Mar 10, 2020
Die zwei Seiten der Forschungs-Medaille
TUD-Experten befragt: In der Geschichte führte Forschung für den Krieg – auch an der damaligen TH Dresden – zuweilen zu zivilen Innovationen
»Forschen für den Krieg« lautete das Thema eines Vortrags von Dr. Uwe Fraunholz kürzlich in der Kustodie (UJ hatte ihn angekündigt). Zunächst seien jedoch die Grenzen des Themas weiter gezogen als lediglich auf Dresden fokussiert. Es gibt wohl kaum einen Vorgang, der die Ambivalenz des Themas »Forschen für den Krieg« treffender verdeutlichen könnte als den der Entwicklung der HiFi-Konsumelektronik. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges beauftragte das Küstenkommando der Royal Airforce die Schallplattenfirma Decca mit der Entwicklung eines perfekten Speichermediums, mit dessen Hilfe höchste und tiefste Töne erkannt, lokalisiert, gespeichert und wiedergegeben werden können. Mit solchen höchstentwickelten Schallplatten sollten die Offiziere lernen, die Motorengeräusche deutscher von britischen U-Booten zu unterscheiden. Nach dem Krieg wurde daraus das High-Fidelity-(HiFi)Verfahren im Bereich der Konsumelektronik, die technologische Basis für den Siegeszug der Phonokultur und -wirtschaft. Ohne diese Forschung für den Krieg wäre keine Popmusik und auch keine Massenkultur der Friedens- und Antikriegslieder in den sechziger Jahren entstanden.
Zur Widersprüchlichkeit von Forschungen für militärische Zwecke und zur spezifischen Rolle Dresdner Wissenschaftler während der Zeit des Faschismus fragte das UJ den Historiker Dr. Uwe Fraunholz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TUD-Professur für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte.
UJ: Man kann den Gedanken von der bifunktionalen Rolle von Militärforschung sogar noch erweitern: Die gesamte Entwicklung der medialen Musikkultur von Rock bis Klassik wäre ohne solche Forschungen so nicht möglich gewesen. Auch sollte nicht vergessen werden, dass wichtige Schallplattenlabels in den sechziger und siebziger Jahren, die die Pop- und Rockmusik zu einem klingenden Phänomen der Anti-Kriegs-, Jugend- und Protestkultur gemacht haben, zu großen Konzernen gehörten, die ihr Geld auch in der Rüstungsindustrie verdienten. Forschung für den Krieg hatte also bei Weitem nicht nur zerstörerische Folgen. Können Sie – global gesehen – weitere Beispiele, auch außerhalb der Musikkultur, für diese ambivalenten Militärforschungen umreißen?
Dr. Uwe Fraunholz: Ich finde es äußerst problematisch, wenn Sie die Entwicklung der Pop-, Jugend- und Protestkultur seit den 1950er-Jahren im Wesentlichen auf eine militärische Innovation aus dem Zweiten Weltkrieg zurückführen wollen. Es ist offensichtlich, dass hierfür wesentlich komplexere Begründungszusammenhänge in Ansatz zu bringen sind, die weit über das Vorhandensein eines geeigneten Speichermediums hinausgehen. Die kriegerischen Anfänge des HiFi-Standards waren dafür jedenfalls keine hinreichende und auch keine notwendige Bedingung. Eine derart monokausale Erklärung steht in der Tradition eines überkommenen Technikdeterminismus, den die akademische Technikgeschichtsschreibung seit geraumer Zeit hinter sich gelassen hat. Insofern führt Ihre Behauptung, dass ohne Forschung für den Krieg »keine Popmusik und auch keine Massenkultur der Friedens- und Antikriegslieder« entstanden wäre, vollkommen in die Irre.
Dass große Marktteilnehmer ein breites, auch widersprüchliches Produktportfolio aufweisen, ist keineswegs erstaunlich und auch kein Phänomen, das auf »Konzerne« beschränkt gewesen wäre. Auch der VEB Carl Zeiss Jena hat beispielsweise einerseits den Zielsuchkopf der Luft-Luft-Rakete K-13M, andererseits Spaltlampen für die Augenheilkunde gebaut.
