Das Jahr 1963 aus studentischer Sicht
De facto war zwar die „studentische Sicht“ 1962 beendet (Abgabe der Diplomarbeit am 20. Dezember) und es erfolgte der Übergang in die Praxis. Da aber das Studium offiziell erst mit dem Diplom-Kolloquium beendet war (für mich am 27. Februar) und außerdem sich studentische Verhaltensweisen nicht so schlagartig ändern, soll die „studentische Sicht“ weiter gelten.
Zurück in den Delegierungsbetrieb. Da in der DDR Arbeitskräfte immer knapp waren, war es fast eine Pflicht, in der Zeit zwischen Abgabe der Diplomarbeit und dem Kolloquium bereits die Arbeit aufzunehmen. Dazu wurde eine spezielle Bescheinigung erstellt, dass „Herr ... seine Arbeit abgegeben hat und voraussichtlich... bestehen wird“. Nach ein paar wenigen freien Tagen ging dann bei mir auch das zweite Erwerbsleben los (das erste war vor dem Studium, bzw. ̶ teils illegal ̶ dazwischen): Am 7. Januar in der Abteilung TVB/k (Betriebsmittelkonstruktion) des VEB RAFENA Radeberg (später ROBOTRON). Bruttogehalt 690,- Mark in der Gehaltsgruppe J II Anfang (in der DDR so festgelegt, Fachschulabsolventen starteten mit J I Anfang, das heißt, eine Gehaltsgruppe niedriger) im Tarif Maschinenbau. Eigentlich hätte es der Tarif Elektrotechnik sein müssen, aber da wäre das Gehalt noch niedriger gewesen. Die Betriebe hatten es jedoch oft geschafft, in einen höheren Tarif eingruppiert zu werden. Verheiratet mit einem Kind ergab das 545,- Mark netto bei einer 48-Stunden-Woche. Nicht gerade berauschend, aber man kannte es nicht anders. Bei meiner Einstellung hatte ich noch zwei Wochen unbezahlten Urlaub durchgesetzt, um Ende Januar gewissermaßen zur Selbstbelobigung eine Urlaubsreise in die SU (Minsk-Moskau-Leningrad) antreten zu können und dafür nicht den Tarifurlaub (auch zwei Wochen) schon zu verbrauchen. Etwas zähneknirschend wurde mir das auch gestattet. Übrigens: Die Reise kostete schon alles in allem etwas 570,- Mark, ein durchaus bezahlbares Vergnügen, was bei Reisen bis 1990 in die SU auch weiterhin so blieb. Am 27. Februar fand dann das Kolloquium statt, nur noch eine Formsache. In der Erinnerung geblieben ist mir davon nur, dass mich jemand nach bestandener Prüfung das erste und einzige Mal im Leben mit „Herr Dipl.-Ing. Müller“ ansprach. Am 28. März schloss ich noch die „Berthold-Prüfung“ ab, hatte ich doch das Fach Werkzeugmaschinenkonstruktion noch freiwillig belegt, um ggf. später noch in diesem Industriezweig zu gehen. Daraus wurde aber nichts. Damit war aber nun mein Studentendasein endgültig zu Ende.
Anlaufprobleme
Obwohl es anfangs schön war, wieder in vertrauter Umgebung zu sein, stellten sich bald Probleme ein, deren Ursachen teils bei mir, teils beim Betrieb lagen. Einige einfache Beispiele sollen das verdeutlichen: Als Student, dem das Studieren leichtfiel, hatte ich mich in meinem Heimatort Großröhrsdorf gesellschaftlich stark engagiert. Der größte „Zeitfresser“ dabei war der Spielmannszug. Wenn Auftritte in der Woche stattfanden, war dafür eine Freistellung von der Arbeit erforderlich. Wie so vieles in der DDR, waren auch die Freistellungen nicht eindeutig geregelt. Einerseits sollten gesellschaftliche Aktivitäten wahrgenommen werden, andererseits sollte aber auch die Arbeit nicht vernachlässigt werden.
