Wanderjahre II: 1960 Westeuropa
Nachdem die BRD-Tour 1959 gut geklappt hatte, bereitete ich meine Westeuropa-Tour vor. Zuerst belegte ich fakultativ Italienisch und Französisch, denn Englisch konnte ich leidlich von der Oberschule. Im Frühjahr 1960 besorgte ich mir wieder vom Patenonkel Kurt die Einladung und reservierte mir bei der ARTU in Westberlin den Hinflug von Tempelhof nach Hannover für den 9. Juni und den Rückflug für den 2. September 1960.
Ich wollte sofort nach Pfingsten ̶ zu Semesterferienbeginn ̶ los und möglichst lange ̶ bis Ferienende ̶ bleiben. Das fiel nicht auf, denn in Dresden war man der Meinung, ich wäre zu Hause, und zu Hause, ich wäre am Studienort. Meine Zeugnisse und Beleg-Testate hatte ich alle schon als Kopie im Westen deponiert, falls etwas schief gegangen wäre und ich von der TH geflogen wäre.
Wieder musste, diesmal für drei Monate, die Aktentasche gepackt werden. Zwei Hosen, zwei Paar Schuhe, Jugendherbergs-Schlafinlet, Wörterbücher, etwa 30 Filme ... Als Trampschuhe hatte ich mir extra für 30.- DM lederne Mokassins am Ku-Damm in West-Berlin gekauft. Am Mittwoch, dem August Juni, trampte ich von Mücheln zur Autobahn nach Merseburg-Günthersdorf, bis Potsdam, mit der S-Bahn nach Biesdorf zu Tante Lucie, wo ich übernachtete. Am 9. Juni flogen wir ab, in der Jugendherberge in Hannover holte ich mir den Deutschen Jugendherbergs-Ausweis, das Internationale Jugenherbergs-Verzeichnis und die obligatorischen Gutscheine für 80.- DM und übernachtete. Am nächsten Tag kam ich bis Göttingen, am 11. Juni bis Richen zum Patenonkel.
Hier blieb ich erst einmal einige Wochen: Um Reisegeld zu haben, musste ich erst einmal eine Arbeit suchen. In der Kreisstadt Dieburg beim Arbeitsamt meldete ich mich, aber die Vermittlung war schwierig. Mehrere Betriebe stellten mich nicht ein, weil sie meinten, dass ich ein Spion sei, wie sonst hatte ich über die Grenze kommen können? Erst nachdem mein Patenonkel für mich eine Bürgschaft abgab, fand ich vom 20. Juni bis 15. Juli eine Anstellung in einem Straßenbaubetrieb, im Landwirtschaftwegebau. Meine Aufgabe war es, wochenlang angefahrenen Grobschotter mit dem Hammer zu zerkleinern und als Packlage zu setzen, worauf dann Schotter oder Bitumen kam. Die Arbeit war nicht allzu schwer, aber in der Sommerhitze im Freien doch anstrengend. Die Baustelle lag etwa 5 km weg, bei Kleestadt, ich fuhr mit einem alten Fahrrad hin, das ich mir zurechtgemacht hatte. Insgesamt bekam ich ca. 300 DM ausgezahlt.
Nebenbei half ich noch dem Onkel beim Umbau einer alten Scheune und beim Einbau einer Garage. Zwischendurch besuchte ich Darmstadt, holte mir am 9. Juli in Frankfurt den Internationalen Jugendherbergs-Ausweis, bestellte beim Landratsamt Dieburg meinen BRD-Reisepaß, tauschte ihn gegen meinen DDR-Personalausweis um und war nun Bürger aus Dieburg. Dann machte ich mir einen Reise- und einen Finanzierungsplan und tauschte am 15. Juli einige französische und schweizer Franken, sowie österreichische Schilling und italienische Lire als Startgeld ein. Am 16. Juli schloss ich noch eine Reisegepäck-Versicherung ab, und dann stand ich in Darmstadt an der Autobahn gen Süden.
