Das Jahr 1962 aus studentischer Sicht
1962 brach unser letztes Studienjahr an.
Zwar ließ es sich mit 190 Mark Grund- und 40 Mark Leistungsstipendium ordentlich leben, aber für zusätzliche Hobbies (Motorrad, Ferienreisen, Ausgehen) konnte man immer etwas zusätzliches Geld gebrauchen. So begann ich die vorlesungsfreie Zeit am Jahresanfang mit Arbeiten bei einem Klempnermeister, was 300 Mark in die Kasse spülte. Bei 82 Arbeitstunden ein achtbares Ergebnis. Allerdings musste ich ganz schön schnell sein, um auf diesen Verdienst zu kommen. 2900 Zubehörteile für Rauchgasleitungen waren zu fertigen. Ein REFA-Ingenieur (REFA =Reichsausschuss für Arbeitszeitvermittlung, eine Organisation der Bundesrepublik Deutschland, in der DDR gründete man später, 1974 als adäquate Einrichtung die WAO ̶ Wissenschaftliche Arbeitsorganisation), von deren Existenz ich damals noch nichts wusste; denn REFA war in der DDR verpönt, hätte seine helle Freude an meiner Arbeitsintensität gehabt.
Unter dem 10. Januar ist vermerkt „Dr. Vandersee wird 60 und gibt einen aus.“ Er war der Chef des Fachbereiches Flugzeugfertigung und damit auch für uns zuständig. Ein gemütlicher älterer Herr aus der alten Garde der deutschen Flugzeugbauer, der keinem ein Härchen krümmen konnte. Das „Ausgeben“ bezog sich auf einen Kasten Bier, vielleicht auch zwei, die unsere Seminargruppe gemeinsam mit ihm und den Institutsangehörigen in einem Labor wegschluckten. Irgendwie war`s schön und gemütlich.
Im Januar und Februar gab`s noch Prüfungen und einige Betriebsbesichtigungen: VEB Kerb-Konus, VEB Nähmaschinenteilewerk und VEB Entwicklungsbau Pirna, später in VEB Strömungsmaschinen umbenannt. Keiner dieser Betriebe existiert heute noch. Anfang März bekamen wir ̶ mein Kommilitone Heinz Peinl und ich ̶ das Thema des Großen Beleges genannt. Es ging um Klebverbindungen beim Aluminium. Eigentlich für den Flugzeugbau gedacht, sollte das Verfahren auch in anderen Bereichen angewandt, werden. Das Thema haben wir zwar gepackt, aber soweit ich später erfuhr, sind diese Kleber niemals großtechnisch zum Einsatz gekommen.
Am 5. März ist vermerkt: Mit Aloi (Spitzname meines Mitstudenten Wilfried Barghorn) auf der Leipziger Messe Prospekte fechten. Kein großer Erfolg, da wenig westdeutsche Aussteller dawaren. Voriges Jahr (1961) war der Höhepunkt. Diese Nichtteilnahme war u.a. ein Ergebnis des Mauerbaues am 13. August 1961; denn in den ersten Jahren danach wurde die DDR vom Westen in mancher Hinsicht deutlich „geschnitten“. Später gab sich das wieder, denn Geschäft ging vor Politik. Ist ja auch heute noch so.
Zwischenzeitlich unternahm ich auch einige Aktivitäten bezüglich der zukünftigen Arbeitsstelle. Eigentlich war das nicht notwendig; denn es gab eine Absolventenvermittlung bei der TU Dresden, die jedem eine seiner Ausbildung entsprechende Stelle vermittelte. Die Frage war nur, wo. Da die meisten von uns im oder in der Nähe des Heimatortes wieder arbeiten wollten (Begriffe wie Mobilität und Flexibilität waren uns völlig unbekannt), kümmerten sich viele Studenten im letzten Semester selbst. Auch diese Aktivität hätte ich eigentlich nicht nötig gehabt, denn wer von einem Betrieb zum Studium delegiert worden war (in meinem Falle der VEB Sachsenwerk Radeberg, aus dem später RAFENA (Radeberger Fernseh- und Nachrichtentechnik) und schließlich ROBOTRON wurde), konnte in jedem Falle wieder in diesen Betrieb zurück, musste aber nicht. Da mich inzwischen jedoch der (Groß-) Maschinenbau mehr interessierte als der Gerätebau, versuchte ich es beim VEB Kombinat Fortschritt Landmaschinen in Neustadt. Dort bekam ich zu hören: „Dieses Jahr Einstellungsstopp, nächstes Jahr noch ungewiss“. So blieb es erst einmal bei RAFENA.
