Apr 02, 2020
DGSMP-Stellungnahme "Sozialmedizin und Prävention während der Corona-Pandemie"
Die gesundheitlichen Auswirkungen und Folgen der Coronavirus-Pandemie (COVID-19) sind derzeit nicht vorhersagbar. Als Dauer der Pandemie wurde von Seiten des Robert Koch-Instituts (RKI) ein Zeitraum von bis zu zwei Jahren geschätzt. Aktuelle Lagebeurteilungen, Prognosen und Bewertungen getroffener Maßnahmen müssen ständig überprüft und angepasst werden.
Einrichtungen mit sozialmedizinischen und präventiven Aufgaben wie der Öffentliche Gesundheitsdienst, sozialmedizinische Dienste und einschlägige Beratungsstellen leisten mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wichtige Beiträge zur Krisenbewältigung. Ihre Aufgaben und Kompetenzen betreffen insbesondere die Wechselwirkungen zwischen der gesundheitlichen Situation der Bevölkerung, der Wirksamkeit des Gesundheitssystems im Verlauf der Pandemie und den pandemiebezogenen Aktivitäten in der Gesellschaft. Bisher fehlt eine kausale Therapie gegen COVID-19.
Zur Abschätzung der Wirkungen notwendig gewordener Einschränkungen des All-tagslebens zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie und zu unserem gesellschaftlichen Umgang mit diesen können sozialmedizinische und gesundheitswissenschaftliche Kompetenz und darauf aufbauendes Handeln in folgenden vier Bereichen wesentliche Beiträge leisten:
1. Steuerung des Gesamtprozesses
2. Information und Kommunikation
3. Versorgungsgerechtigkeit, Versorgungssysteme
4. Solidarität und Subsidiarität, Gesundheitschancen für alle
1. Beiträge zur Steuerung des Gesamtprozesses
Um die COVID-19-Pandemie erfolgreich zu bewältigen, müssen weitreichende Entscheidungen schnell und dennoch ausgewogen getroffen werden. Viele dieser Entscheidungen wirken kurzfristig und direkt auf die Gesundheitsgefahr durch das Coronavirus SARS-CoV-2, aber auch langfristig auf unser aller Gesundheit, da sie unser gesellschaftliches Leben, seine wirtschaftlichen Grundlagen und unser Gesundheitssystem verändern. Um in einem hochdynamischen Geschehen immer wieder neu die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, muss dieser Komplexität Rechnung getragen werden. Dies macht einerseits das Zusammenwirken verschiedener Disziplinen notwendig, erfordert andererseits aber auch eine permanente Beobachtung und Rückkopplung. Politische Entscheidungsträger stehen dabei vor der Herausforderung, medizinische, sozial- und gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse und Kompetenzen gleichermaßen zu berücksichtigen, um schnellstmöglich reagieren zu können.
Besondere Herausforderungen ergeben sich aus der internationalen Diversität der Ansätze zwischen dem Versuch einer restriktiven Kontrolle der Pandemie einerseits und mehr oder weniger explizit permissiven Strategien andererseits, die eine Herdenimmunität und endemische Verbreitung von COVID-19 nach sich ziehen werden.
Solange uns ein qualitativ sehr hochwertiger Impfstoff fehlt, wird die sich daraus er-gebende internationale Heterogenität der Ausbreitung von COVID-19 extreme Aus-wirkungen auf unser zwischenstaatliches soziales Leben, unsere Mobilität und unseren Handel haben. Es wird daher notwendig sein, sozialmedizinisch und gesund-heitswissenschaftlich fundierte und ausgewogene politische Entscheidungen zu treffen und diese im voraussichtlich langen Prozess laufend neu zu justieren.
2. Information und Kommunikation
Politik und Öffentlichkeit brauchen in der Zeit der Pandemie umfassende, wissenschaftlich fundierte Informationen zu gewonnen Daten und deren Bewertung aus vertrauenswürdigen Quellen. Eine solche Wissenschaftsbasierung kann dabei helfen, Maßnahmen der Prävention und präventives Verhalten zu verstehen und ohne äußeren Zwang in das tägliche Leben zu integrieren, vermeidbare Ängste abzubauen und Immunität zu entwickeln gegen Fake News und gezielte Fehlinformationen.
In kurzen Abständen neu erhobene Daten und bevölkerungsbezogene Aussagen zur Pandemie dienen dem Gesundheitsschutz. Insbesondere bedürfen vorläufige Lagebeurteilungen in einem dynamischen Prozess der sorgfältigen fachlichen Interpretation, um unbegründete oder gezielte Fehldeutungen zu verhindern.
