Wir fahren nicht nach drüben, wir fahren in die Rüben!
Es begab sich etwa zu der Zeit, als der erste Sputnik sein „Piep - piep – piep ...“ aus dem Kosmos auf die Erde sandte. Dieses Ereignis wurde weltweit in Schlagzeilen kommentiert. Es war so bedeutend, dass ein in der DDR beliebtes Straßenfahrzeug den Namen, ins Deutsche übertragen, entlieh und dass sogar die berühmt-berüchtigten Wirtinnen-Verse um mindestens einen mit dem Ausdruck „Satelliten“ reicher wurden.
Später Herbst – im Norden der DDR hatten viele Bauern ihre Höfe verlassen und waren in den Westen gegangen. Die Kartoffelernte war gefährdet, die Rüben steckten natürlich auch noch im Boden. Also: Studenten an die Basis der Ernährungswirtschaft! Ende Oktober schließlich hieß es auch für die Diplomanden der TU Dresden – Maschinenbauer, Architekten, Elektriker und was es da alles noch gab – ran an die Kartoffeln.
So mitten aus der ersten wissenschaftlichen Tätigkeit gerissen, hielt sich unsere Begeisterung in Grenzen. Doch wir hatten immer wieder gelernt: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit ...“. Die Notwendigkeit der Sicherung unserer Ernährung einsehend, waren wir gewissermaßen frei und nahmen das Kommende gelassen, nicht ohne Humor.
Einige Kommilitonen meinten offenbar, dass eine solche Zugfahrt gen Norden nicht ohne die passenden Parolen ablaufen könne. Woher die viele Kreide kam, ist mir bis heute noch nicht ganz klar. Jedenfalls zierten bereits in Riesa die ersten Losungen die Wagenwände. Bei der Einfahrt in Halle gab es in unserem Bereich, soweit sichtbar, keinen Wagen mehr ohne schmückende Zeichnungen und Sprüche. Einige sind mir im Gedächtnis geblieben: „Wir fahren nicht nach drüben, wir fahren in die Rüben“ (wobei das Wort „drüben“ so oder so in der DDR eine besondere Bedeutung hatte). Oder:
„Jede Rübe ein Meilenstein auf dem Weg zum Sozialismus!“ (verziert durch eine Skizze unseres Semesterzeichners: z. B. einen Straßenmeilenstein mit einem darauf hockenden Rabenvogel inmitten von Rüben).
Die Sprüche – eine Mischung von Humor und etwas abgelassenem Frust. Aber irgendwer fand immer etwas Gefährdendes. In Halle angekommen, sollte es wegen Maschinenwechsels zwanzig Minuten Aufenthalt geben. So jedenfalls verkündete es der Bahnhofslautsprecher. Trägerkolonnen wurden bestimmt, aus der Gastwirtschaft Getränke heranzuschaffen. Sie waren noch nicht lange verschwunden, da gab es plötzlich helle Aufregung. Der „Rotmützige“ verkündete nach Trillerpfeifensignal, dass alle sofort einzusteigen hätten, der Zug würde augenblicklich den Bahnhof verlassen.
Jedoch – da hatte der „Rotmützige“ nicht mit dem Solidaritätsgefühl der Studenten gerechnet. Die noch im Zug verbliebenen Kommilitonen stiegen aus und bekundeten, nicht eher wieder einzusteigen, bis der letzte Mitstreiter mit den Getränken wieder am Zug sei. Und die Studenten blieben hartnäckig. Irgendwann waren dann alle „Transportkolonnen“ wieder am Zug. Der Bahn-Verantwortliche war sichtlich erleichtert, als er das Abfahrtssignal erteilen konnte. Wir machten es uns mit Essen und Trinken wieder in den Wagen bequem. So ging es fröhlich und ohne Aufenthalt bis nach Wittenberge. Dort wurde der Zug jedoch auf ein Nebengleis außerhalb des Bahnhofs geleitet.
Rechts und links des Zuges standen Bahnpolizisten in voller Montur Spalier. Das Öffnen der Abteiltüren wurde untersagt, gegenteilige Versuche mit Tritten gegen die Tür beantwortet. Mit Wasser und Lappen wurden die Wagen abgewaschen. Fragen vorwitziger Studenten blieben zunächst unbeantwortet.
Nun fassten sich zwei der Studenten – Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands – den Mut, stiegen aus und fragten die Polizisten nach dem Sinn der Aktion. Als die Uniformierten merkten, dass sich keine extrem gefährlichen Menschen, im Gegenteil: sogar Genossen, im Zug befanden, wurden sie etwas zugänglicher. Wir erfuhren, dass die Bahnpolizisten vom Sonntags-Nachmittags-Kaffee weg in Alarmbereitschaft versetzt worden waren. Ein Zug mit konterrevolutionären Losungen und mit dem Ziel, die DDR „aufzurollen“, sollte gestoppt werden. Nachdem sich allerseits die Aufregung gelegt hatte, trat die Bereitschaftseinheit auf der rechten Seite des frisch gewaschenen Zuges an. Die Weiterfahrt wurde freigegeben. Keiner von den Befehlshabern der Bereitschaftseinheit hatte aber mitbekommen, dass an unserem Wagen auf der linken Seite neu mit großen Buchstaben verkündet wurde: „Trotz des Wassers und der Lappen werden wir die Rüben schnappen!“
So fuhr der Sonderzug weiter gen Norden. Wir leisteten dann unseren Beitrag zur Sicherung der Ernährung für die DDR-Bevölkerung.