13.07.2021
Abschied einer Universitätsinstanz
Fast unbemerkt wechselte Dr. Matthias Lienert, Chef des Universitätsarchivs, in den Ruhestand
Der langjährige Direktor des Universitätsarchives der TU Dresden, Dr. Matthias Lienert, hat sich in den Ruhestand verabschiedet. Bis der Posten neu besetzt ist, fungiert Angela Buchwald als Abwesenheitsvertreterin. Das UJ befragte Dr. Matthias Lienert nach seinem Resümee.
UJ: Wann haben Sie das Archiv der TU Dresden übernommen und wie hatten Sie es damals vorgefunden?
Dr. Matthias Lienert: Ich wurde 1987 nach einer längeren Phase der 1984 begonnenen Einarbeitung Leiter des TUD-Archivs. Archive wachsen bekanntlich über Generationen. Mein Vorgänger, Karl-Heinz Adolph, hatte 1960 das Archiv von Elisabeth Handmann (1898–1963) übernommen, die 1952 als hauptamtliche Archivarin eingesetzt worden war. Sie hatte noch verkohlte Akten aus der Ruine der »Alten Hochschule« gesichert, die Bestände strukturiert und den Grundstock für das Archiv gelegt. Ihr Nachfolger Karl-Heinz Adolph (1921–1999) baute ab den 1960er-Jahren das Archiv nun mit einem Team von mehreren Mitarbeiterinnen zu einer serviceorientierten Einrichtung aus. Schon damals herrschte Platznot. Zu seiner Amtseinführung musste er sich vom inzwischen legendären Rektor Kurt Schwabe anhören: »Herr Kollege Archivar: Sie können von mir alles haben – nur keine Räume.« Diese Worte waren wie in Stein gemeißelt und begleiteten auch meine Amtszeit, die von historischen Brüchen in Gesellschaft und Natur gekennzeichnet war. So versanken nicht nur politische Illusionen, sondern auch reale Akten im Fluss der Zeit. Jedenfalls dachte ich nicht an solcherart von Einschnitten, als ich das Archiv mit den vielen vollständig oder auch noch nicht bearbeiteten großen und kleinen Beständen übernahm.
Welche aus der Wende resultierenden politischen Hürden waren zu nehmen?
Das Archiv war immer ein Partner für Wissenschaft und Verwaltung. Es wurde auch von Forschern aus der alten BRD, aus Frankreich und Japan benutzt und geschätzt. Gäste aus dem Ausland mussten beim Direktor für Internationale Beziehungen bzw. bei einem Prorektor angemeldet werden. Aber auch als Abschiebeort und Wirkungsstätte für politisch Missliebige war das Archiv gefragt. Das Klischee in vielen Filmen und Romanen ist gar nicht so falsch. Während im Zentralen Staatsarchiv der DDR die offenen und scheinbaren Widersacher von Walter Ulbricht und Erich Honecker landeten und durch die Gänge geisterten, bearbeitete im Uniarchiv ein Antragsteller auf Ausreise aus der DDR bis zur Genehmigung seines Antrags den Bestand Mechanisch-Technologische Sammlung. Da konnte der vordem als in herausgehobener Funktion Tätige für die erstarrte DDR keinen »politischen Schaden« mehr anrichten. Natürlich wurden die Archive nach der Wende mit Argusaugen betrachtet, zumal die Räume nach Feierabend mit einem speziellen Petschaft zu versiegeln waren. Die Staatsarchive unterstanden dem Ministerium des Innern und galten als Sicherheitsbereiche, weniger als Einrichtungen von hohem kulturellen Wert. Das Uniarchiv war dem Ersten Prorektor zugeordnet und sicher kein Hort des Widerstands gewesen. Aber letztlich werden Archive immer gebraucht, ob für die Vorbereitung wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, für Rentenansprüche, für Rehabilitierungen, amtliche Nachweisführungen oder als letzte Instanz bei der Suche nach dem verlorenen Diplom oder gar der bei einem Wassereinbruch abhanden gekommenen Doktor-Urkunde.