Gesundheitsbezogene Informationen und auf der Bundesebene getroffene Bewertungen bedürfen für die Übertragung ihrer Wertigkeit auf die Landesebene und die kommunale Ebene einer sorgfältigen sachverständigen Prüfung und zielgerichteten Anwendung vor Ort. Besonders in der Zeit der Pandemie sind kommunale Institutionen mit sozialmedizinischer und präventiver Kompetenz wie Gesundheitsamt, Sozialamt, Krankenkassen, Selbsthilfeeinrichtungen und andere lokale Akteure im Interesse der Gesundheit aller zur Kooperation untereinander und mit den Bürgerinnen und Bürgern aufgerufen.
3. Versorgungsgerechtigkeit, Versorgungssysteme
Sozialmedizin und Public Health verfügen über normatives Wissen aus Public Health-Ethik, aus Medizin- und Sozialrecht und über Wissen zur Struktur und Funktion des Gesundheitssystems. Angesichts der Corona-Pandemie mit rasanten Veränderungen der öffentlichen Gesundheit und befürchteter Überlastung stationärer Behandlungseinrichtungen gilt es, gesundheitspolitische Entscheidungen der Bevölkerung zu erklären. Das Coronavirus hat die Welt im Griff und schafft für jeden Einzelnen eine vollkommen neue Situation bezüglich der Sorge füreinander und bezüglich der Sorge um die eigene Gesundheit.
Der bisherige Verlauf der COVID-19-Pandemie hat erhebliche Defizite in der präventiven Gesundheitsversorgung (Fehlen von Schutzausrüstungen, Desinfektionsmitteln u.a.) aufgezeigt und sowohl prosoziales als auch egoistisches Verhalten von Menschen als Reaktion darauf offengelegt. Unsoziales Verhalten gefährdet die Umsetzung von Gerechtigkeit in der gesundheitlichen Versorgung, das Recht jedes Menschen auf subsidiäre Solidarität hinsichtlich der bestmöglichen medizinischen Versorgung gegenüber existenzbedrohenden Risiken.
Das Urteil über eine gerechte Verteilung knapper Ressourcen fällt in der Bevölkerung offensichtlich kontrovers aus, wenn es zu Einschränkungen der eigenen Bedürfnisbe-friedigung kommt. In Mangelsituationen ist das ethische Problem der Versorgungsge-
rechtigkeit im Gesundheitswesen im Wesentlichen ein Verteilungsproblem. Eine sozialverträgliche Verteilung von Gesundheitsleistungen erfolgt entsprechend der Bedarfsgerechtigkeit abhängig vom Hilfebedarf.
Auch in der gesundheitsbezogenen Prävention ist Priorisierung ein Verfahren, in dem die Vorrangigkeit bestimmter Schutzmaßnahmen, z.B. die Expositionsvermeidung gegenüber dem neuen Coronavirus, vor anderen Interessen festzustellen ist. Die Akzeptanz der Priorisierung in der Prävention und in der Gesundheitsversorgung hängt, neben der Transparenz im Vorgehen, maßgeblich davon ab, wer priorisiert, mit welcher Legitimation und nach welchen Kriterien dies in der konkreten Situation ge-schieht, z.B. bei einem Mangel an Beatmungsplätzen.
4. Solidarität, Gesundheit für alle
Solidarität mit den Bedürftigen ist die Begründung der Forderung nach einer sozialen Medizin. Während der COVID-19-Pandemie erfährt der Begriff “Solidarität” in der öffentlichen Diskussion eine Renaissance. Solidarisches Handeln erhält eine neue Wertigkeit in der verunsicherten Gesellschaft.
Solidarität im Gesundheitsbereich steht primär als Leitmotiv für Verbundenheit und Hilfsbereitschaft des für seine Aufgaben hochmotivierten Personals der Gesund-heitsdienste mit hilfesuchenden Menschen. Bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Gesundheitswesen (Pflegende, Ärztinnen und Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe) initiiert aber der Begriff Solidarität auch eine ethisch-politische Begründung für ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl der Betroffenen nach einer für sie immer belastender werdenden Epoche der Ökonomisierung des Systems mit neoliberal geprägten Rentabilitätsvorgaben.
Solidarität in der Gesellschaft zum Schutz der Gesundheit muss auch den Arbeitsschutz für die Fachkräfte im Gesundheitswesen einschließen. Das umfasst einen ausreichenden Gesundheitsschutz gegenüber den Gefahren durch das Coronavirus SARS-CoV-2 und ebenso einen wirksamen Schutz vor Überlastung der Fachkräfte in Beratungs- und Pflegediensten, insbesondere bei chronischem Personalmangel.
Die Diskussion über die Bewältigung der COVID-19-Pandemie in der Bevölkerung und unter den Fachkräften des hochgradig belasteten Gesundheitswesens beinhaltet aber auch die Chance zur Festigung der Solidarität in der Gesellschaft in der Zukunft – ohne dass wir genau wissen, wann diese beginnt.