Jun 21, 2010
Billard um halb zehn
Roland Ketzmerick spielt Billard. Beinahe täglich. Allerdings nicht, wie viele andere Menschen das tun, in der Freizeit nach Feierabend, sondern während seines Dienstes im Büro am Institut für Theoretische Physik der TU Dresden. Dort ist der international bestens reputierte Professor – seit kurzem auch Fellow des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme – damit beschäftigt, den Dingen vom Innersten der Welt ganz auf den Grund zu kommen.
Wer Billard spielt, ist nicht allein. Das hat schon Heinrich Böll in seinem vergangenheitslastigen Roman »Billard um halb zehn« (1959) beschrieben. Roland Ketzmerick blickt jedoch nicht zurück, sondern weit nach vorn und hat sein sehr spezielles System dieses Spiels – freilich ohne Billardtisch und -kugeln – mit einer Forschergruppe vernetzen können, die bundesweit an acht Universitätsorten agiert und der für ihr Tun soeben eine Zwei-Millionen-Euro-Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für weitere drei Jahre bewilligt worden ist.
Was steckt also dahinter, wenn der Professor virtuell gegen die Bande spielt, noch dazu ganz ohne Queue? Er untersucht mit einem übergreifenden Forschungsthema das Zusammenspiel von regulärer und chaotischer Dynamik. Jeweils geringfügige Änderungen können hier übersichtlich kleine und dort unüberschaubar große Wirkungen nach sich ziehen. Vom beispielhaft idealisierten Billardspiel abgeleitet, lassen sich quantenmechanische Relevanzen abstrahieren, die im konkreten Alltag eine sehr praktische Rolle spielen können. Anschaulich wird in Billards der Dualismus von Wellen und Teilchenbahnen erkennbar.
Das langfristige Ziel, so der 1965 im hessischen Hanau geborene Wissenschaftler, der hierfür eng mit Privatdozent Dr. Arnd Bäcker zusammenarbeitet, sei es, quantenmechanische Eigenschaften in klassisch chaotischen Systemen zu verstehen. Gesetzmäßigkeiten und deren Abweichungen könnten so besser beschrieben und das Funktionieren der Quantenmechanik plausibel darstellbar gemacht werden.
Der praktische Nutzen scheint unübersehbar. Einzelne Standorte der DFG-Forschergruppe 760, Magdeburg zum Beispiel, befassen sich mit optischen Billards, um Mikrolaser künftig extrem präzis ausrichten zu können und zielgenau in nur eine Richtung strahlen zu lassen. In Erlangen etwa werden die Übertragungseigenschaften von Licht in Glasfasern studiert, um die Telekommunikation von morgen oder übermorgen zu revolutionieren. Heidelberger Kollegen erforschen das Verhalten tiefst abgekühlter Teilchen, um die Dynamik der Einzelatome isoliert untersuchen zu können.
Das alles klingt sehr, sehr abstrakt. Dessen sind sich die Dresdner TU-Wissenschaftler und ihre Mitstreiter bewusst. »Es ist kein Luxus, ausreichend Grundlagenforschung zu betreiben,« unterstreicht Ketzmerick und fügt an, dass es ohne die Quantentheorie der 1920er Jahre heute keine CD oder DVD geben würde. Freilich sei Wissenschaft kaum vorhersehbar und gehörten Sackgassen manchmal zum Forscherleben mit dazu. Umso wichtiger aber sei es, bestätigen die beiden Experten, alle relevanten Bedingungen und Erkenntnisse gründlich zu prüfen. Ihr von Erfolg gekrönter Antrag an die DFG bestehe daher neben einer Darstellung des bereits Erreichten überwiegend aus Forschungszielen, die in der künftigen Gemeinschaftsarbeit nun aussichtsreich angegangen werden sollten.
Für die Forschergruppe unter dem Titel »Scattering Systems with Complex Dynamics« bedeutet die Zusage die Garantie, Kooperationen, Konferenzen und Reisen auch weiterhin finanzieren zu können. Schon jetzt ist eine Sommerschule für den Nachwuchs auf Korsika geplant, von der man sich für die nahe Zukunft eine verstärkte innereuropäische Zusammenarbeit insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland erhoffe.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Roland Ketzmerick
Tel.: 0351 463-36178
www.comp-phys.tu-dresden.de
PD Dr. Arnd Bäcker
Tel.: 0351 463-32221
www.comp-phys.tu-dresden.de