Mit dem Patenonkel hatte ich abgesprochen, dass ich etwa wöchentlich eine Karte schicke und er dann verklauselt schriftliche Nachricht an meine Eltern weitergibt. Am ersten Tage kam ich bis über die französische Grenze, nach Straßburg zum Münster. Am 1. Juli erreichte ich durch die Vogesen Besancon. Durch die französische Jura kam ich bei Genf in die Schweiz, am Genfer See entlang bis Lausanne und übernachtete in Orb, in der Nahe der Nestle-Werke. Am Neuburger und Bieler See entlang ging es am 19. Juli nach Bern und bis Faulensee am Thuner See bei Interlaken. Hier bekam ich meinen ersten Gruß aus der Heimat: Mitten in den tiefsten Alpen erscholl abends aus dem Radio die Stimme von Walter Ulbricht, unserem Staatsratsvorsitzenden aus Ostberlin.
Am nächsten Morgen hatte ich das Glück, dass mich ein PKW mitnahm, am Brienzer See entlang, hoch zum Grimselpaß, zum Rhone-Gletscher. Er war ehemaliger Dresdener, und sein Bruder war Polizist und bewachte den Störsender in Wilsdruff, den wir kannten, weil er uns in Dresden immer den RIAS störte. Ich sollte ihm nach meiner Rückkehr schöne Grüße vom Bruder bestellen! Ich habe das dann später in Dresden getan, aber schriftlich mit einer Deckadresse.
Vom Grimselpass ging es erst runter nach Gletsch an der Rhone, und dann sah man schon oben die Abbruchkante des Rhone-Gletschers. Auf dem Gletscher waren viele Risse, aber im Gletscher hatte man ins Eis einen Gang gebohrt, man konnte also im Eis laufen, das hellblau-grüne Licht war beeindruckend...
Viele Jahre später, nach der Wende, bin ich 1991 mit meiner späteren Frau Christel mit meinem 16 Jahre alten Wartburg noch einmal hoch zum Gletscher gekommen, aber mit einiger Mühe: Bei der Fahrt zum Furka-Pass wollten wir ein paar Panorama-Fotos machen und hielten auf halber Höhe an. Dabei muss wohl beim überhitzten Motor das Benzin aus dem Vergaser verdampft sein, denn der Motor sprang nicht wieder an. Nach langem Probieren gab ich es auf, rollte rückwärts im Leerlauf bis in die nächste Spitzkehre, damit ich wenden und ins Tal rollen konnte. Doch dann ein letzter Versuch, Freilauf gesperrt und gerollt, und plötzlich sprang der Motor an. In der nächsten Spitzkehre wieder gewendet und hinauf zum Gletscher. Aber dann kam die Abfahrt vom Grimsel-Pass ins Tal: der 2-Takt-Motor bremst nicht, und die Bremsflüssigkeit kochte bald, so dass ich vor jeder Kehre erst 10mal durchtreten musste, ehe etwas Bremswirkung entstand. Nachdem das alles mit Glück überstanden war, aßen wir in einer Gaststätte am romantischen Kaisersee zu Abend und kamen auf die Idee, doch hierzu übernachten. Als wir jedoch die Preise sahen, sind wir lieber losgefahren, die Nacht durch ohne Vignette über die Autobahn, bis wir in unserem Quartier in Steißlingen bei Singen ankamen ...
Zurück zum 20. Juli 1960: Den Furkapass hinunter nach Andermatt, am Gotthard-Tunnel vorbei ging es dann am Vierwaldstätter, Zuger und Züricher See vorbei nach Zürich. Am 21. Juli trampte ich über Winterthur bis Sankt Gallen, weil dort mein Cousin Herbert Dipner wohnte und in einer Gärtnerei arbeitete. Herbert war der Sohn von meiner Tante Gertrud, die schon seit 1947 im Gefängnis saß, weil sie im Dritten Reich zeitweilig Aufseherin im KZ Ravensbrück war und wegen eines juristischen Fehlurteiles lebenslänglich bekommen hatte. Auch deshalb war Herbert schon in den 1950er-Jahren ausgewandert. Ich hatte aber mit ihm seit meiner frühen Kindheit in Naumburg keinen Kontakt, denn als ich Säugling war, war er schon bei der Hitlerjugend. Nur ein Foto aller Cousins und Cousinen mit unseren Naumburger Großeltern hatte ich in Erinnerung.