Ohnehin sollte man den Einfluss von Independent Labels auf die Ausbildung der Jugend- und Protestkultur nicht so geringschätzen: Jerry Lee Lewis und Johnny Cash veröffentlichten ihre ersten Platten bei Sun Records. Pete Seeger und Joan Baez standen in den 1960ern bei Vanguard unter Vertrag, letztere veröffentlichte dort ihre Version von »Where have all the flowers gone?«. Edwin Starrs »War (What is it good for?)« war 1970 ein Nummer-eins-Hit für das unabhängige Motown-Label. Rough Trade und SST waren wichtige Promotoren von Punk bzw. Grunge. »Aufstehn« von den Bots, das den Soundtrack zur bundesdeutschen Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss lieferte, wurde auf dem Alternativ-Label »Musikant« veröffentlicht. Erst später wechselten die Niederländer zu EMI und mussten sich prompt der auch in ihrer Frage anklingenden Kritik stellen.
Sie weisen aber auf einen wichtigen Punkt hin, nämlich die Existenz von »Dual-Use-Technologies«. Das fängt im Grunde schon beim Faustkeil an, mit dem man Nahrung zerteilen und konkurrierende Artgenossen erschlagen konnte. Die Entwicklung der Röhrentechnologie, für die Heinrich Barkhausen wichtige theoretische Grundlagen legte, bildete später ein Element der Fernsteuerung von V2-Raketen. Nach dem Krieg freuten sich Funkamateure über das reichliche Angebot an Wehrmachtröhren und auch das UKW-Radio verbreitete sich auf dieser technologischen Grundlage. Forschung für den Krieg mag nicht nur zerstörerische Folgen haben, sie intendiert aber die Zerstörung. Mit anderen Worten: Wernher von Braun in Peenemünde sowie Georg Beck, Walter Wolmann, Walther Pauer und anderen an der TH Dresden war bewusst, dass ihre Aufgabe die Hervorbringung eines tödlichen Waffensystems war und nicht die Schaffung der Grundlagen für den Weltraumflug. Alles andere sind nachträgliche Schutzbehauptungen.
In Ihrem Vortrag thematisierten Sie die Bandbreite der Verhaltensmöglichkeiten von Wissenschaftlern in der NS-Diktatur. Und Sie stellten dabei fest, dass sich die Mehrheit der Ingenieure und Wissenschaftler willfährig in den Dienst des Regimes stellte. Ist dies nicht eine nahezu allgemeingültige Verhaltensweise, nicht nur in der Zeit des Faschismus, sondern auch davor und danach? Immerhin: Die Flugzeugtechnik und die Bombensysteme der US-geführten NATO-Streitkräfte, die für die Bombardierung ziviler Einrichtungen Belgrads und Novi Sads 1999 verantwortlich waren, wurden ja von völlig »normalen« Technikern entwickelt ...
Obwohl ich zu den oben erwähnten Friedensbewegten gehörte und die Rolle eines NATO-Verteidigers für mich neu ist, möchte ich doch unbedingt zu Protokoll geben, dass ich ziemlich konsterniert bin, da Sie mit Ihrer Frage die NATO rhetorisch in eine Traditionslinie mit dem rassistischen Eroberungskrieg der Nationalsozialisten stellen. Dennoch treffen Sie einen Punkt: Techniker und Ingenieure sollten sich auch in der Gegenwart bewusst sein, dass sie Teil eines Innovationssystems sind und gesellschaftliche Verantwortung tragen. Sie sollten sich stets fragen, ob ihre Ergebnisse auch militärisch genutzt werden könnten, und ob sie dies befürworten. Dies gilt umso mehr für das ingenieurtechnische Schaffen im NS-Staat, dessen verbrecherischer Charakter allerspätestens seit 1938 allen halbwegs vernunftbegabten Zeitgenossen – einschließlich der Hochschulprofessoren – bewusst gewesen sein muss. Die Mehrzahl der Ingenieure hat trotz dieses Wissens fleißig weiter an Innovationen gearbeitet, die den Krieg zuerst möglich gemacht und später verlängert haben.
