Wanderjahre I: 1959 BRD
Es war etwa Pfingsten 1959, als mich (20) Uta Drafehn, die mit uns in Dresden Bauwesen studierte, auf dem Rummelplatz in Mücheln ansprach: Wenn du mal Urlaub im Westen machen willst, dann musst du dir eine Einladung von West-Verwandten holen, dann wirst du kostenlos von der ARTU, dem Studentenverein der TU Westberlin, von Tempelhof nach Hannover oder Hamburg geflogen.
Verwandte hatte ich nicht, aber einen Patenonkel, Kurt Reinicke in Richen im Odenwald, der 1953 mit Familie vor der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft aus Mücheln geflohen war. Also besorgte ich mir eine briefliche Einladung von ihm, machte inzwischen meine Fahrschulprüfung und trampte Anfang Juli mit dem Brief nach Berlin, ging zur ARTU, tauschte 25.- Ostmark in 5.- Westmark um, zahlte sie auf das Konto der ARTU ein und bekam einen Flug für den 22. Juli nach Hannover und einen Rückflug für den 19. August reserviert. Nach Hause zurückgetrampt, packte ich die Aktentasche mit Filmen und notwendigen Reiseutensilien. Man darf ja nicht mit viel Gepäck an der Straße stehen, sonst wird man nicht mitgenommen.
Am 21. Juli fuhr ich nach Merseburg, trampte nach Günthersdorf zur Autobahn und über den Berliner Ring wie gewohnt zur S-Bahn nach Wildau. In Biesdorf übernachtete ich bei Tante Lucie, und am 22. Juli ging‘s mit der S-Bahn nach Tempelhof. Mit einer gecharterten alten britischen Militärmaschine flogen wir nach Hannover. In der Jugendherberge (JH) erhielt ich Gutscheine für 80.- Westmark, kaufte davon das erforderliche Leineninlet für die JH-Betten sowie den Jugendherbergsausweis und das -verzeichnis und übernachtete. Am nächsten Tage trampte ich entlang der sog. Zonengrenze bis Fulda, am folgenden kam ich in Richen an. Hier blieb ich zwei Tage beim Patenonkel Kurt und -tante Erika, wir unternahmen einen Ausflug nach Darmstadt und nach Worms zum Rhein. Am 27. Juli verabschiedete ich mich für dieses Jahr, wir verabredeten ein erneutes Treffen im nächsten Jahr. Durch den Odenwald gings bis zum Neckar nach Heidelberg.
Am 28. Juli kam ich bis München Schloss Nymphenburg bei Gewitter und abends im Hofbräuhaus „die Maß Bier“. Als Souvenir erstand ich für 1.- DM einen Bierkrug, den ich nun immer mitschleppen musste. Am nächsten Tage Stadtbesichtigung und weiter nach Salzburg. Ich hatte erfahren, dass man mit dem DDR-Personalausweis Tagesausflüge nach Österreich und in die Schweiz machen durfte. Salzburg im obligatorischen „Schnürlregen“. Am 30. Juli ging‘s durch die Berchtesgadener Alpen zum Königssee und bis Bad Reichenhall, am 31. Juli den Inn aufwärts bis Innsbruck. Am 1. August fuhr ich von Ehrwald aus mit der Seilbahn zum Schneefemerhaus auf der Zugspitze und überschritt im Tunnel wieder die Grenze nach Deutschland, wurde auch gleich vom Zoll kontrolliert. Um in Garmisch-Partenkirchen übernachten zu können, musste ich eine Station mit der Zugspitzbahn im Tunnel fahren. Um Geld zu sparen, stieg ich dann am Riffelriß aus und lief nun entlang den Gleisen ins Tal bis zum Eibsee, den Rest trampte ich wieder. Am 2. August kam ich durch Augsburg bis Ulm, am 3. August über Lindau, Bodensee, Konstanz bis Singen, am 4. August zum Rheinfall bei Schaffhausen und durch den Schwarzwald bis Freiburg.
