19.04.2012
Teilentwarnung für Himalaya-Gletscher
Mehrere hundert Millionen Menschen in Südasien sind in
unterschiedlichem Ausmaß von den Süßwasserspeichern der
Himalaya-Gletscher abhängig. Entsprechend wichtig ist es,
mögliche Auswirkungen von Klimaänderungen auf die
Himalaya-Gletscher frühzeitig zu erkennen. Jetzt zeigen
Glaziologen der Universität Zürich und der Technischen
Universität Dresden zusammen mit internationalen Forschern,
dass die Gletscher im Himalaya weniger schnell abnehmen, als
bisher angenommen. Ein großes Gefahrenpotenzial orten die
Wissenschaftler dagegen bei Ausbrüchen von Gletscherseen.
Seit den Fehlprognosen des Weltklimarates IPCC stehen die
Himalaya-Gletscher im Fokus von Öffentlichkeit und
Wissenschaft. Die lückenhaften Kenntnisse über die Gletscher
der Himalaya-Region verhinderten bisher genaue Aussagen und
Prognosen. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung
des Glaziologen Dr. Tobias Bolch, der an der TU Dresden und der
Universität Zürich forscht, stellt nun in einer Studie in der
aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Science“ den Wissensstand
über die Gletscher im Himalaya zusammen. Die Wissenschaftler
bestätigen, dass die im letzten IPCC-Bericht veröffentlichten
Schwundszenarien für die Himalaya-Gletscher übertrieben
waren.
Die bisher aktuellsten Kartierungen auf Basis von
Satellitendaten ergaben, dass Gletscher im Himalaya und
Karakorum eine Gesamtfläche zirka 40.800 km² bedecken. Diese
Fläche entspricht rund dem Zwanzigfachen aller Alpengletscher,
ist aber bis zu zwanzig Prozent kleiner als bisher angenommen
wurde. Der leitende Wissenschaftler Dr. Tobias Bolch führt dies
zur Hauptsache auf fehlerhafte Kartierungen in früheren
Untersuchungen zurück.
Für ihre Studie berücksichtigten die Wissenschaftler alle
bisher vorliegenden Messungen von Längen-, Flächen- und
Volumenveränderungen bzw. Massenbilanzen. Während die
Messreihen zu Längenänderungen teilweise bis ins Jahr 1840
zurückgehen, sind Messungen zu Gletschermassenbilanzen, die das
Klimasignal unverzögert widerspiegeln, sehr rar, und
kontinuierliche Messreihen reichen nicht weiter als zehn Jahre
zurück. Die Forscher ermittelten durchschnittliche
Längenabnahmen in den letzten Jahrzehnten von fünfzehn bis
zwanzig Metern und Flächenabnahmen von 0,1 bis 0,6 Prozent pro
Jahr. Weiterhin sanken die Gletscheroberflächen um rund 40 cm
pro Jahr ein. „Die festgestellten Längenänderungen sowie
Flächen- und Volumenabnahmen entsprechen dem globalen Mittel“,
fasst Bolch die neuen Resultate zusammen und ergänzt: „Die
Mehrheit der Himalaya-Gletscher nimmt ab, aber deutlich weniger
schnell als bisher prognostiziert.“
Für die Gebiete im Nordwesten des Himalayas und insbesondere im
Karakorum-Gebirge konnten die Forscher ein sehr heterogenes
Verhalten der Gletscher feststellen. Viele dieser Gletscher
sind dynamisch instabil und neigen zu raschen Vorstößen, die
weitgehend unabhängig von den Klimabedingungen vorkommen. Für
die vergangenen zehn Jahre wurde im Schnitt sogar eine leichte
Volumenzunahme festgestellt. Aufgrund ihrer Analysen gehen die
Forscher davon aus, dass sich der Gletscherschwund in den
kommenden Jahrzehnten nicht wesentlich auf den Wasserabfluss
der großen Ströme wie Indus, Ganges und Brahmaputra auswirken
wird.
Trotz der teilweisen Entwarnung für die Himalaya-Gletscher
mahnt Bolch aber zur Vorsicht: „Aufgrund des zu erwartenden
Gletscherschwundes rechnen wir mittelfristig mit einer größeren
Variabilität bei den saisonalen Wasserabflüssen. Einzelne Täler
könnten saisonal trocken fallen.“
Eine für die lokale Bevölkerung sehr ernstzunehmende Bedrohung
sehen Bolch und seine Kollegen bei neu entstehenden bzw. sich
rasch vergrößernden Gletscherseen. Die Wasser- und Geröllflut
von ausgebrochenen Gletscherseen könnte für tiefer liegende
Gebiete verheerende Folgen haben. Zur Überwachung dieser
Gletscherseen, aber auch der Veränderungen der Gletscher und
des Klimas im Himalaya sind gemäß den Wissenschaftlern dringend
verstärkte Anstrengungen notwendig.
Die Arbeit entstand im Rahmen des EU-Projektes "High Noon" und
des European Space Agency-Projektes "Glaciers_cci".
Literatur:
T. Bolch, A. Kulkarni, A. Kääb, C. Huggel, F. Paul, J.G.
Cogley, H. Frey, J.S. Kargel, K. Fujita, M. Scheel, S.
Bajracharya, M. Stoffel. The State and Fate of Himalayan
Glaciers. Science. 20 April, 2012. doi:
10.1126/science.1215828.
Informationen für Journalisten:
Dr. Tobias Bolch
Geographisches Institut, Universität Zürich
Institut für Kartographie, Technische Universität Dresden
Tel.: +41 446355236