Was hatte es mit einem Einstellungsstopp auf sich? Das erfuhr ich einige Jahre später, als ich schließlich doch noch bei „Fortschritts“ gelandet war. Wie in allen (Volks-) Wirtschaften der Welt ̶ auch gegenwärtig in Deutschland ̶ wächst die Verwaltung im allgemeinsten Sinne (oft bösartig „Wasserkopf“ genannt) seltsamerweise immer schneller als die eigentliche Produktion. In der DDR war das noch deutlicher ausgeprägt als jetzt. Dem wurde ab und zu ein Riegel vorgeschoben, indem ein Einstellungsstopp für ÜB (übrige Beschäftigte) ausgesprochen wurde, während PGA (Produktionsgrundarbeiter) und teilweise auch PHA (Produktionshilfsarbeiter) immer willkommen waren. Unter ÜB verstand man definitionsgemäß auch das ITP (Ing.-techn. Personal). Dass man sich mit so einer Maßnahme auch die Basis für eine technologische Weiterentwicklung selbst wegschlug, hat wahrscheinlich niemanden ernsthaft interessiert.
Dann ist zu lesen „Szabo – 31,50“. Was bedeutet das? Mit vieler Mühe und langer Wartezeit (Kontingentliteratur aus dem Westen) war es mir gelungen, die „Höhere technische Mechanik“ von Istvan Szabo, ein Buch, das damals sehr begehrt war, zu ergattern. Heute ist es wahrscheinlich für 31,50 Mark nicht mehr zu bekommen.
Am 7. Juni war Vorlesungsabschluss, traditionell ein Grund zum Feiern. Angezogen mit dunklem Berufskittel (sollte einen dunklen Anzug vortäuschen) und Zylinder zogen wir unter Trommelwirbel (ich war damals noch Mitglied eines Spielmannzuges des DTSB) und mit Hörnerklang (einige Mitstudenten waren im Fanfarenzug der FDJ gewesen) durch das Wohnheim und die Institute. Das Geld für ein vorgesehenes Trinkgelage wurde bei den Direktoren und Mitarbeitern der Institute „erfochten“. Dazu hatten wir den NAFOMAT (Nachformautomat) entwickelt, eine Anspielung auf Prof. Bredendick und sein Hobby, die Nachformtechnik. Es war ein stabiler großer Kasten, wo in einen Schlitz ein Geldschein einzustecken war und aus einem anderen Schlitz eine Zeichnung, Berechnung o.a. herauskam. Wie das funktionierte? In dem Kasten saß einer von uns als Operator! Der Erste, den wir um seinen Obolus ersuchten, steckte einen Fünfmarkschein hinein. Das war uns zu wenig und der Automat spuckte den Geldschein umgehend wieder aus. Mit 10 Mark oder gar erst mit 20 Mark funktionierte er dann. Damit waren die Grenzen abgesteckt. 90 Mark nahmen wir schließlich ein. Das Geld wurde in Bier umgesetzt, wovon ein Teil gemeinsam mit den Spendern im Institut hinter die Binde gegossen wurde. Der Rest wurde abends in der „Konzertklause“ (Alaunstrasse) vertrunken. Übrigens, mit 90 Mark konnte unsere Seminargruppe (zehn Mann) schon sehr vergnügt sein, denn eine kleine Flasche Bier (0,3 l) kostete damals nur 48 Pfennige und die Gaststättenpreise waren auch nicht so hoch wie heute.
Im Juni erfolgten die letzten Prüfungen, und gegen Ende des Monats fand sich die Zeit, nun endlich richtig mit dem großen Beleg zu beginnen. Mitte Juli begannen wir mit dem Einschreiben und am 31. waren wir termingemäß fertig.
