100. Geburtstag N. J. Lehmann
Inhaltsverzeichnis
Biographisches
Nikolaus Joachim Lehmann wird am 15. März 1921 in Camina/Sachsen geboren. Nach der sorbischen Volksschule in Radibor besucht er zunächst die katholische und anschließend bis zum Abitur 1939 die Landesständische Oberschule in Bautzen.
Von 1942 bis 1945 studiert er an der TH Dresden Physik und macht sich studienbegleitend bei Prof. Barkhausen mit dem Fachgebiet der Elektronik vertraut. Weil seine erste Diplomarbeit während der Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945 vernichtet wird, fertigt er kurzerhand eine Zweite zu mathematischen Verfahren der Eigenwert-Berechnung an. „Interesse an der numerischen Mathematik gewann ich erst nach dem Studium, als ich (zufällig) Sonderdrucke der Arbeiten von Erich Trefftz in die Hand bekam. … Mit seiner erfolgreichen Sicherung von Näherungslösungen … wurde er für mich eine Leitfigur. …“, so Lehmann 1996 in einem Interview mit Prof. Stoschek.
Mit der Neueröffnung der Technischen Hochschule im Herbst 1946 übernimmt N. J. Lehmann Lehraufträge am Institut für Angewandte Mathematik und wird durch den Institutsleiter Prof. Friedrich Adolf Willers besonders auf dem Gebiet der Rechenautomatenentwicklung gefördert. 1948 promoviert Lehmann zum Dr.-Ing., habilitiert im November 1951 und wird schließlich 1953 zum ordentlichen Professor für Angewandte Mathematik an der Technischen Hochschule Dresden berufen.
Im Jahr 1954 lernt Lehmann die Estin Dolly Margareth Waso kennen. In ihrer Funktion als Sprachwissenschaftlerin am Akademie-Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR erhielt sie den Auftrag einen Professor aus Deutschland – der Rechenmaschinen baut – während seines Aufenthaltes in Moskau zu betreuen. Die beiden heiraten 1958 in Russland und ziehen anschließend zusammen in eine Wohnung an der Wilsdruffer Straße 9 in Dresden.
Während der Zeit als Direktor des Instituts für Maschinelle Rechentechnik an der TH/TU Dresden (IMR) von 1956 bis 1968 führt Lehmann die Arbeit an der Rechenmaschinenentwicklung weiter. Auf Tagungen sowie in nationalen und internationalen Ausschüssen, Kommissionen und Gremien pflegt er einen regen Austausch mit den Computerpionieren seiner Zeit – unter anderem mit Konrad Zuse – und bewirkt beispielsweise die Aufnahme der DDR in die 1960 gegründete, internationale Informatikorganisation IFIP. 1962 wird Lehmann in den Forschungsrat der DDR berufen und kümmert sich parallel von 1964 bis 1967 um die Planung sowie den Aufbau des in Dresden gegründeten Instituts für Maschinelle Rechentechnik der Deutschen Akademie der Wissenschaften – später Teilbereich des VVB Datenverarbeitung und schließlich des Kombinats Robotron. Die ihm angetragene Gesamtleitung der Forschung und Entwicklung im Kombinat Robotron lehnt Lehmann jedoch ab.
Nach der 3. Hochschulreform fungiert Lehmann ab 1969 als Leiter des Wissenschaftsbereichs Mathematische Kybernetik und Rechentechnik in der Sektion 7 Mathematik der TU Dresden. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt nun auf der Erforschung der Rolle von Programmiersprachen sowie der sich daraus ergebenden Entwicklung des Fachsprachensystems DEPOT. Weitere herausragende Leistungen Lehmanns – über seine Emeritierung 1986 hinaus – zeigen sich auf dem Gebiet der Computer-Analytik – als dessen Begründer er international angesehen wird – sowie im Bereich der Geschichte der Rechenmaschinen, womit die Gründung der Sammlung für Historische Rechenmaschinen der TU Dresden einherging.
Am 27. Juni 1998 stirbt Nikolaus Joachim Lehmann im Alter von 77 Jahren in Dresden und wird auf dem Friedhof in Striesen beigesetzt.
