Dec 08, 2017
Der tägliche Gabentausch in der Familie
„Tag Schatz, gib mir ein Kussi“ – Diese Begrüßung unter Eheleuten ist offenbar sehr verbreitet und täglicher Standard. Am Institut für Soziologie der TU Dresden wurden jetzt die Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale in Familien untersucht. Im Rahmen eines Forschungsseminars zum Gabentausch bei Professor Michael Hofmann beobachtete und analysierte die Soziologiestudentin Anna-Maria von Oltersdorff-Kalettka über einen längeren Zeitraum mehrere Familien. Sie stellte eine Typologie der Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale auf. Begrüßungen und Verabschiedungen, so fasst die Studentin zusammen, sind Aufmerksamkeitsgaben, die unbedingt erwidert werden müssen. Die künftige Soziologin beschreibt in ihrer Arbeit vier Arten von Begrüßungs- und Verabschiedungstypen.
Die erste Kategorie ist der „Überschwänglich kreative Typ“, der mit Winken, vielen Küsschen und Umarmungen agiert. Er charakterisiert vor allem die Begrüßungen und Verabschiedungen zwischen (kleineren) Kindern und ihren Eltern. Diese Situationen sind noch nicht vollständig ritualisiert, leben von Koseworterfindungen wie Pupsi, Superspatz oder Spatzimatzi und der oft überbordenden, unkontrollierten Begeisterung von Kindern und auch Verliebten.
Die Standardbegrüßung zwischen Ehepartnern nennt Oltersdorff-Kalettka den „Liebevoll zugewandten Typ“. Diese Begrüßung ist eher kurz gehalten, wirkt aber trotzdem sehr vertraut. Die Partner begrüßen sich mit „Hallo“ und fragen sich nach ihrem Befinden. Danach folgen ein oder mehrere Küsse auf den Mund und wenn möglich, umarmen sich die Partner. Findet der Kuss nicht statt, wird er durch Fragen wie „Kussi?“ liebevoll eingefordert. Denn der Kuss auf den Mund ist das Alleinstellungsmerkmal der partnerschaftlichen Begrüßung. Nach dieser liebevollen Zuwendung beginnen die Partner über ihren bisherigen Tag und die Ereignisse zu erzählen. Diese täglichen Rituale sind offenbar die wichtigste Gabe in festen Beziehungen.
Dann gibt es noch den „Neutralen oder Hi-Typ“. Durch Nicken, ein kurzes „Hi“ oder eine kleine Geste wird dem Ritual Genüge getan. Damit ist es auch schon genug. Die Beteiligten widmen sich wieder ihrer Tätigkeit oder anderen Personen. Diese Art findet sich zwischen älteren Kindern und ihren Eltern oder anderen Familienmitgliedern. Auch wenn die Geste nur flüchtig ist, weil man vielleicht gerade etwas anderes zu tun hat, so ist die Reaktion auf die Gabe des Grußes für den familiären Frieden wichtig.
Als vierte Kategorie beobachtete Anna-Maria von Oltersdorff-Kalettka den „Ignoranten und distanzierten Typ“. Er kommt einer familiären Kriegserklärung gleich. Ohne Gruß, ohne Erwiderung, ohne Zuwendung oder gar mit einer Verfinsterung des Gesichtes wird Nichtzugehörigkeit demonstriert: „Du gehörst nicht in meinen Kreis, bist nicht willkommen.“ Diese negativen Botschaften beobachtete die Studentin bei bockigen Kindern ebenso wie bei anderen Familienmitgliedern. Grüße zu ignorieren lässt sich in der Familie allerdings nicht lange durchhalten.
Die täglichen Rituale von Begrüßung und Verabschiedung stärken und stabilisieren den Familienzusammenhang. Sie sind die unkomplizierten, preiswerten Geschenke im Alltag, die soziale Wärme erzeugen. Umso erstaunlicher ist es, dass wir relativ wenig über das Funktionieren unserer täglichen Hallos und Tschüss wissen.
Information für Journalisten:
Anna-Maria von Oltersdorff-Kalettka