Die Mitarbeiterstellen im Archiv konnten aufgrund der Übernahme- und Antragsflut gehalten werden, während viele andere TUD-Angehörige, insbesondere im Zuge des Stellenabbaus, sich als Arbeitssuchende auf dem Arbeitsamt wiederfanden. Bereits 1986 wurde die Ingenieurhochschule Dresden als künftiges Informatikzentrum in die Universität übernommen. Im Rahmen der Teilabwicklung der Pädagogischen Hochschule nach 1991 wurden deren Akten gleichfalls integriert. Die verantwortlichen Mitarbeiterinnen wurden Teil des Uniarchivteams. Weiter kamen die Bestände der teilabgewickelten ehemaligen Hochschule für Verkehrswesen dazu. 1993 wurde mit Integration der Medizinischen Akademie Carl Gustav Carus als Medizinische Fakultät gleichen Namens deren Archiv einschließlich Mitarbeiterin in das Universitätsarchiv aufgenommen. Schließlich waren im Uniarchiv sechs hauptamtliche Mitarbeiter tätig. Als wichtige neue Aufgabe war beispielsweise die Mitarbeit bei Rehabilitationsverfahren hinzugekommen. Das betraf sowohl ehemalige Studierende, als auch Mitarbeiter bis hin zu Professoren, denen in der DDR aus politischen Gründen das weitere Studium versagt, Titel aberkannt oder die Karriere beschnitten worden waren. Insgesamt hat das Archiv mit vielen Publikationen, Vorträgen, Archivführungen und Ausstellungen zur weiteren Aufarbeitung der Geschichte der Universität von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart beigetragen. Ungezählt sind die vielen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Bücher und sonstigen Beiträge, die auf Grundlage der Forschungen der Nutzer oder der Auskünfte der Archivangehörigen entstanden sind. In den Jahren nach 1990 entwickelten sich intensive Beziehungen zu Archiven insbesondere in Ostmitteleuropa.
Im Zuge der Entstehung der neuen Hochschullandschaft in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre gab es natürlich einschneidende Konsequenzen für das Universitätsarchiv. Welche Herausforderungen konnten wie gemeistert werden?
Die Verwaltung zu DDR-Zeiten war relativ stringent, teilweise autoritär. Es gab für die Archivierung viele Regularien wie einen Aktenplan des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen (MHF) sowie zentrale Instrumentarien wie Bewertungsgrundsätze, Richtlinien für die vereinfachte Kassation und Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze (OVG), die durchaus hilfreich waren und wie die letztgenannten Richtlinien in angepasster Form auch in das gesamtdeutsche Archivwesen übernommen wurden. Aber insgesamt klafften Theorie und Praxis weit auseinander, weder der Aktenplan noch andere Instrumentarien wurden konsequent angewendet. Das ist heute auch nicht viel anders. Die politische Wende brachte es mit sich, dass viele Bestände aus den aufgelösten Strukturen der Uni ins Archiv wanderten, wie beispielsweise der aufgrund der Hochschulerneuerung aufgelösten Strukturen. Aber auch Einrichtungen der Verwaltung wurden aufgelöst, unter anderem die Verschlusssachenstelle und die Zivilverteidigung. Die Akten der MfS-Kreisdienststelle der TUD wurden Teil der BStU Dresden (seit Juni 2021 Bundesarchiv), die Unterlagen der Kreisleitung der SED wurden vom Sächsischen Staatsarchiv übernommen. Wer weiß heute noch, dass die TU Dresden 1991 von der Staatsregierung mit der Abwicklung der LPG-Hochschule in Meißen beauftragt wurde und dass das Universitätsarchiv alle Akten dieser doch großen Einrichtung in die damalige Außenstelle des Bundesarchivs nach Berlin-Hoppegarten überführte? Es waren immerhin drei Fahrten mit dem LKW W50 von der Fahrbereitschaft notwendig, dessen Chauffeur selber tatkräftig mit Akten schleppte. Es war schon eine verwaltungstechnische Herausforderung! Aber das war typisch für die Nachwendezeit, in der die TUD-Angehörigen unter neuen Bedingungen, unter neuer Führung eines sehr charismatischen und durchsetzungsstarken Kanzlers den Radwechsel praktisch während der Fahrt vornehmen mussten. Das Archiv fungierte letztlich als Nachlassverwalter, wobei in dieser Umbruchzeit auch viele Akten am Archiv vorbei in Papiertonnen wanderten.