Die Dresdner Rechenautomaten und das Institut für Maschinelle Rechentechnik
Am ersten September 1956 vollzieht sich die formale Gründung des Instituts für Maschinelle Rechentechnik (IMR) an der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften der TH Dresden. Bis zu diesem Zeitpunkt existierte am Institut für Angewandte Mathematik bereits eine Abteilung für Rechentechnik, weshalb sich folglich die Gründung des Instituts in dem Fachbereich Mathematik ergab. Mit den neuen Bauten für die Mathematischen Institute der TH Dresden am Zelleschen Weg waren zudem bereits vor der Gründung des IMR die technischen Voraussetzungen für die Lehr- und Forschungsschwerpunkte auf dem Gebiet der Rechentechnik geschaffen: Im zweiten Obergeschoss des heutigen Willers-Bau (Flügel A) befanden sich neben dem Rechenbüro einerseits ein Elektroniklaboratorium, eine Werkstatt sowie ein Sammlungsraum. Andererseits begünstigte die gesonderte Erhöhung der Bodenbelastbarkeit die Aufstellung der ersten Dresdner Rechenautomaten (D 1/D 2). Leiter des neuen Instituts wird der junge Professor Nikolaus Joachim Lehmann, der sich mit seinen Arbeiten zum Magnettrommelspeicher sowie zum Rechenautomaten D 1 für diese Stelle qualifiziert hatte.
Der Fertigstellung des ersten Dresdner Rechenautomaten D 1 – von Lehmann als Eigenentwicklung und kleinere Alternative zur ENIAC (1946) erdacht – geht eine längere Entwicklung voraus. Zunächst beginnt Lehmann das Problem eines geeigneten Speichers zu erforschen, was 1949 in einem Entwurf für ein vollständiges Rechen-, Steuer- und Speicherwerk auf Magnettrommelbasis endet. Von 1950 bis zur Fertigstellung des D 1 auf Basis von Elektronenröhren im Jahr 1956 muss Lehmann und seine Institutskollegen (die Assistenten K.-H. Bachmann, H. Rohleder) mit dem Funkwerk Dresden (um Forschungsdirektor Dipl.-Ing. Kutzsche) als Industriepartner kooperieren, was der allgemein schlechten Nachkriegssituation und dem damit einhergehenden geringen Interesse am „Spielzeug für Mathematiker“ geschuldet war. Die Ausarbeitung der logischen Struktur erfolgte jedoch unter Lehmanns Leitung allein am Hochschulinstitut, wo schließlich einer der insgesamt zwei Exemplare des D 1 aufgestellt wird.
Verteilt auf einer Fläche von ca. 25 Quadratmetern, ausgestattet mit rund 760 Röhren, 1000 Selendioden und etwa 100 Relais sowie einer rotierenden Trommel als Speichermedium und einer Taktfrequenz von 100 kHz (100 arithmetische Operationen/Sekunde) kann Lehmann mit dem D 1 erfolgreich sein Vorhaben eines „kleineren“ Rechenautomaten umsetzen. Neben ausgesonderten Bauelementen aus demontierten Betrieben, zeichnet sich der D 1 auch durch improvisierte Eigenbauten im Bereich der Ein- und Ausgabe aus – woraus sich die Verwendung alter UFA-Filme als Lochstreifenmaterial erklärt.
Nun ausgestattet mit einer eigenen Rechenmaschine widmet sich Lehmann in den Anfangsjahren des IMR den wichtigen Aspekten des Aufbaus einer ersten Fachausbildung Rechentechnik im Rahmen der Mathematik sowie der Entfaltung der begleitenden Grundlagenforschung. Unter anderem entsteht ein Modellrechenautomat für den Einsatz in der Lehre, der durch seine Transparenz und blinkende Lämpchen den Studenten die Funktionsweise eines Rechners verdeutlicht.
Außerdem sind diese frühen Jahre durch die Konstruktion des Rechenautomaten D 2 geprägt. Als Nachfolgemodell des D 1 auf der Basis von Elektronenröhren (gegenüber dem D 1 lediglich 1400 Röhren, 2000 Dioden, 100 Relais) aber mit zehnfacher Rechenleistung (1000 arithmetische Gleitkommaoperationen/Sekunde) wird der D 2 vollständig am Institut für Maschinelle Rechentechnik unter Lehmanns Leitung konstruiert, aufgebaut und schließlich 1959 fertiggestellt. Und obwohl schon vor der Vollendung des D 2 erkennbar ist, das in Zukunft die Halbleitertechnik (Transistoren) für die Computerentwicklung bestimmend sein und der D 2 vor allem der Vermittlung von Erfahrungen dienen wird, soll er mit einer Taktfrequenz von 270 kHz sowie seinem Magnettrommelspeicher inklusive integriertem Schnellspeicher nach Lehmanns Einschätzung über Jahre der schnellste Rechner in der DDR gewesen sein.