In St. Gallen ging ich daher zur Post, suchte mir aus dem Adressbuch alle etwa 20 Gärtnereien heraus, kaufte mir Telefonmarken und begann alle Gärtner durchzutelefonieren. Etwa der 10. wusste dann, dass beim 11. ein Herbert Dipner arbeitete, und damit hatte ich die Spur und überraschte Herbert am Nachmittag am Frühbeet. Ich blieb den Tag noch in St. Gallen und sah mir noch ein Viadukt an. Herbert habe ich dann einige Jahre später wieder in Erfurt getroffen, als ich ein Cousin- und Cousinentreffen organisierte, und dann bin ich anlässlich seines 60. Geburtstages 1987 offiziell zum Verwandtenbesuch zu ihm nach Muttenz-Basel gefahren ...
Am 22. Juli erreichte ich am Bodensee vorbei durch Allgäu München, besuchte kurz Werner Schladebach, einen ehemaligen Zimmergenossen aus unserem Dresdner Studentenheim. Am 23. Juli kam ich bis Wien ins Jugend-Gästehaus. Hier brauchte ich den ganzen Tag, um die Sehenswürdigkeiten wie Oper, Kärntner Straße, Burggarten, Hofburg, Kohlmarkt, Stadtpark usw. zu besichtigen. Dann ging es zum Stephansdom, dem „Steffel“. Als ich zur Tür hineinwollte, kam mir mein Mitstudent Roland Schinko aus meinem Semester entgegen: Er hatte eine offizielle Ferienreise zu seiner Oma nach Wien bekommen, das wusste ich zwar, hatte aber nie erwartet, ihn hier zu treffen. Da musste ich ihm die Wahrheit beichten und auf seine Verschwiegenheit hoffen. Später wieder in Dresden haben wir uns dann bei den Vorlesungen nur angelächelt ... Nach der Turmbesteigung überquerte ich die „Donau so grau“ und fuhr im Prater eine obligatorische Runde mit dem Riesenrad, anschließend war ich noch im Schloss Schonbrunn und abends im Weindorf Grinzing bei einer Flasche Heurigem. Am 21. Juli gings dann weiter nach Süden, durch die Alpen an der Mürz und Mur entlang bis Unzmarkt bei Judenburg. Am 22. Juli erreichte ich in Klagenfurt den Wörthersee und anschließend Villach.
Am 23. Juli überquerte ich die italienische Grenze, war am Morgen in Udine und am Vormittag vor Venedig. Von Mestre auf dem Festland kam ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Lagunenstadt mit Canale Grande, Rialto-Brücke, Markusplatz, Löwe, Dogenpalast und stieg auf den Campanile. Dann gings mit dem Motorboot zum Lido, wo ich bei 35 Grad in der Adria ein Bad nahm. Mit dem Motorboot ging es zurück durch den Canale Grande, und mit dem Bus wieder über den Damm nach Mestre. Von hier trampte ich durch die italienischen Allee-Straßen in der Po-Ebene nach Padua und Ferrara. Ich erlebte hier morgens ein schweres südländisches Gewitter, erreichte dann Bologna mit Dom und Neptunbrunnen, anschließend den bekannten Badeort Rimini an der Adria. Es war noch Zeit, hinauf in den Zwergstaat San Marino zu fahren, wo ich den traditionellen Muskateller-Wein probierte. Dann übernachtete ich unten in Rimini. Am 29. Juli nahm ich erst einmal noch früh ein Bad in der Adria, und dann ging es durch die Apenninen weiter nach Süden. Es ging nur mühsam voran, obwohl die Italiener sehr tramperfreundlich waren und selbst bei vollem Auto noch anhielten, damit man sich mit reinquetschte. Endlich nahm mich noch ein Priester mit, der nach Assisi wollte und mich zum Übernachten einlud. Aber ich hatte etwas Schauer vor den schwarzgekleideten Mönchen und zog es lieber vor, die nächste Jugendherberge in Foligno aufzusuchen. Aber gegen Abend nahm mich niemand mehr mit, so dass ich die letzten Kilometer mit dem Zug fahren musste und gegen 22 Uhr am Bahnhof ankam.
