammler wie der Pole Oskar Kolberg (1814–1890) aus der Warschauer Bohème wieder anknüpfen, indem sie die Landessprache aus den Bauernkaten herausholten. »Ein ganz ähnlicher Ansporn wie bei den Grimms. Für sie war die deutsche Sprache das einzig verbindende Element der deutschen Kleinstaaten. Sie bot die Möglichkeit, sich gegen die Romania, also Frankreich und Italien abzugrenzen. Daher auch das Pochen auf das Vorlesen aus der Grammatik oder eben auch von Märchen: Dies bot die Chance zum Verfestigen und Verbreiten«, sagt Lasch.
Rasch wurde das Vorlesen zur Tradition in bürgerlichen Häusern. In einer jüdischen Familie in St. Petersburg war der Hauslehrer Waldemar Propp (1895-1970) dafür zuständig. Der junge Mann aus einer wohlhabenden deutschen Familie hatte sein Studium abgeschlossen, doch eine Anstellung war vorerst nicht in Sicht. Also kümmerte sich Propp um die Kinder und las ihnen unter anderem Märchen vor. »Dabei fiel ihm irgendwann auf, dass die Geschichten immer wieder nach demselben Muster funktionierten«, fasst Ludger Udolph zusammen. Denn vor Waldemar, oder eben russisch, Wladimir, Propp hatten zwar die Menschen immer allgemein von Märchen gesprochen, »aber was so richtig damit gemeint war, konnte niemand beschreiben. Alle hatten ein paar Beobachtungen gemacht. Aber das Material war derart diffus, dass die Forscher darin ersoffen sind«, erzählt Udolph.
Märchen leben vom Verbot und seiner Missachtung
Anhand eines relativ kleinen Korpus von etwa 50 Märchen beschrieb Propp die Struktur von Märchen durch insgesamt 31 Funktionen. Nicht alle müssen zwingend immer auftreten. Aber die Grundstruktur bleibt: Am Beginn steht ein Verbot und der Übertritt desselben, damit die Handlung überhaupt in Gang kommt. Der Held, der durch den Helfer – oft ein Tier – dazu auserkoren wird, bekommt mithilfe eines Zaubermittels die Prinzessin. »Irgendwann war Propp mit seiner ›Morphologie des Zaubermärchens‹ nicht mehr zufrieden und schrieb ein weiteres Buch ›Die Historischen Wurzeln des Zaubermärchens‹. Die darin aufgestellte These, dass der Reifungsprozess der Helden und Heldinnen in Märchen auf alte Initiationsriten der Jagdgesellschaften zurückgeht, ist bis heute nicht widerlegt«, sagt Udolph. Der Mann wird zum Jäger, das Mädchen zur begehrenswerten und fruchtbaren Frau. Auch der Wald als wichtiger Märchen-Schauplatz lässt sich damit begründen. »Die Initiation kann nur außerhalb des angestammten Zuhauses stattfinden«, erklärt Annelie Bachmaier, die nach der Emeritierung von Ludger Udolph die Märchen-Seminare am Institut für Slavistik fortführt. Im Wald, das heißt, in der Jenseitswelt, wird der Held Prüfungen unterzogen.
Besonders faszinierend finden Bachmaier und Udolph, dass die Märchenwelt oft auf einer matri-linearen Vorstellung beruht. »Ist Ihnen aufgefallen, dass der Held immer ins Haus der Tochter gehen muss? Nur über die Frau bekommt er das Erbe. Die Väter sind nur Beiwerk«, erläutert Udolph. Damit erklärt sich ihre oft sehr schwache Rolle gegenüber den Stiefmüttern. Während sie in zahllosen Varianten in der neuen Ehe die Kinder drangsaliert, schauen die Väter zwar geknickt, aber machtlos zu. Aschenputtel nächtigt im Dreck, bei Väterchen Frost werden die Mädchen auf Geheiß der Stiefmutter im Wald ausgesetzt. Im russischen Märchen »Die Tochter und die Stieftochter« wird das Prinzip auf die Spitze getrieben: Am Ende zerknacken Tiere das böse Mädchen und schicken die Knochen an die Eltern zurück.
Gerade an solchen Extrem-Beispielen haben sich in den von internationalen Studenten besuchten Seminaren von Ludger Udolph oft interessante Lebenswelt-Diskussionen entsponnen. »Das war dann nicht mehr akademisch, sondern die Gegenwart. Es ging konkret um Fragen, wie Menschen ohne eine übergeordnete Instanz wie den Staat oder die Polizei Probleme lösen. Wo und wie Gewalt heute noch erlebt wird.«
Udolph kann mit unzähligen weiteren Beispielen die andauernde Relevanz von Märchen belegen. »Denken Sie nur an das Schlaraffenland. In Zeiten von Hunger und Not war es eine unglaubliche Faszination, dass einem die gebratenen Hühnerbeine in den Mund fliegen und man in Milch- und Butterseen badet. Heute wissen wir, wie problematisch Überfluss ist.« Oder wenn es um den Umgang mit der Natur, Tieren und Pflanzen geht. »Im Märchen sind sie auf Augenhöhe mit den Menschen. Tiere und Pflanzen haben nicht weniger Rechte auf ein Leben wie die Menschen. Werden sie nicht geachtet, hat das schreckliche Folgen, weil sich die Natur nicht alles gefallen lässt. Dass Tiere denken können und eine Seele haben, wissen Märchen schon lange.«
Die Hexe Baba Jaga ist nicht einfach nur böse
Mit diesen universalen Ansätzen kann man auch die Universalität von Märchen begründen. »Verorten lassen sich Märchen häufig nur anhand sehr allgemeiner Beschreibungen«, sagt Annelie Bachmaier. »In Mitteleuropa gibt es oft Burgen, in russischen Märchen spielt die Kälte eine besondere Rolle. Wir haben das Schneeflöckchen und Väterchen Frost.« Eine Besonderheit ist die Hexe Baba Jaga, die im Gegensatz zu deutschen Hexen nicht einfach böse ist, sondern heilen und strafen kann. »Je weiter östlich, desto offener und kombinatorischer werden die Geschichten«, findet Alexander Lasch. »Drei Brüder ziehen aus, aber welcher Weg der erfolgreiche ist, ist weniger vorhersehbar. Außerdem sind die russischen Märchen mit ihren mehrfach belegten Dreizahlen wahnsinnig lang. So werden die Entfernungen, die auf dem Weg in eine Anderwelt überbrückt werden mussten, auch im Erzählen weiter.« »Und wer verliert, der verliert ordentlich«, ergänzt Christian Prunitsch. »Der Geschlagene trägt den Ungeschlagenen. Das gibt es sonst nur bei Hans Christian Andersen.«
Ansonsten bleibt alles in Propps Rahmen. Märchenspezialist Ludger Udolph hat bis jetzt nur einen Kontinent entdeckt, wo sich seine Theorie nicht anwenden lässt: »In der ›Schwarzen Sonne Afrikas‹ sind die Märchen absurder als bei Kafka, gleichsam welterklärend und faszinierend human.« Doch das ist eine andere Geschichte …
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2019 vom 10. Dezember 2019 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.