Ja, die Matrikel 1953, sie ist unvergessen
Prof. Dr. Herbert Ehrlich
Mein Name ist Herbert Ehrlich, ich bin nahe Freiberg in Sachsen geboren, habe 1946 den Beruf eines Feinmechanikers erlernt und bin 1953 zum Studieren gen Dresden gezogen. Dort wurde ich in der zur damaligen TH gehörigen ABF (Arbeiter- und Bauernfakultät) immatrikuliert.
Und nach dem Abitur ging es dann richtig los: Mein Maschinenbau-Studium begann und endete 1959 mit dem Diplom. Unter den obwaltenden Umständen und Bedingungen – der elende Krieg war gerade mal acht Jahre zu Ende - ist es nicht verwunderlich, dass sich Dinge ereigneten, die heute wohl nicht mehr vorkommen (können), die aber zeigen, mit welchem Elan und Enthusiasmus Schwierigkeiten und Provisorien durch Lehrkörper und Studenten und alle am Prozess Beteiligten überwunden wurden und wie gleichzeitig die Lebensfreude nach vielen Jahren der Düsternis vor 1945 wieder Einzug auch in das studentische Leben gehalten hatte.
Mit ein paar persönlichen Erinnerungen will ich einen weiteren kleinen Beitrag dazu leisten, wobei ich auch Namen von Beteiligten nennen möchte. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere geschätzte Leser mit einem Lächeln oder auch einem anderen Gefühl an sie, vielleicht erinnert er sich auch an den Autor dieser Zeilen, der in der Studentenzeit allerdings nicht sehr auffällig war.
Bekanntlich wurden die Studenten immer mal wieder zur Hilfe in der Landwirtschaft, speziell bei der Einbringung der Ernte, herangezogen. Die Formen haben sich im Laufe der Jahre vom Zufallsprinzip auf Anforderung der zuständigen Organe bis hin zu organisierten Abläufen in den späteren Jahren geändert (Eine kleine Bemerkung aus meiner späteren Zeit in den 1980er-Jahren an der TH Leipzig: Die Studenten wurden vor Beginn des Studiums in den Ernteeinsatz geschickt und zwar in die Apfelernte nach Dürrweitzschen gegen Bezahlung und dann während des Studiums nie mehr. Ausnahme: Ein Wintereinsatz in der Braunkohle im katastrophalen Winter 1979)
Also, es war im Herbstsemester 1957. Erinnert sei an die anderen Beiträge zu diesem Thema (Autoren: Heinz Clemens, Gottfried Rabe). Geplant war der Einsatz von zentraler Stelle, denn es wurden sowohl Transportlogistik als auch Unterbringung vor Ort richtiggehend vorbereitet. Ziel des Einsatzes der Dresdner Studenten war Hilfe für die Landwirtschaft in Mecklenburg bei der Kartoffel- und Rübenernte. Man erinnere sich: Die Höfe dort waren zu einem Großteil verlassen, weil die Bauern dem Druck, in die LPG einzutreten, nicht nachgeben wollten und lieber im Westen eine ungewisse Zukunft suchten.
Wir waren im 7. Semester, es war also 1957 im Herbst, als wir zur Hilfe gerufen wurden. Das war für uns nicht gerade ein „Schlafwagensemester", wir hatten außer den Vorlesungen allerhand zu tun, vor allem Praktika zu absolvieren und zugehörige Protokolle bzw. Belege auszuarbeiten. Kurz gesagt: Es kam uns ungelegen, wir hatten vermutlich eine differenziertere Auswahl der helfenden Studenten bzw. Studienjahre erwartet, obwohl wir den Ernteeinsatz nicht prinzipiell ablehnten. So dachten wir: Es fällt uns schwer, aber wir verweigern uns nicht. Wir möchten gern zum Zeichen der Solidarität mit uns den Herrn Prorektor Studienangelegenheiten, Prof. Turski, einladen, mit uns nach Mecklenburg zu fahren. Es sei daran erinnert, dass Prof. Turski bei allen Studenten der TH nicht sehr beliebt war.