Es war ein ständiger Kampf. Hartnäckig, wie ich veranlagt war, setzte ich zehn Tage Freistellung durch, und hatte damit den Bogen überspannt; denn in den 60er Jahren war für die Leiter in den Betrieben noch das Wichtigste. Später allerdings, so gegen Ende der DDR, gab es Kollegen, die man ̶ wenn überhaupt ̶ nur zum Gehaltabholen im Betrieb sah, eine Art Dauerplanstellen für sogenannte gesellschaftliche Arbeit. Kein Wunder, dass die DDR schließlich in den Krebsgang ging. Es gab aber auch Dinge, wo ich zwar im Recht war, das Gelernte aber zu ungestüm durchsetzen wollte bzw. die Zeit dafür einfach noch nicht reif war. Ein Beispiel: Es gab Bauteile (Hohlleiter), die verschraubt werden mussten und wo die Passflächen 1a-Qualität aufweisen mussten. Sie wurden deshalb geschabt. Im Betrieb hatte sich dafür der Ausdruck „Tuschieren“ eingebürgert und wurde auch auf allen technologischen Dokumentationen so geführt. Tuschieren ist aber nur ein vorbereitender Arbeitsgang für das Schaben bzw. folgt als Prüfung danach. Ich versuchte, den richtigen Ausdruck ̶ das „Schaben“ ̶ einzuführen, eckte dabei überall an und bekam Gehässigkeiten zu hören, so dass ich schließlich die Finger davon ließ. Bei einem anderen Beispiel hätte ich warten sollen, bis wir die Marktwirtschaft hatten. Wie ist das zu verstehen? Es gibt einfache Werkzeuge und Vorrichtungen, die jeder Werkzeugmacher nach Skizze bzw. kurzer Beschreibung fertigen können muss, ohne das dafür erst eine Zeichnung erstellt werden muss. Das wurde bei RAFENA zwar so gehandhabt, jedoch nicht in dem Maße, wie ich es für möglich hielt. Bei der Erweiterung der Fertigung ohne Zeichnung biss ich jedoch auf Granit, ja, es gab wahrscheinlich sogar einige Kollegen, die bewusst Fehler machten, um sagen zu können: „Der Müller hat das Falsche beschrieben.“ So verpuffte die Initiative. Übrigens, im Laufe der Jahre mussten immer mehr Dinge, die früher selbstverständlich waren, auf der Zeichnung vermerkt werden, damit sie gemacht wurden. Erst jetzt, in der Marktwirtschaft, sind wir wieder dort, wo wir vor Jahrzehnten schon einmal waren, d.h., mehr Eigenverantwortung der Kollegen ist wieder gefordert.
Von RAFENA zu FORTSCHRITT
So gab das eine das andere, und nach einem Jahr wechselte ich von RAFENA zum Kombinat FORTSCHRITT Landmaschinen; Betrieb Bischofswerda (dem späteren Mähdrescherwerk Bischofswerda/Singwitz) ̶ um zu erkennen, dass dort auch so manches im Argen lag, verglichen mit RAFENA; manchmal sogar im „Ärgeren“. Aber inzwischen hatte man sich an so etwas gewöhnt und FORTSCHRITT hatte einen großen Vorteil ̶ Tarif Schwermaschinenbau, obwohl eigentlich nur allgemeiner Maschinenbau gerechtfertigt gewesen wäre. Aber dazu habe ich schon geschrieben. Dieser Tarifsprung, verbunden mit einem Sprung von J II auf J III (woraus nach kurzer Zeit J IV wurde) und einer Treueprämie, die nach zwei bzw. fünf Jahren gewährt wurde, bescherte 1380.- Mark, womit sich sehr gut leben ließ. Es war ein Aufstieg, den nicht allzu viele vorzuweisen hatten. Der Preis waren allerdings graue Haare, Falten und ein zerrüttetes Nervenkostüm; denn ich war sinngemäß Haupttechnologe, zur damaligen Zeit wohl überall eine Art Himmelfahrtskommando. Nach vier Jahren war ich am Ende, lag im Durchschnitt der Zeit, die meine Vorgänger auch nur ausgehalten hatten. Dem Betrieb bzw. Kombinat bin ich aber bis zum mehr oder weniger erzwungenen Vorruhestand 1991 (Betrieb stillgelegt) treu geblieben. Heute, zwölf Jahre nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben, bummle ich gern einmal über das Betriebsgelände in Bischofswerda und Radeberg ̶ so, wie ich auch gern einmal an der TUD bin ̶ erinnere mich an berufliche Erfolge und Misserfolge und die vielen kleinen Begebenheiten am Rande, von denen einige erzählenswert wären, einige aber lieber nicht ...