Dort bot sich mir ein Jugendlicher als Lotse an, der mich zur Jugendherberge führen wollte und nicht abweisen ließ. Erst ging es durch die ganze Stadt, dann durch den Vorort, zum Schluss in stockdunkler Nacht durch eine etwa 500 m lange Zypressenallee, immer schweigsam, denn er konnte nicht deutsch und ich nicht italienisch. Ich hatte jeden Augenblick das Gefühl, er schlägt zu. Aber er war ganz freundlich, endlich kamen wir an der Herberge an, und auf das Klopfen hin wurde geöffnet. Ein einziger Gast war noch da, ein Deutscher, der froh war, nun nicht mehr alleine zu sein. Am 30. Juli früh im Sonnenschein sah die Zypressenallee dann ganz romantisch aus. Um nicht wieder Zeit zu verlieren, nahm ich den Zug bis Rom und konnte daher bald die Stadtbesichtigung beginnen: Wie gewohnt zuerst zum Informationszentrum, damit man kostenlos einen Stadtplan bekam und die Wanderroute durch die Stadt wählen konnte: Colosseum Forum Romanum, Piazzo Venezio und die Via Appia antika, die ich noch aus meinem Latein-Lehrbuch der Oberschule in Erinnerung hatte. Etwa 10 km bin ich sie Richtung Süden gelaufen, dann trampte ich weiter auf der Autostrada del Sole nach Süden.
Gegen Abend musste ich wieder den Zug bis Neapel nehmen, wo ich nachts dann ankam. Eine Jugendherberge suchte ich gar nicht erst noch auf, sondern legte mich wie so viele andere auch einfach auf den Marmorfußboden und versuchte halbwach etwas zu schlafen, immer das Gepäck in Tuchfühlung. Mit dem ersten Morgenzug fuhr ich am 31. Juli gleich weiter bis Pompei und kam im Morgengrauen an. Der Vesuv schien ganz nahe, also lief ich ca. 6.30 Uhr los, mit der schweren Aktentasche und dem gesamten Gepäck, erst durch allmählich ansteigendes Land mit Weinfeldern, aber der Berg kam nicht naher. Um 10 Uhr waren schon etwa 32 Grad, 11 Uhr etwa 35 Grad, und noch war der Fuß des Kegels nicht erreicht. Dafür standen aber am Wege Schilder „Vor Straßenräubern wird gewarnt“. Dann begann der mühsame Aufstieg zum Gipfel, durch Lava-Asche. Endlich gegen 12 Uhr, bei ca. 40 Grad, war ich oben am Kraterrand, halb verdurstet. Die normalen Touristen fahren mit Bussen und Seilbahn hoch. Und plötzlich sah ich eine Fata Morgana: einen Cola-Verkäufer. Für ca. 2.- DM habe ich mir dann eine Cola geleistet und jeden Tropfen genossen. Dann kam der Abstieg, das ging schneller, außerdem wusste ich, wo unten in den Weinfeldern ein Brunnen war. Den erreichte ich mit Mühe und Not und trank mich bis zum Überlaufen voll. Anschließend besuchte ich die Ruinen von Pompei und fuhr nach Neapel, wo ich am Nachmittag noch die Stadt besichtigte, mit Dom, Garibaldi-Denkmal, Hafen, Kastei Nuova und Molo Razza und dann erschöpft übernachtete.
Am 1. August ging es dann wieder nach Norden, an der Mittelmeerküste entlang nach Rom. Am 2. August erfolgte dann der 2. Stadtrundgang, mit Via Nazionale, Trajan-Säule, Piazza Venezia, Pantheon, Spanischem Platz und Olympia-Gelände, denn 1960 war in Rom Sommer-Olympiade. Dann an der Engelsburg vorbei, über den Tiber zum Vatikan und hinauf auf den Petersdom. Am Abend verließ ich dann Rom und kam an der Mittelmeerküste entlang noch bis Civitavecchia, dann musste ich den Zug bis zur Jugendherberge Albinia nehmen. Am 3. August kam ich in Pisa am Arno an, besichtigte den schiefen Turm auf dem Piazza dei miracoli und fuhr abends noch mit dem Zug nach Florenz. Die Jugendherberge war eine feudale Villa mit Marmorbadern, oben über der Stadt. Am 4. August besichtigte ich die Stadt, den Dom, die Ponte Vecchio/ Kramerbrücke und die Uffizien mit Caesar-Büste, Adam und Eva u.v.a. mehr. Abends verließ ich Florenz und trampte über Bologna nach Parma. Am 5. August nahm ich den Zug bis Milano/ Mailand, um den berühmten Dom und in der Kirche Santa Maria della crazie das Abendmahl von Leonardo da Vinci zu besichtigen. Dann trampte ich weiter, kam bis Tortona und nahm bis Genua den Zug. Die Jugendherberge war eine ehemalige Burg. Nach der Besichtigung von Stadt und Hafen am 6. August nahm ich lieber den Zug, da es sich entlang der Alpensteilküste der Riviera schlecht trampen ließ und der Zug schöne Ausblicke auf Meer und Küste bot. In Monte Carlo/ Monaco machte ich Halt, um Villen und Casino der Schönen und Reichen zu sehen und am Strand ein Bad zu nehmen. Abends fuhr ich mit dem Zug bis Nizza, wo gerade Blumenfest war. Daher war die Jugendherberge überfüllt, und ich musste auf dem Betonfußboden schlafen. Ich wachte daher wie gerädert auf und machte mich beim Stadtrundgang wieder gelenkig: Russische Kirche Zarewitsch und Promenade des Anglais.