Mit der Umgestaltung der sächsischen Hochschullandschaft änderten sich auch Aufgaben einiger Einrichtungen. So fielen Studentenangelegenheiten zu DDR-Zeiten in den Aufgabenbereich der Hochschule, nach der Wende waren diese Aufgaben (Wohnen – Studentenwohnheime, Verpflegung – Mensen, Finanzierung – BAföG, Kultur, Soziales) Sache des extra neu geschaffenen Studentenwerks. Wie wirkte sich das auf die Arbeit des Universitätsarchivs aus? Begann im Studentenwerk ein eigenes Archiv zu entstehen oder archiviert seither das Uniarchiv die Studentenwerksachen?
Das am 1. Juli 1991 neu gegründete Studentenwerk Dresden geht auf die im Oktober 1919 im Festsaal der »Alten Hochschule« gegründete Hochschul-Wirtschaftsgenossenschaft zurück, die vor allem von Studierenden und Hochschullehrern ins Leben gerufen wurde, um die existenzielle Not der Kommilitonen nach dem Ersten Weltkrieg zu lindern. Im Universitätsarchiv sind Unterlagen zu dieser Historie ebenso überliefert wie die Akten der sozialen Einrichtungen der Universität in den Zeiten der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Als eigenständige Einrichtung ist das Studentenwerk aktuell für die Sicherung der in seinen vielfältigen Geschäftsfeldern entstehenden archivwürdigen Unterlagen selbst zuständig und zur Abgabe an das Hauptstaatsarchiv Dresden verpflichtet. Die Archivierung dieser Überlieferungen würde die räumlichen und personellen Kapazitäten des Uniarchivs überfordern.
Eine sicher einschneidende Zäsur war das Jahrhunderthochwasser 2002. Welche Schäden entstanden wo und wie wurden die Probleme gelöst?
Schwer getroffen war die damalige Außenstelle auf der Hans-Grundig-Straße. Aber ein großer Teil des Bestandes konnte aufgrund des Einsatzes der Mitarbeiterin gerettet werden. Die Akten wurden an einen sicheren, trockenen Ort verbracht und mithilfe einer Firma mit einem Verfahren der Gefriertrocknung auch wieder in einen vertretbaren konservatorischen Zustand versetzt. Ein geringer Teil ist aber unwiederbringlich verloren. Ebenfalls ein bedauerlicher Verlust trat ein infolge eines defekten Wasserrohrs im Archivlager der ehemaligen Pädagogischen Hochschule. Dabei ist ein Teil des Bestands regelrecht abgesoffen. Wesentlich schwerer hatte es zur Flut 2002 die SLUB getroffen, insbesondere am Standort Tharandt. Dramatisch waren die Auswirkungen auf das Uniklinikum mit großangelegten Evakuierungsmaßnahmen von Patienten und mit einem gigantischen Feuerwehreinsatz unter Mithilfe von anderen Bundesländern. Die Dienstakten wurden zum großen Teil gesichert, aber auch Patientenakten und andere Dokumentationen gingen verloren. Im nächsten Jahr wird sicher auch das Uniarchiv an dieses Ereignis erinnern, das auch zu Auseinandersetzungen zwischen Uniklinikum und der Stadtverwaltung geführt hatte.
Der Medienwechsel von Papier zu Digital bzw. die Erweiterung der zu archivierenden Medien um das Digitale war ebenso herausfordernd. Können Sie die diesbezüglichen Probleme und deren Lösung beschreiben?