Wir, die Studenten der Fachrichtung Feinmechanik/Regelungstechnik, Matrikel 1953 (zwei Seminargruppen), schrieben also einen entsprechenden Brief. Wir waren nicht dabei, als ihn Herr Prof. Turski gelesen hat, aber spürten die sich anschließende Wirkung. Vertreter unserer Fachrichtung wurden zum Rektor beordert und uns schwante nichts Gutes. Wir hatten gehört, dass der Prorektor nach dem Lesen des Briefes getobt und beim Rektor unsere Relegierung gefordert hatte. Also sind wir zum Rektor geschlichen. Offiziell im Amt war Prof. Pommer von der Starkstromtechnik. Er war aber außer Haus und Prof. Horst Peschel, der das Amt vorher (1953 bis 1956) innegehabt hatte, vertrat ihn. (Eine Randbemerkung: Prof Peschel war von 1959 bis 1974 Präsident der Kammer der Technik der DDR.) Herr Prof. Turski war zum Gespräch nicht anwesend, er hätte uns ja persönlich sagen können, was ihm an unserem Brief nicht gefällt. Wir waren deshalb nicht böse, und Prof. Peschel hat uns in sehr väterlicher Art ein paar Worte zum Vorfall gesagt. Hauptpunkt war der Vorwurf, wir hätten das Geschriebene nicht ehrlich gemeint und es stünde doch da noch etwas zwischen den Zeilen. Wir verneinten das und wurden mit dem Hinweis, uns die Kritik zu Herzen zu nehmen, entlassen; exmatrikuliert wurden wir nicht, es wäre ja auch zu schade gewesen, wo wir doch schon in spätestens zwei Jahren als Kader für die sozialistische Industrie einsatzbereit gewesen wären. Wir haben Prof. Peschel in verehrender Erinnerung behalten. Darauf komme ich am Ende noch mal zurück.
Das Sommersemester 1958 war für uns das letzte Vorlesungssemester. Danach folgten der Große Beleg und die Diplomarbeit. Das endgültige Ende des Studiums stand nicht genau fest; je nachdem, in welcher Zeit man diese beiden Arbeiten bewältigte. Wie es mit dem Stipendium war, kann ich nicht mehr genau sagen; sicher gab es hier ein Zeitlimit, bis zu dem ein solches gezahlt wurde.
Es war aber in den 1950er-Jahren üblich, die allerletzte Vorlesung, die die Studenten hörten, in einer sehr unterhaltsamen Form zu feiern. Das waren manchmal große Vorlesungen, meistens aber kleinere, an denen nur die Studenten einer Fachrichtung teilnahmen. Eine sehr große Veranstaltung der Studenten der Elektrotechnik, die „ET-FINE" fand in den 1950er-Jahren vor dem Barkhausen-Bau statt. Über die will ich aber nicht berichten. Sie wurde wohl Anfang der 1960er-Jahre auf hauptsächliches Betreiben von Prorektor Turski abgeschafft bzw. verboten.
Aus unserer Fachrichtung hatte jemand die Idee, aus genanntem Anlass eine Blaskapelle ins Leben zu rufen. Das war Anfang 1958 und es ging auf die Faschingszeit zu. Ich will die Einzelheiten der Vorbereitung, vor allem die Probleme der Beschaffung von Instrumenten und der Auswahl der Musikanten unseres Teams nicht schildern. Auch das Repertoire an Musikstücken musste sehr begrenzt bleiben – ich erinnere mich an „Gaudeamus Igitur", „Muss i denn zum Städtele hinaus", „Wir woll’n den alten Kaiser Wilhelm wiederhab’n" (Fehrbelliner Reitermarsch) ... Einige von uns haben die Instrumente nur zu dem einmaligen Zweck spielen gelernt (darunter war auch ich einer).
Es war uns klar, dass es aber ohne vorherige Proben nicht ging. So beschlossen wir, am Rosenmontag unsere erste Probe durchzuführen. Vormittags hatten wir frei, erst am späten Nachmittag war noch eine Vorlesung (Dr. Richter, ein Lehrbeauftragter: Technische Optik) im Barkhausen-Bau. Mit meinen Freunden Gotthard Bergert und Harald Gemper wohnten wir in Mockritz in der Eigenheimstraße, nur einen Steinwurf von der historischen Gaststätte „Moreauschänke" entfernt. Mit dem Wirt Herrn Wolfram verstanden wir uns gut und durften, da vormittags keine weiteren Gäste da waren, dort proben – bei einem Glas Bier und in gemütlicher Sitzhaltung. Von unseren erzielten Leistungen waren wir so angetan, dass ein paar von uns die Instrumente mit in die Vorlesung von Dr. Richter nahmen und ihm eins aufspielten, nachdem wir ihn gebeten hatten, seine Vorlesung ein paar Minuten eher zu beenden. Wir haben ihm dabei auch ein kleines Geschenk gemacht: zwei zusammengebundene Bierflaschen, die dann wie ein Fernglas aussahen und damit auch die Verbundenheit zu seinem Fach ausdrückten.