Dann kam ich nach Cannes, wo der Jachthafen war und die nächsten Schönen und Reichen flanierten und an der Cote D'Azur badeten. Bei Frejus sah ich dann die Verwüstung, die die gebrochene Talsperre im Dezember 1959 gebracht hatte. Wir hatten das in Dresden im Wasserbau erfahren. Nun war ich in Frankreich, die Franzosen sind nicht sonderlich tramperfreundlich, so dass ich am Abend dann wieder den Zug nach Marseille nehmen musste, nachts ankam und auf dem Bahnhof schlafen musste. Wieder völlig übernächtigt besichtigte ich die Stadt, stieg vom Hafen aus hoch auf den Berg zur Kirche Notre Dame de la Garde und nahm anschließend den Zug nach Avignon. Hier besichtigte ich Dom und Palais des Papes und ging zur besungenen Brücke von Avignon, an die Rhone. Dann trampte ich noch rhoneaufwärts bis zur nächsten Jugendherberge in Valence und wollte mich endlich mal wieder richtig ausschlafen. Aber da war eine Jugendgruppe, die bis spät in die Nacht hinein feierte, noch heute höre ich ein Mädchen immer „Michelle“ rufen. Außerdem hatte ich in Frankreich mit einem Problem zu kämpfen: Die französischen Toiletten sind Steh-Klos, damit kam ich überhaupt nicht zurecht und rechnete schon mit Verstopfung. Am 9. August, kaum in Lyon angekommen, leistete ich mir daher eine öffentliche Toilette, die zwar Geld kostete, aber das gewohnte Sitz-WC hatte. Erst dann konnte der Stadtrundgang beginnen, mit Abschied von der Rhone, denn nun gings die Saone aufwärts. Weit kam ich aber wieder nicht, dann musste ich den Zug bis Chalon-Sur-Saone nehmen, wo ich übernachtete. Am 10. August trampte ich bis Fontainebleau an der Seine, und am 11. August besichtigte ich erst dieses berühmte Schloss, anschließend in Versailles das des Sonnenkönigs Ludwig der XIV., den Spiegelsaal und den Park. Danach fuhr ich mit dem Bus nach Paris und suchte das Maison d'unesco, die Jugendherberge.
In Paris wollte ich mehrere Tage bleiben, denn diese Stadt kann man nur zu Fuß kennen lernen, wobei man einige Strecken mit der Metro fahren kann. Dazu kauft man sich das Camet, das sind zehn Fahrscheine. Am 11. August besichtigte ich die Oper, das berühmte Cafe de la Paix, die Kirche Madeleine, Palais Elysee/ Sitz des Präsidenten, die Champs Elysees mit Place de la Concorde, die Seine mit dem Basar und den Malern, die Insel mit Notre Dame. Am Abend dann, als die Leuchtreklamen an waren, gings zum Place Pigalle mit Moulin Rouge. Hier wollte ich mir in Ruhe einen halben Broiler gönnen, aber kaum saß ich da, kam schon der erste Penner und fragte mich, ob ich mit ihm schlafen wollte. Am 12. August besuchte ich den Invalidendom und den Eiffelturm. Aber hier saß ich nun und bekam allmählich ein Problem: Von den vielen Fußmärschen waren inzwischen die Schuhsohlen an den Spitzen durchgelaufen, auch bereits die Strümpfe, und schon hatte ich auch einen großen Zeh aufgestoßen. Von nun an musste ich immer Pflaster um die großen Zehen wickeln, denn das waren meine einzigen mitgenommenen Schuhe. Außerdem war ich nur mit der schwarz gefärbten Popelinehose losgetrampt, hatte immer meinen Sakko an, aber durch Regen, Sonne und Wind war nun die Hose da ausgeblichen, wo der Sakko nicht hinreichte. Von nun an konnte ich daher auch das Sakko nicht mehr ausziehen, und so stand ich, egal bei welcher Sonnenhitze, immer mit Sakko an der Straße und musste immer die Schuhe hinter meiner Aktentasche verbergen, damit ich noch seriös genug aussah und mitgenommen wurde.