Am 5. August versuchte ich, in Kehl am Rhein die französische Grenze nach Straßburg zu passieren, wurde aber nicht eingelassen. Also musste ich umkehren und trampte rheinabwärts bis Mannheim. Auf dieser Fahrt hatte ich ein aufregendes Erlebnis mit einem schwulen Franzosen, der mich unbedingt mitnehmen wollte. Am 6. August versuchte ich nochmal in Saarbrücken über die französische Grenze zu kommen, wieder vergeblich. Da trampte ich saarabwärts nach Trier und fuhr mit der Moselbahn bis Cochem an der Mosel. Am 8. August stand ich am Deutschen Eck in Koblenz, damals noch ohne Kaiser Wilhelm auf dem Denkmalsockel. Rechtsrheinaufwärts kam ich bis nach Rüdesheim, in die Drosselgaß', und setzte nach Bingen über, um mir ein Flaschchen Rheinwein zu genehmigen. Am 9. August besuchte ich Mainz und Frankfurt und übernachtete im Taunus bei Königstein. Am 10. August erreichte ich über Limburg wieder den Rhein bei Koblenz und kam abwärts bis Köln. Am 11. August besuchte ich in Köln-Frechen die Eltern von Schwägerin Edith und kam rheinabwärts bis Düsseldorf. Dann verließ ich den Rhein und wollte in den Norden, kam am 12. August durch das Ruhrgebiet bis Diepholz in Niedersachsen und am 13. August nach Bremen und anschließend an Hamburg vorbei bis Lübeck, in Travemünde schon wieder sehr nahe an der Grenze, übernachtete in Klingberg in Schleswig-Holstein. Am 14. August erreichte ich Kiel und Schleswig, meine nördlichste Station. Am 15. August sah ich in Husum die Nordsee, anschließend in Rendsburg die hohe Eisenbahnbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal. Am späten Nachmittag streifte ich durch Hamburgs Rotlichtviertel, zuerst durch die Herbertstraße, wo die leichten Damen auch leichtbekleidet in Schaufenstern wie Ware saßen, und wo ich einen Seemann bewunderte, der beim Verlassen eines Hauses in einen Apfel biß, den er sich sicher fröhlich verdient hatte. Fotografieren war nicht erlaubt, aber ein Straßenfoto habe ich trotzdem gewagt. Anschließend im Dunklen über die Reeperbahn und durch die Große Freiheit, wo die Leuchtreklame warb, aber nicht um arme Studenten. Am Sonntag, dem 16.8. war Hamburg dann beim Stadtrundgang und bei der Hafenrundfahrt grau und diesig wie wohl sehr oft. Nun ging es weiter südwärts. Ein Mercedes nahm mich mit, der altere Herr erzählte mir, dass er sich in Hamburg öfter das Vergnügen leiste, einem Jugendlichen von der Straße das sexuelle Vergnügen mit einer leichten Rotlichtdame zu bezahlen, unter der Bedingung, dass er zusehen wolle! Durch die Lüneburger Heide kam ich bis Uelzen und am 17. August durch Celle bis Braunschweig. Am 18. August erlebte ich in Wolfsburg eine Werkbesichtigung, wo man auf besonderen Laufstegen oberhalb der Fertigungsbänder die Entstehung des VW „Käfer“ in allen Etappen bis zur Probefahrt verfolgen konnte. Abends kam ich in Hannover an. Am 19. August erfolgte abends dann der Rückflug nach Berlin. Zum Trampen war es zu spät, daher blieb ich noch eine Nacht in Biesdorf. Am 20. August wollte ich eigentlich nach Hause trampen, aber in der Stadt verspätete ich mich, dass es wieder zu spät wurde. Da beschloss ich, die Nacht wie so oft im Ostbahnhof im Wartesaal zu verbringen, um früh mit der ersten S-Bahn raus zur Autobahn zu fahren. Hier wurde ich jedoch Mitternacht von der Transportpolizeistreife kontrolliert, hatte keine Fernfahrkarte, wurde mitgenommen, landete mit mehreren anderen Verdächtigen bewacht in einer Zelle, hörte durch die Tür den Ton der Vernehmungen und konnte mich darauf vorbereiten. Als ich endlich dran war, stellte ich bewusst meine Aktentasche auf den Tresen vor die Polizisten und stand Rede und Antwort: Dass ich ein Student sei, der seine Verwandten in Biesdorf besucht hatte und wieder auf dem Heimweg war, aber warten wollte, bis es hell wäre, um zu trampen, weil ich ja kein Fahrgeld habe. In der Aktentasche waren Souvenirs wie der Jugendherbergsausweis mit Stempeln aller Übernachtungen, der Hofbräuhauskrug, Scheine aller benutzten Bahnen, Museen, etwa zehn Foto-Filme usw. Für einen Kontrollanruf bei der angegebenen Verwandtschaft war es nach Mitternacht keine geeignete Zeit, denn man begnügte sich mit dem Blick ins Telefonbuch, die Aktentasche übersah man, und dann ließ man mich nach einer endlos langen Zeit gehen. Draußen bin ich in der Dunkelheit erst einmal um den Ostbahnhof gelaufen, um mich wieder zu fangen. Dann nahm ich die S-Bahn nach Königswusterhausen, vernichtete aber unterwegs vorsorglich vor der Grenzkontrolle in Eichwalde belastende Belege und trampte nach Hause. 4.700 km lagen hinter mir ... Hans-Günther Doppelmann, ein vertrauter Mitstudent, entwickelte mir dann die Fotos.