Unsere musikalischen Vorbereitungen hatten sich auch bald im Institut für mechanischen und elektrischen Feingerätebau (Fakultät für Elektrotechnik, Prof. Hildebrand) herumgesprochen. Ein Teil von uns hat dort als Hilfsassistent gewirkt und hatte so Kontakt zum Lehrkörper, vor allem zu einigen Assistenten, die an ihrer Doktorarbeit bastelten. Und es ergab sich, dass kurz vor Ostern ein Promovend, nämlich der spätere Dr. Köhler, seine Dissertation verteidigte. Wie das damals so üblich war, folgte nach dem offiziellen Akt ein lustiges Ereignis; meist war es ein kleiner Umzug auf dem Hochschulcampus in einer originellen Aufmachung. Aber Musik musste dabei sein, doch woher nehmen? Da kamen die Assistenten (um mal einen zu nennen: Dipl.-Ing. Bögelsack, der später an die TH Ilmenau als Professor berufen wurde) auf die verrückte Idee, uns anzusprechen.
ir lehnten ab, weil unser „Klangkörper" alles andere als auftrittsreif war und außerdem einige von uns schon vor Ostern nach Hause gefahren waren. Nach weiterem Drängen hat sich der Rest entschlossen, sich mit Musik an die Spitze des Umzuges zu stellen. Wir haben dann eine jämmerliche Katzenmusik geboten, wurden aber deswegen nicht bestraft. Wir waren nur zu dritt: Horst Zillich mit dem Piston, Klaus van der Hayden mit der Klarinette und meine Wenigkeit mit einem B-Tenorhorn. Aber nach Ostern haben wir die anderen unterrichtet, dass wir uns in unseren Leistungen weiter steigern müssen. Vor allem schien es uns, dass wir das Spielen beim Marschieren üben müssten. Alle waren einverstanden und so haben wir uns einen Feldweg dazu ausgesucht, der von der Südhöhe in Richtung Bismarcksäule (von der man einen wunderschönen Blick auf den Hochschulkomplex, vor allen die Bauten am Zelleschen Weg und das Elbtal hat) führte. Wir sind diesen Weg von Mockritz aus so manches Mal zu Fuß in unsere Hochschule gelaufen. Die Übung war ein richtiger Erfolg, die Leute auf den Feldern rechts und links des Weges waren unser Publikum.
So waren wir schließlich für den letzten Tag unseres Studiums im Hörsaal gerüstet. Es war ein glücklicher Umstand, dass die allerletzte Vorlesung von Prof. Kindler, der für die Regelungstechnik in unserer Ausbildung zuständig war, gehalten wurde. Sie fand im Hörsaal im Görges-Bau statt und auf unsere Bitte hin, ein bisschen eher aufzuhören, hat unser Kommilitone Klaus Franze (der leider viel zu früh verstorben ist) eine Scherzvorlesung über ein regelungstechnisches Thema gehalten. Danach haben wir mit Musik Prof. Kindler an seinen Arbeitsplatz begleitet (er war damals in der Feuerwache an Hauptweg durch das Hochschulgelände, parallel zur Mommsenstraße) und uns dann auf den Weg in die schon erwähnte Moreauschänke in Mockritz gemacht und auch vor dem Bismarckdenkmal noch mal Halt gemacht. Das Hochschulgelände haben wir über den Haupteingang am Beyer-Bau verlassen. Aber vorher (es war vielleicht 17 Uhr) wollten wir uns von Prof. Peschel mit einem Ständchen verabschieden.
Unser Anruf ergab, dass er tatsächlich noch im Rektorat war. Unser Anliegen hat er erfreut entgegengenommen und ein paar Minuten später haben wir uns noch im Hochschulgelände in der Nähe des besagten Ausganges getroffen. Seine Freude ist auch auf dem Bild unübersehbar.