Auf den Eiffelturm wollte ich noch nicht, sondern erst noch die Stadt erlaufen, daher wanderte ich nach Westen zum Bois de Boulogne, einem Park, und nach Neuilly, wo eine große Schalenhalle aus Stahlbeton, mit 200 m Spannweiten, stand, wie wir in Dresden gelernt hatten. Auf dem kilometerlangen Rückweg kam dann der Arc de Triomphe, von dem man einen schönen Blick über die Stadt hatte, mit dem Grab des unbekannten Soldaten. Dann die Champs entlang, an der Pont Alexander III vorbei bis zu den Tuileries mit dem Louvre. Am 13. August gings dann früh in die Hallen, den „Bauch von Paris“, und anschließend zum Montmartre mit Sacre Coeur. Es war Bilderbuchwetter, hier wurde auch gerade gefilmt, und der Panoramablick war großartig. Danach gings zum Eiffelturm und diesmal hinauf bis auf die oberste Plattform mit Panoramablick und -foto, anschließend zur Insel, in und auf Notre Dame, danach an der Seine entlang, zum Jardin de Luxembourg und zur Uni Sorbonne. Am 14. August besuchte ich den Friedhof Cimetiere, wo die Grabstätten der bekannten Franzosen wie Balsac, La Fontaine, Moliere, Chopin, De Musset u.a. sind. Nach dem Place Bastille besichtigte ich das Pantheon und anschließend den Louvre mit Venus von Milo, Mona Lisa u.a. Danach noch ein Besuch des Marche aux puces, des Flohmarktes. Damit war Paris im Wesentlichen erlaufen.
Am 15. August stand ich früh in Paris Nord, eine englische Familie nahm mich mit, mittags waren wir schon in Calais auf der Fähre, setzten über nach Dover, und abends war ich in London_ an der U-Bahn-Station Waterloo. Hier wurde ich sofort von Deutschen informiert, wo die Jugendherberge war und dass man mit deutschen 2-Pfennigstücken die Londoner U-Bahn-Fahrkarten-Automaten überlisten kann. Aber leider hatte ich davon nicht viele mit. Am 16. August begann der Stadtrundgang, zur Royal Festival Hall, zum Hafen an der Themse, über die Tower-Bridge zum Tower, in die City mit der Bank of England, der Royal Exchange, der St. Pauls Cathedral, der University of London, dem Britischen Museum. In der Uni wollte ich auf den Aussichtsturm, aber der Portier sah meine Sachen und schmiss mich raus. So zog ich weiter zum Piccadilly Circus, zum Trafalgar Square, zu Scotland Yard und zum Parlament mit Big Ben, besichtigte die Westminster Abbey und den Buckingham Palace.
Danach hörte ich mir die Redner im Hyde-Park an, auch die Heilsarmee war da. Am 1. Juli August trampte ich nach Oxford zur Universität und weiter nach Stratford upon Avon zu Shakespeare, zu Hamlet mit „Sein oder Nichtsein“. In Coventry besichtigte ich die Ruine der Kathedrale. Coventry ist die Partnerstadt von Dresden und im 2. Weltkrieg zerstört worden. Hier wollte mich ein Engländer mit bis Edinburgh in Schottland nehmen, aber Geld und Zeit waren knapp, und so musste ich leider absagen, übernachtete in Leamington und trampte zurück nach Dover, verbrachte die Nacht im Hafen und fuhr am 19. August mit der Fähre über den Kanal nach Ostende in Belgien. Über die Universitätsstadt Gent erreichte ich Brüssel, den Markt mit dem Hotel de Ville, dem Manneken Pis, dem Palais Royal und dem Weltausstellungsgelände mit dem Atomium. In den Röhren konnte man bis zur obersten Kugel aufsteigen.
