Nov 11, 2025
Wenn sich die Kreise schließen
Tobias Bergmann
(interviewt im Jahr 2025)
Dagmar Möbius
Tobias Bergmann ist gebürtiger Münchener und wuchs in Niederbayern auf. 1992 kam er zum Studium der Volkswirtschaftslehre an die TU Dresden. Nach verschiedenen beruflichen Stationen in der Wirtschaft ist der Volkswirt seit 2021 Oberbürgermeister der Stadt Neumünster in Schleswig-Holstein.
Mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen war Tobias Bergmann bereits als Kleinkind konfrontiert. Seine noch studierenden Eltern konnten sich infolge der Olympischen Spiele 1972 ihre Wohnung in München nicht mehr leisten und zogen aufs Dorf. Später fungierte sein Vater dort als Bürgermeister.
Abenteuer „Osten“
21-jährig kam der Mathematik-affine Tobias Bergmann zum Studium der Volkswirtschaftslehre an die TU Dresden. „Ausgerechnet im Osten Kapitalismus zu studieren, war unlogisch“, sagt der 54-Jährige heute. Er hätte auch einen Studienplatz an der Universität Regensburg antreten können. Doch Dresden fand er unglaublich spannend und lacht: „Gefühlt kurz nach dem Fall der Mauer war das für mich als Wessi ein echtes Abenteuer.“ Im Hochschulranking liefen die ostdeutschen Universitäten außer Konkurrenz, aber die TUD belegte in Volkswirtschaftslehre einen Spitzenplatz. „An der damaligen Gründungsfakultät mit Dekan Ulrich Blum kamen junge Professoren zum Zuge. Für den Westen zu jung, eine echte Talentschmiede. Das fand ich sympathisch“, sagt Tobias Bergmann.
Im Willers-Bau
Politisches Interesse für bessere Gesellschaft
Er war bereits damals politisch sehr interessiert. Und überzeugt, dass man ökonomische Zusammenhänge verstehen muss, um eine Gesellschaft gestalten und verbessern zu können. In der Nachbarschaft erlebte er massive ökonomische Umbrüche und Zerwürfnisse. Zudem eine gestaltende Wirtschaft, für die sich der damalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf einsetzte. „Volkswirtschaft fand nicht nur im Hörsaal statt – das hätte ich in Regensburg so nicht erlebt“, ist er sicher.
Keine Scheu vor Sprache der Mathematik
Und noch etwas reizte Tobias Bergmann: „Die Volkswirtschaftslehre hat ihre eigene Sprache: Das ist die Mathematik – davor hatte ich keine Scheu.“ Er hatte strenge, aber gute Mathematik-Professoren. „Die hatten alle in Leningrad studiert“, weiß er noch. An Namen erinnert er sich leider nicht mehr. „Als man die Sprache sprach, konnte man die Schönheiten der Volkswirtschaftslehre erkennen“, sagt er und vergleicht: „Das ist so ähnlich wie bei Shakespeare-Gedichten auf Englisch.“
Rock’n’Roll im Plattenbau
Tobias Bergmann wohnte nicht im Studentenwohnheim, sondern gründete eine Wohngemeinschaft – die WG Casablanca in einem Plattenbau in Dresden-Niedersedlitz. Für die vermietende Wohnungsbaugenossenschaft war das Neuland, gegen den sich auch Widerstand regte. Doch Tobias Bergmann wohnte seine gesamte Studienzeit bis 1999 mit Mitstudierenden in der Schönaer Straße. „Dresden war für mich damals Rock’n’Roll. Oder, um es mit den Puhdys zu sagen: ein Aufbruch in eine neue Zeit.“
Freemover im Ausland
Jeden Montagabend saß er im Italienisch-Kurs an der TUD. „Richtige Quantensprünge habe ich da nicht gemacht“, lacht er. Aber: „Ich war der erste Dresdner Student, der über Erasmus nach Italien wollte. Die meisten entschieden sich für England oder Frankreich.“ Zwei Semester verbrachte Tobias Bergmann im italienischen Parma. Ohne Erasmus. Als „Freemover“ wohnte er nicht im Studentenwohnheim, sondern fand, dass er bei Einheimischen besser Italienisch lernt. Auch der Blick auf die Volkswirtschaftslehre war ein anderer der im neoklassisch geprägten Dresden. „Mein dortiger Professor Seravalli war lange Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. Es gibt nicht nur eine Wahrheit“, stellte er fest und sieht unterschiedliche Herangehensweisen gleichberechtigt.