Anfang der 1960er Jahre zeigen staatliche Beschlüsse wie das „Programm zur Entwicklung, Einführung und Durchsetzung der Maschinellen Datenverarbeitung in der DDR in den Jahren 1964 bis 1970“ (vom 3. Juli 1964) ein politisches Umdenken: Für die jetzt als programmierbare Digitalrechner verstandenen Rechenanlagen stellen Betriebe sowie inner- und außeruniversitäre Einrichtungen ihren Bedarf heraus. Die neuen „Wunderwaffen“ sollen nun als Lösung jeglicher, nicht nur ökonomischer Probleme dienen. Das Bestreben der DDR-Regierung birgt für das Institut für Maschinelle Rechentechnik einen wesentlichen Aufschwung, was nicht zuletzt Lehmanns Bestreben zur Konstruktion eines Kleinstrechenautoamten als in individuelles Arbeitsgerät auf dem Tisch (D 4a) zugutekommt und mit der Entwicklung der Halbleitertechnik zunehmend realisierbar schien.
Der Kleinstrechenautomat D4a
Den ersten gedanklichen Entwurf zum Kleinstrechenautomaten D 4a skizziert Lehmann bereits im Jahr 1958 während einer Urlaubsreise. Der wesentliche Unterschied gegenüber den damals üblichen Rechenwerken war die durch einen Einzelbefehl gesteuerte Verarbeitung von Zahlenfolgen. Zur Erprobung des Gesamtkonzepts wird am IMR zunächst ein Gerät mit den vorhandenen Baugruppen des Rechenautomaten D 2 (Elektronenröhren) und mit der internen Bezeichnung D 3 konstruiert. Dieser Rechenautomat ist in seinen Ausmaßen bereits wesentlich kleiner als seine beiden Vorgänger, aber im Format eines Schreibtisches „noch“ ziemlich groß.
Weil sich die Vertreter der Industrie verhalten für das Konzept zum Kleinstrechenautomaten interessieren, werden die Arbeiten über Institutsmittel finanziert sowie durch Studienarbeiten am IMR realisiert. Mitte 1963 wird schließlich eine ausgereifte Version des nur 72 Kilopond schweren Kleinstrechenautomaten D 4a mit den Maßen 60x45x42 cm funktionstüchtig fertiggestellt. Einer der ersten universal programmierbaren Rechenautomaten auf der Basis von Transistoren und schon in der Grundausführung mit integrierter Ein- und Ausgabe sowie Tastatur-Bedienung. Als besonders günstiges Gerät ist der D 4a in der Lage mit relativ kleinem Aufwand etwa 150 Gleitkommaoperationen pro Sekunde bzw. 2000 Elementaroperationen pro Sekunde auszuführen und sollte dem individuellen Nutzer direkt und nicht nur der Verwendung durch Spezialisten in Rechenzentren dienen.
Bemerkenswert ist zudem die gestalterische Ausformung des D 4a durch den Formgestalter Karl Clauss Dietel aus Chemnitz. Und auch wenn der Gestaltungsspielraum durch den bereits vollendeten technischen Aufbau nur gering war, erarbeitet Dietel bis 1965 ein nutzerfreundliches D 4a-Design und legt großen Wert auf das Sichtbarmachen und Hervorheben der einzelnen Funktionsbereiche.
Mit der Festlegung der Mercedes Büromaschinen-Werke in Zella-Mehlis (später VEB Cellatron Büromaschinenwerk bzw. ab den 1970er Jahren Robotron-Elektronik) für die industrielle Produktion des D 4a beginnt ab 1963 ein reger Austausch zwischen den betriebseigenen Mitarbeitern und denen des IMR der TU Dresden. Das Ergebnis ist zunächst ein erstes gemeinsames Labormuster, welches im Herbst 1965 sowie im Frühjahr 1966 auf der Leipziger Messe präsentiert wird. Entgegen der positiven Resonanz in der Fachwelt gestaltet sich die eigentliche Markteinführung jedoch schwierig und die Idee der kompakten Auf-Tisch-Variante des D 4a wird ab Herbst 1966 verworfen.
Zunächst unter der neuen Bezeichnung D 4a-Cellatron 8201 (C 8201) und in der klassischen Form als Im-Tisch-Variante verpackt, wird das Konzept schließlich grundlegend überarbeitet und ab Mitte 1969 als elektronischer Kleinrechner C 8205 produziert. Abgesehen von der Logik hat der C 8205, von welchem bis 1978 insgesamt 3000 Exemplare erfolgreich produziert und exportiert werden, in konstruktiv-technischer Hinsicht nichts mehr mit dem Ur-D 4a aus dem Jahr 1963 zu tun.