Es mag abgedroschen klingen, aber die Aktenflut konnte auch in den letzten Jahren nicht eingedämmt werden. Im Gegenteil: Die Papierberge wachsen mitunter exponentiell. Die Ursachen sind vielfältig und können in einem Interview auch für die Uni nur angerissen werden. Einerseits ist nach wie vor eine gewisse Sorglosigkeit gepaart mit Vervielfältigungswut zu verzeichnen, andererseits ist es ein haptisches Problem, das mit der menschlichen Physis und Psyche zusammenhängt. Jedenfalls stellt sich das Archiv auf eine zunehmend digitale Verwaltung ein und wird künftig in Zusammenarbeit mit Ressourcen des ZIH in der Lage sein müssen, digitale Unterlagen, einschließlich wichtiger E-Mails, in die Langzeitarchivierung zu übernehmen. Ganz wichtig ist die enge Zusammenarbeit mit den Strukturen der Uni und die Berücksichtigung der Aufgaben des Archivs bei der schrittweisen Einführung einer zeitgemäßen elektronischen Dokumentenverwaltung. Ein Medienbruch wäre für die künftige Überlieferungssicherung katastrophal und würde Manipulationen und Fake News Tür und Tor öffnen. Das Archiv hat Erfahrungen im Zusammenhang mit der Bewertung und Digitalisierung von Prüfungsakten gesammelt. Nur auf diesem Wege ist es noch möglich, die Antragsflut beispielsweise für Zertifizierungen national und international zu bewältigen. Zudem werden so finanzielle Einnahmen generiert. Künftig werden auch die auf der Homepage des Uniarchivs abgebildeten digitalen Findhilfsmittel weiterentwickelt und mit Aktenauszügen, Videos und anderem angereichert. Erfahrungen konnten wir auch mit unserem von der DFG finanzierten Gurlitt-Portal sammeln, das von der nationalen und internationalen Forschung sehr intensiv genutzt wird. Jedenfalls lässt die Hochschulentwicklungsplanung für 2025 hoffen, die vorsieht, dass die Archive dringend benötigte Mittel für Infrastruktur und Digitalisierung erhalten. Da sind die Bibliotheken noch besser ausgestattet. Jedenfalls werden wir auch in den nächsten Jahren noch analog und digital weiterarbeiten, wobei die künftige Reihung der beiden Schlüsselbegriffe sich schneller als gedacht in Richtung des Digitalen entwickeln wird.
Wie hat sich der quantitative Umfang der Arbeit des Universitätsarchivs im Laufe der Zeit entwickelt? Was bedeutete diese Entwicklung für das Archiv?
Der Archivalienbestand hat sich seit 1990 bis heute mehr als verdreifacht.
Das Universitätsarchiv verwahrt als Endarchiv inzwischen einen Gesamtbestand von rund 6000 laufenden Metern Akten, audiovisuellen Medien, Plänen, Zeichnungen und anderen Überlieferungen. Im Jahr kommen so nach archivischen Bewertungsverfahren zwischen 60 und 80 Meter dazu. Das sind geschätzt um die fünf Prozent der an der Uni entstehenden Papiere, die aus wissenschaftlichen und rechtlichen Gründen archivwürdig sind. Im Gegensatz zur Staatsregierung und der Stadt Dresden besitzt die Uni kein eigenes Archivgebäude, sondern nutzt für Archivzwecke adaptierte Gebäudeteile und Räume, wie im Günther-Landgraf-Bau, im Rektorat und angemietete Räume im »Falkenbrunnen«. Die ebenfalls hauptamtlich besetzte Außenstelle Medizin befindet sich im Haus 110 auf der Augsburger Straße, unweit des Medizincampus. Diese separate Unterbringung führt natürlich zu erheblichen logistischen Problemen, wobei der Altbestand in einem klimatisierten Raum lagert. Ein Neubau für das Archiv ist jedoch überfällig, um die analogen und digitalen Überlieferungen der größten sächsischen Universität mit mehr als 32 000 Studierenden, etwa 600 Professoren und weiteren 8300 Beschäftigten zu sichern und auch für künftige Generationen, die immer wieder neue Fragen an die Geschichte stellen werden, in gutem Erhaltungszustand vorrätig zu halten.
Die Fragen stellte Mathias Bäumel.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 13/2021 vom 13. Juli 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.