Berufliche Wege und die Metakompetenz
Bei Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen arbeitete Tobias Bergmann als studentische Hilfskraft. Der bekannte Volkswirtschaftler beeindruckte ihn nachhaltig.
Nach dem Studium hatte er zunächst kleinere Jobs in Berlin und Köln. Im Jahr 2000 fing er bei der Managementberatung Ramboll in Hamburg an und erlernte in Nachwuchsprogrammen, wie man als Volkswirt Beratungsfähigkeiten entwickelt. „Die skandinavische Kultur hat mich geprägt“, sagt er. 2009 gründete er mit Kolleg:innen die Nordlicht Management Consultants GmbH. Als seine Metakompetenz bezeichnet er: „Komplexe Sachverhalte reduzieren und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.“ Anschließend war er vier Jahre als Berater selbstständig.
Wechsel auf die Seite der Entscheidungen
Als in der Stadt Neumünster ein neuer Oberbürgermeister gewählt werden sollte, wurde Tobias Bergmann empfohlen. SPD-Mitglied seit Jugendtagen war er mehr auf seine berufliche Karriere als auf ein politisches Amt fokussiert. Biographisch hatte er keinen Bezug zu der 80.000-Einwohner-Stadt in Schleswig-Holstein. Doch der Wechsel von der Berater- auf die Entscheiderseite reizte ihn. Im September 2021 wurde Tobias Bergmann gewählt und ist seitdem das Oberhaupt der kreisfreien Stadt Neumünster. Seine täglichen Herausforderungen sind nicht klein: „Wir sind keine Hochschulstadt und in einer schwierigen finanziellen Situation.“
Prios statt 20 Spiegelstriche
Tobias Bergmann bezeichnet sich dennoch als glücklichen Oberbürgermeister. Warum? Er sagt: „Als Oberbürgermeister muss man politische Entscheidungen stets in einem ökonomischen Rahmen treffen. Da ist ein solides Verständnis von Volks- und Betriebswirtschaft von großem Vorteil. Juristisch lasse ich mich natürlich beraten – ökonomisch kann ich vieles selbst einordnen.“
Am meisten nützt ihm die im Studium angeeignete der Denkweise: „Volkswirte übertragen Probleme in Modelle – dabei muss man zwangsläufig Komplexität reduzieren und lernen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Man kann nicht mit 20 Spiegelstrichen argumentieren, Man muss priorisieren, strukturieren, modellhaft denken. Diese Fähigkeit hilft mir bis heute.“
Und dann noch indirekte Bühnenfigur
Tobias Bergmann meets actress Betty Freudenberg at the Dresden Theater.
Tobias Bergmann ist regelmäßig in Dresden, hat private Kontakte dort, sein Patensohn hat dort erst Abitur gemacht. Anfang des Jahres 2025 traf er zufällig die Rektorin, Prof. Ursula Staudinger. „Ich lernte sie bei einer Premiere im Schauspielhaus Dresden kennen“, erzählt er. Gespielt wurde „Bauern, Bonzen, Bomben“ nach dem Roman von Hans Fallada. „Das Stück spielt zur Zeit der Weimarer Republik in einer norddeutschen Kleinstadt. Unverkennbar Neumünster. Eine der Hauptfiguren: der Bürgermeister“, schmunzelt Tobias Bergmann. Er sieht viele aktuelle Anknüpfungspunkte zur Gegenwart. „Roman und Stück zeigen, wie Konflikte eskalieren und die Demokratie unter Druck gerät.“
Die Kreise schließen sich.
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