Was meint hier »willfährig«? Vor allem in Bezug auf den Faschismus: Hatten denn die Wissenschaftler und Ingenieure eine andere Chance, wenn sie Entlassungen oder gar, je nach politischem System, Gefängnis und Folter vermeiden wollten?
Kennen Sie einen Ingenieur der TH Dresden, der wegen der Nichtteilnahme an einem Forschungsprojekt Gefängnis und Folter ausgesetzt war? Allenfalls drohte die berufliche Kaltstellung. Vielmehr war es aber so, dass die überwältigende Mehrheit – genau wie heute – freiwillig um begrenzte Mittel konkurrierte und fleißig Forschungsanträge schrieb. Damals half es allerdings, im Rahmen seiner Selbstmobilisierung die besondere Kriegswichtigkeit der jeweiligen Forschungen herauszustellen. Die politisch eher Indifferenten wollten dabei die im Zuge von Aufrüstung und Krieg zusätzlich ins Innovationssystem gepumpten Ressourcen abgreifen und ihre Karriere befördern. Die überzeugten Nationalsozialisten wie der Maschinenbauer Georg Beck in Dresden oder der Chemiker Peter Adolf Thiessen in Berlin, später übrigens der erste Vorsitzende des Forschungsrats der DDR, arbeiteten enthusiastisch für den »Endsieg«.
Wodurch fallen diesbezüglich gerade Dresdner Wissenschaftler und Ingenieure – im Vergleich zu denen anderer deutscher Städte – auf? Gibt es hier eine Sonderstellung Dresdens und woher kommt die?
In Dresden gab es mit 45 Wissenschaftlern zwar eine der größten Hochschularbeitsgruppen, die am Vorhaben Peenemünde beteiligt waren, eine generelle Sonderstellung der hiesigen Hochschule möchte ich davon aber nicht ableiten. Dresden fügte sich in das allgemeine Bild der Technischen Hochschulen ein, die je nach Größe und Leistungsfähigkeit zur Wehrhaftigkeit des NS-Staates beitrugen. Vergleicht man ausgewählte Forschungsbereiche in Dresden und Berlin, kommt man vielmehr zu dem Schluss, dass der Berliner Hochschule eine Sonderrolle zukam. Bedingt durch die räumliche Nähe zur politischen Macht aber auch zum Heereswaffenamt kam es dort zu zahlreichen Doppelfunktionen und Ämterhäufungen. Der wirtschaftspolitische Vordenker der NSDAP Gottfried Feder hatte eine Professur für Raumplanung an der TH Berlin inne. Der Chef des Heereswaffenamtes General Becker war zugleich Dekan der Wehrwissenschaftlichen Fakultät der Hochschule. Der Giftgasforscher Rudolf Mentzel war Direktor am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Geschäftsführer des Reichsforschungsrates und Professor für Wehrchemie an der Berliner Hochschule. Vor allem war die TH Berlin auch fest in die Propaganda-Aktivitäten des Regimes eingebunden: Die Grundsteinlegung besagter Wehrwissenschaftlicher Fakultät bildete den Auftakt zum Umbau Berlins zur Welthauptstadt Germania. Nach Verbreiterung der Charlottenburger Chaussee lag das Hauptgebäude der TH an der neu geschaffenen Ost-West-Achse und eignete sich hervorragend als Kulisse für die zahlreichen Paraden. Militärische Potenz konnte fortan vor dem Hintergrund technikwissenschaftlicher Expertise präsentiert werden. Zu diesen Zusammenhängen bereite ich übrigens gegenwärtig eine Publikation vor.