Am 20. August verließ ich Belgien und kam nach Rotterdam, der größten holländischen Hafenstadt. In diesem Jahre fand die Floriade statt, alles war mit Blumen geschmückt. Maas-Hafen, Rijn-Hafen und Nieuve Maas waren gewaltige Wasserbecken. Der Bug und das Denkmal für die zerstörte Stadt erinnerten an den 2. Weltkrieg, „Monsier Jaques“ an den typischen Holländer. In Amsterdam übernachtete ich. Am 21. August besichtigte ich die Stadt, das Rembrandt-Haus, die Wale = Kanäle und Flusslaufe, den Dam mit dem Kriegerdenkmal und dem Schloss. Dann verließ ich Holland und kam rheinaufwärts bis Gelsenkirchen. Am 22. August trampte ich nach Düsseldorf und anschließend nach Solingen. Durch das Ruhrgebiet kam ich nur mit den öffentlichen Verkehrsmitteln voran, weil dort Stadt an Stadt lag. Am 23. August fuhr ich nach Hagen, weil ich glaubte, dort Tante Lucies ältesten Stief-Sohn Fritz Haase zu finden, den ich seinerzeit in Berlin 1947 kennen gelernt hatte. Er wohnte jedoch in Halfers, so dass die Suche vergeblich war. So fuhr ich weiter bis Wuppertal. Am 24. August besichtigte ich die Wuppertaler Schwebebahn und gelangte über den Rhein bei Duisburg nach Krefeld-Fischeln, wo ich meinen Patenonkel Harry Rath besuchte. Den hatte ich ja seit meiner Konfirmation 1952 nicht mehr gesehen. Er hätte mir ja am liebsten neue Schuhe gekauft, aber ich hatte meinen Stolz und wollte mit den Schuhen bis zum Etappenziel Richen kommen.
Am 25. August trampte ich daher weiter nach Aachen, zum Dom und zur Technischen Hochschule, an der jetzt Jochen Westphal, ein ehemaliger Mitstudent aus unserer Seminargruppe, studierte und den ich kurz besuchte. Am 26. August ging es durch die Eifel über Monschau nach Trier mit Porta Nigra, Dom, Kurfürstlichem Palais und Geburtshaus von Karl Marx. Am 27. August machte ich noch einen Tagesausflug nach Luxemburg. Mit Sicherheit bin ich damals auch in Zewen an Helmut Grolles Tankstelle vorbeigekommen, konnte aber nicht ahnen, dass das vier Jahre später meine angeheiratete Verwandtschaft werden sollte. In Wasserbillig am Westwall ging es über die Sauer und die Grenze. In Luxemburg gab es viele Viadukte zusehen, insbesondere aber Radio Luxemburg, unseren Sender in Dresden im Studentenheim. Abends trampte ich wieder zurück nach Trier. Am 28. August gönnte ich mir eine Fahrt mit der Moselbahn, die nun inzwischen nicht mehr existiert. Zuerst fuhr ich bis Bernkastel-Kues, unterbrach die Fahrt, um mir den bekannten Weinort anzusehen. Dann fuhr ich das restliche Stück mit der Bahn bis Bullay, wo sie endete. Mit der normalen Bundesbahn kam ich noch bis Koblenz/ Niederlahnstein zur Jugendherberge. Am Abend erlebte ich dort den „Rhein in Flammen“, ein Feuerwerk. Am 29. August ließ ich die anstrengende Tramptour ausklingen mit einer Dampferfahrt auf dem Rhein, von Niederlahnstein bis Rüdesheim, vorbei an Burgen wie Stolzenfels, Maus, Katz, an St. Goar, an der Loreley, der Pfalz bei Kaub, Rheinstein, Ehrenstein und dem Mäuseturm bei Bingen. In Rüdesheim fuhr ich mit der Seilbahn hoch zum Niederwalddenkmai. Anschließend trampte ich wieder nach Riehen.
Die nächsten Tage brauchte ich erst einmal, um mich etwas zu erholen. Endlich konnte ich auch die Wechselsachen anziehen, insbesondere die anderen Schuhe. Die Mokassins wurden eingepackt als Souvenir, ich habe sie ̶ desinfiziert ̶ noch heute. Es lag auch eine Nachricht da: Der Rückflug war auf den 2. September 20 Uhr verlegt worden. Am Landratsamt in Dieburg gab ich meinen Reisepass ab und bekam dafür meinen Personalausweis zurück und war wieder DDR-Bürger.
