10.12.2021
Europäische Leitlinie zu Diagnose und Therapie der Tic-Störungen aktualisiert: Verhaltenstherapie im Fokus – neues Medikament auf Platz 1
Die führend von der European Society for the Study of Tourette Syndrome (ESSTS) 2011 erarbeitete Leitlinie wurde nun von einem europäischen Expertengremium aktualisiert und erweitert. Dieses Update (doi.10.1007/s00787-021-01899-z) erschien Mitte November in der Zeitschrift „European Child & Adolescent Psychiatry“. Am Themenfeld Pharmakotherapie wirkte Prof. Veit Rößner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Dresden federführend mit. In der neuen Leitlinie wird eine spezielle Verhaltenstherapie als Mittel der ersten Wahl etabliert. Bei Nichtverfügbarkeit oder Bedarf eines raschen Therapieerfolgs hat sich ein neues Medikament auf Platz 1 geschoben.
Generell wird als erster Therapiebaustein das sogenannte Habit Reversal Training empfohlen, bei dem den Tics entgegenwirkende Muskelanspannungen eingeübt und automatisiert werden sollen. Ist kein entsprechendes Therapieangebot in der Region verfügbar oder es bedarf eines schnelleren Wirkeintritts beziehungsweise die Verhaltenstherapie alleine hat nicht ausreichend geholfen, wird in der jetzt veröffentlichten Leitlinie Aripiprazol als Mittel der 1. Wahl empfohlen - ein modernes Medikament, das die Überfunktion des Botenstoffs Dopamin reduziert.
Bis zu 20 Prozent aller Kinder haben mal einen Tic. Die Ticsymptomatik variiert zum Beispiel bezüglich der Ticfrequenz in einem natürlichen, jedoch unregelmäßigen Verlauf über einen Zeitraum von etwa sechs bis zwölf Wochen. Bei etwa vier Prozent der Bevölkerung verschwinden Tics nicht innerhalb eines Jahres wieder vollständig - man spricht dann von einer chronischen Tic-Störung. Davon ein Viertel (also ein Prozent der Bevölkerung) haben mehrere motorische Tics und mindestens ein vokaler Tic (zum Beispiel Räuspern) länger als ein Jahr– was man als Tourette Syndrom bezeichnet. Tics beginnen meist im Kindesalter und erreichen zwischen 10 und 13/14 Jahren bei den meisten Betroffenen die stärkste Ausprägung. Eine deutliche Abnahme der Symptomatik tritt meist erst mit dem Ende der Pubertät ein. Neben dem Alter und den langfristigeren Schwankungen treten auch über den Tag verteilt Veränderungen in der Ticfrequenz auf, die sich zum Beispiel während Konzentrationsphasen oder bei Entspannung zeigen. Auch wechselnde oder anhaltende Umgebungsfaktoren können zu emotionaler Erregung (positiv und negativ), Müdigkeit sowie psychosozialem Stress zu einer veränderten Ticfrequenz führen.
Bisher sind viele Fragen zu Tic-Störungen trotz zunehmender Forschungsanstrengungen noch wenig geklärt. Dies betrifft auch eine möglichst genaue Diagnostik, Aussagen zur Prognose genauso wie zu den Ursachen, Behandlungsindikation und -möglichkeiten.
Literatur:
Roessner, V., Eichele, H., Stern, J.S. et al. European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders—version 2.0. Part III: pharmacological treatment. Eur Child Adolesc Psychiatry (2021). https://doi.org/10.1007/s00787-021-01899-z
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Kontakt:
Prof. Veit Roessner
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Universitätsklinik Carl Gustav Carus Dresden
Tel.: 0351 458-2244