Die Sammlung Historische Rechenmaschinen und der WB Mathematische Kybernetik und Rechentechnik
Mit der Gründung der Sektion 8 für Informationsverarbeitung im Zuge der dritten Hochschulreform der DDR 1969 geht „Lehmanns geliebter Laden“ in den Wissenschaftsbereich Mathematische Kybernetik und Rechentechnik (MKR) innerhalb der Sektion 7 Mathematik über. Die Dresdner Rechenautomaten – allen voran der D 4a – finden zwar weiterhin viele Jahre bei den Studenten der Informationsverarbeitung zur Vorprüfung ihrer Programme Verwendung, die Arbeiten am D 4a und dessen angedachtem Nachfolger D 5 werden jedoch eingestellt, da sich der allgemeine Trend hin zu Großrechnern manifestiert. Die Forschungsschwerpunkte am neu formierten MKR der TU Dresden verlagern sich nun zunächst auf Programmierungstechnik, -sprachen (DEPOT), Computer-Geometrie und später auf Computer-Analytik. Letzteres ist als Grenzwissenschaft zwischen Mathematik und Informatik angesiedelt und in den 1980er Jahren bestimmendes Thema für Lehmann am MRK aber auch über seine Emeritierung 1986 hinaus. Lehmann gilt heute international als Begründer dieses Arbeitsgebietes – trotz dass ihm die endgültige Fertigstellung seines Konzepts sowie die Aufbereitung geeigneter Algorithmen und dessen praktische Erprobung vergönnt blieb.
Neben den in der Lehre verankerten Forschungsthemen zur Software-Entwicklung befasst sich Lehmann als Leiter des MKR mit der Aufarbeitung und der Bewahrung der historischen Sachzeugen, die traditionell in die Ausbildung am Institut für Angewandte Mathematik der TH Dresden (noch unter Prof. Friedrich Adolf Willers) und später am IMR einbezogen waren.
Im Jahr 1979 findet an der TU Dresden ein internationales Kolloquium anlässlich des 100-jährigen Jubiläums „des Beginns der fabrikmäßigen Fertigung von Rechenmaschinen in Deutschland“ statt. In diesem Zusammenhang wird erstmalig die historische Sammlung von mathematischen Instrumenten und Maschinen in einer Institutsausstellung des MKR präsentiert. In Folge dieser Ausstellung begründet Nikolaus Joachim Lehmann die Sammlung Historische Rechenmaschinen an der TU Dresden, welche sich auf zwei wesentlichen Schwerpunkte konzentrierte: zum einen wichtige Exponate der frühen mechanischen Rechenmaschinenentwicklung (vorwiegend aus Glashütte), zum anderen die Eigenentwicklungen des ehemaligen Instituts für Maschinelle Rechentechnik – wie die Dresdner Rechenautomatenreihe D 1 – D 4a. Im Verlauf der Zeit entwickelte sich durch Ergänzungen und Erweiterungen – vor allem mittels Zeitungsinserate und gezielten Nachfragen – eine beachtliche Sammlung, welche heute weit über ihre regionale Bedeutung hinausreicht.
Im Rahmen seiner Untersuchungen zu einzelnen Sammlungsobjekten beginnt Lehmann sich mit der Rechenmaschine von Gottfried Wilhelm Leibniz (Anfang 18. Jahrhundert) zu befassen. Unter seiner Leitung entsteht ein Nachbau der Maschine, wobei das Beheben kleinerer Fehler die korrekte Funktionstüchtigkeit der Rechenmaschine bewirken und gleichzeitig den Beweis liefern kann, dass Fertigungsmängel als Grund für die unzureichende Funktionstüchtigkeit des Originals anzusehen sind.
Literatur/Verwendete Quellen
- Sobeslavsky, Erich/ Lehmann, Nikolaus Joachim: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR 1946-1968, Dresden, 1996
- Demuth, Birgit (Hrsg.): Informatik in der DDR – Grundlagen und Anwendungen, Tagungsband zum dritten Symposium 15. Und 16. Mai 2008 in Dresden, Bonn, 2008
- Naumann, Friedrich (Hrsg.): Informatik in der DDR – eine Bilanz, Tagungsband zu den Symposien 7. bis 9. Oktober 2004 in Chemnitz, 11. bis 12. Mai 2006 in Erfurt, 2006
- Der Rektor der TU Dresden (Hrsg.): Sammlungen und Kunstbesitz der Technische Universität Dresden, Leipzig/ Dresden, 1996
- Lehmann, Dolly Margareth: Der EDV-Pionier Nikolaus Joachim Lehmann. Bilder des Lebens, Frankfurt am Main (u.a.), 2002
- Jacobs, Dieter/Tumma, Manfred: Von Mercedes zu Robotron: Eine Weltfirma im Wandel der Geschichte, Zella-Mehlis/Meiningen, 2006
- Hantzschmann, Karl: Ein Experimentalsystem zur Computer-Analytik – In Memoriam Nicolaus Joachim Lehmann, Rostock, 2011
- Universitätsarchiv der TU Dresden
- Sammlungsarchiv der Sammlung Historische Rechenmaschinen der TU Dresden