Im August musste ich noch den großen „Berthold-Beleg“ fertig stellen, dafür hatte ich mir doch die Fächer Werkzeugmaschinenkonstruktion und Hydraulik freiwillig noch selbst aufgehalst. Damit war aber das 10. Semester endgültig abgeschlossen.
Um für anstehende Urlaubsreisen noch etwas zusätzliches Geld in der Tasche zu haben, verdingte ich mich noch einmal als Bauarbeiter für ein damals nicht näher definiertes Objekt im Masseneiwald bei Großröhrsdorf. Wie ich später sah, hatte ich dabei unwissentlich an der Eskalation des Kalten Krieges mitgewirkt ̶ dort war eine Raketenstellung der NVA (Nationale Volksarmee) entstanden.
Anfang September unternahmen mein Mitstudent Wilfried Barghorn und ich unsere letzte gemeinsame Radtour, diesmal nach Südthüringen. Aus Leichtsinn gerieten wir ins Sperrgebiet, wurden prompt von den Grenztruppen aufgegriffen und landeten schließlich bei der Staatssicherheit. Man vermutete wohl, dass wir „abhauen“ wollten. Irgendwie muss bei der TUD aber jemand gut über uns ausgesagt haben („bewusste Studenten, gute FDJler, freiwillige Teilnahme an Reservistenlehrgängen..."), so dass man uns wieder laufen ließ. wieder zurück in Dresden, gab‘s natürlich noch eine „Abwäsche“, musste wohl sein. Nachdem ich heute weiß, wie manchmal in solchen. Fällen verfahren wurde ̶ es hätte auch schlimmer kommen können, und das kurz vor dem Diplom!
Am 20. September holte ich mir das Thema meiner Diplomarbeit ab:
„Untersuchungen am MÜWA (Müller-Wachs)-Hohlniet“, auch ein Rudiment des Flugzeugbaus, wahrscheinlich nie in die Praxis umgesetzt, wie so viele Arbeiten in dieser Zeit. Verglichen mit dem, was in der Luftfahrtindustrie in der Schrottpresse oder auf dem Müll landete, war der Aufwand für vergebliche Beleg- und Diplomarbeiten jedoch nicht der Rede wert. Mitte November begann meine Frau mit dem Schreiben. Wie fast alle, hatte auch ich inzwischen geheiratet. Gut, wenn man eine Frau hatte, die Maschineschreiben konnte, denn es war immer schwierig, dafür jemanden zu finden. Es gab noch keine Schreibbüros, die nur auf einen Auftrag gewartet hätten. Mitte Dezember war alles fertig, aber auch meine Frau; denn wenige Stunden, nachdem die letzte Seite aus der Maschine war, erblickte unsere Tochter das Licht der Welt. Am 20. Dezember gab ich vorfristig ab, wollte noch vor Weihnachten alles erledigt wissen, nachdem ich in den Tagen zuvor alle erforderlichen Abmeldungen an der TUD bzw. in Dresden vorgenommen hatte. Das Studentenleben war damit endgültig vorbei, nachdem sich unsere Seminargruppe letztmalig Anfang November zum gemeinsamen Biertrinken getroffen hatte.
Obwohl mit zehn Prüfungen, vier Belegen, dem Großen Beleg und der Diplomarbeit viel Zeit beansprucht wurde und ich noch zweimal in der Produktion bzw. auf dem Bau arbeitete, fanden sich noch reichlich fünf Wochen Zeit für einige Urlaubsreisen: Wanderungen im Erzgebirge mit Übernachtungen in Jugendherbergen (JH), die Hochzeitsreise in die Sächsische Schweiz (Zimmer von Bekannten freundlicherweise zur Verfügung gestellt, sonst wäre wohl nichts geworden), die schon erwähnte Radtour durch Südthüringen (Übernachtungen in JH) und als Krönung eine Hochgebirgswanderung im Fagaras-Gebirge in Rumänien, wo damals von Ceaucescus Diktatur und Misswirtschaft noch nichts zu spüren war.