Als ich mich vom Patenonkel verabschiedete, ahnte ich nicht, dass das nächste Wiedersehen erst nach 27 Jahren stattfinden sollte: Als im Jahr 1987 Cousin Herbert 60 Jahre alt wurde, durfte ich ihn offiziell in Muttenz-Basel besuchen, und die Rückfahrt nutzte ich, um Gottfried Salaga, meinen Oberschulfreund, in Karlsruhe zu besuchen. Gemeinsam sind wir dann nach Krumbach zu Dieter Bunk, den anderen Oberschulfreund, gefahren. Danach habe ich noch schnell einen Abstecher nach Trier-Zewen zu Helmut und Hilde Grolle gemacht, und am 70. Geburtstag von Patenonkel Kurt Reinicke erschien ich dann überraschend bei ihm zur Feier. Das sollte unser letztes Treffen sein. Denn ein Jahr später musste ich ihn gegenüber der Volkspolizei zu meinem leiblichen Onkel erklären, damit ich zu seiner Beerdigung fahren durfte. Und Trier-Zewen habe ich auch erst wieder in diesem Jahre gesehen, da ich nach der Beerdigung noch mal schnell hingefahren bin. Da konnte ich aber auch nicht ahnen, dass ich am 11. Novemer 1989 mit dem Wartburg und der ganzen Familie nach dem Fall der Mauer hinfahren sollte, um bei dieser Gelegenheit auch das Begrüßungsgeld zum 2. Male abzuholen ...
In der Nacht vom 1. zum 2. September fuhr ich mit dem Zug von Groß-Umstadt bis Hannover, am Abend dann der Rückflug nach Berlin-Tempelhof, das Passieren der Sektorengrenze mit der S-Bahn und die Übernachtung in Biesdorf. Am Samstag, dem 3. September dann noch mal mit der S-Bahn durch den Westsektor nach Potsdam über die Sektoren- und über die DDR-Grenze ohne Probleme, mit dem Bus nach Michendorf zur Autobahn-Raststätte und dann getrampt bis Halle, mit der Straßenbahn bis Merseburg und mit dem Bus bis Mücheln. Die Wiedersehensfreude war groß. Aber viel Zeit blieb nicht. Am Montag fuhr ich wieder nach Dresden, es war Semesterbeginn. Ich war völlig abgezehrt und voller Eindrücke, und musste lernen zu schweigen, ohne zu platzen. Hinter mir lag eine Reise von über 10.000 km, davon mehrere 100 km mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch mehrere km per pedes.
Hans-Günther Doppelmann aus meinem Semester wurde wieder eingeweiht und hatte eine sichere Adresse: Ein Fotograf in Halberstadt entwickelte die ca. 1000 Fotos. Im nächsten Jahre, 1961, wollte ich dann eigentlich von Hamburg mit einem Schiff als „Heizer“ über die Sommer-Semesterferien nach Amerika schippern, aber dann kamen mir doch Bedenken, dass die Zeit dazu nicht reichen würde und dass auch das Diplom gemacht werden müsste. Deshalb verschob ich das Vorhaben, doch da kam der 13. August 1961 mit dem Mauerbau ...
Übrigens habe ich dann später bei „Erfahrungsaustauschen" ähnliche Vorhaben anderer Kommilitonen gehört: Der o.g. Hans-Günther Doppelmann hat auf gleiche Weise mit seiner Freundin 1960 die Verlobungsreise nach Venedig gemacht. Der leider zu früh (1997) verstorbene Gisbert Rother ist 1961 zusammen mit Horst Haker über Hannover, Österreich, Jugoslawien, Griechenland, Türkei, Persien bis Indien getrampt, hat dort auf einer Baustelle einer deutschen Firma gearbeitet, da kam der 13. August. Er hat sein sauer verdientes Geld genommen, einen Flug über Moskau nach Berlin-Schönefeld gebucht, ist in Schönefeld mit dem Reisepass der BRD durch die Kontrolle, als wollte er in den Transitbus nach Westberlin einsteigen, ist aber nach Hause nach Schönebeck gefahren, hat seinen Pass per Post in die BRD geschickt, ihn gegen seinen Personalausweis zurücktauschen und per Post zuschicken lassen. Dann war er wieder DDR-Bürger ...