Forschung für den Krieg, wenn man so formulieren will, erbringt immer wieder auch Ergebnisse, die den Menschen nutzen und Kriegsfolgen lindern – Verfahren zum Auffinden von Minen, zur Warnung vor Giftgas, zur Erkennung von verstrahlten Gebieten, zur Behandlung von körperlich oder psychisch verletzten Kriegsopfern. Und militärische Einrichtungen fungieren als Auftraggeber oder Finanzier ziviler humaner Forschungen. So entwickelte Heinrich Barkhausen während des Ersten Weltkrieges ab 1915 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Inspektion des Torpedowesens der Kaiserlichen Marine in Kiel Wesentliches zur Elektronenröhre und formulierte den Barkhausen-Effekt. In der heutigen Zeit finanziert und organisiert die Bundeswehr als Träger des Militärhistorischen Museums Dresden eines der bedeutendsten Museen, das dem Friedensgedanken gewidmet und militärkritisch ausgerichtet ist. Ein Wolf im Schafspelz? Wie würden Sie solche Zusammenhänge generell bewerten?
Anti-Kriegslieder müssten nicht gesungen werden, wenn es den Krieg nicht gäbe. Insofern kommt mir Ihre Argumentation recht ulkig vor. Die Existenz von Minenspürhunden, Gasmasken und Geigerzählern findet ihre Begründung im Vorhandensein von Landminen, chemischen Kampfstoffen und Atombomben. Die Verheißungen der Prothetik und Psychotechnik dienten allzu oft dazu, die Behandelten wieder rasch ins Feld zu schicken. Forschung für den Krieg meint immer die Herstellung von Kriegsführungsfähigkeit. Dies schließt Innovationen zum Schutz der Zivilbevölkerung aber beispielsweise auch wissenschaftliche Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Ernährungsstandes ein. Vor allem galt es, ein Zusammenbrechen der »Heimatfront« zu verhindern und den Nachschub an wehrtauglichem »Menschenmaterial« sicherzustellen. Forschungen zu Bewehrungen im Stahlbeton, der für Bunkerbauten eingesetzt wurde, an der TH Dresden durchgeführt vom Bauingenieur Willy Gehler, mögen mancherorts Menschenleben gerettet haben. Letztendlich dürften sie aber mehr Menschenleben gekostet haben, da sie besagter Kriegsführungsfähigkeit dienten. Schließlich kamen die in Dresden geprüften Hoyer-Träger vor allem am Atlantikwall zum Einsatz, wo gigantische Bunkeranlagen der deutschen U-Boot-Flotte Unterschlupf boten.
Die Inspektion des Torpedowesens hat im Ersten Weltkrieg bei Barkhausen keine »zivilen« oder »humanen« Forschungen in Auftrag gegeben. 1915 ging es allein darum, dass tödliche Waffen möglichst treffsicher ihre Ziele finden. Im Zweiten Weltkrieg gelang dies mehr schlecht als recht. Denn die V2 war bekanntlich weit entfernt von jeder Präzision und konnte allenfalls in Terrorangriffen gegen die Zivilbevölkerung ihre psychologische Wirkung entfalten. Richtig ist aber, dass Barkhausens Erkenntnisse in der Nachkriegszeit auch in die Produktion von technischen Konsumgütern einflossen und deren Verbreitung beförderten.
Dass das Militärhistorische Museum Dresden generell militärkritisch ausgerichtet sein soll, habe ich noch nicht bemerkt. In meiner Wahrnehmung handelt es sich um ein Museum zur Kulturgeschichte der Gewalt, in die eine kritische Auseinandersetzung mit deutscher Militärgeschichte eingebettet ist. Dies halte ich für eine anspruchsvolle Herangehensweise aber auch für den einzig angemessenen Weg der Traditionsbildung für die Bundeswehr. Ich bin ein großer Fan dieses Museums.
Die Fragen stellte Mathias Bäumel.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 5/2020 vom 10. März 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.