12.11.2025
POInT-Studie: Neuer Meilenstein auf dem Weg zur personalisierten Prävention von Typ-1-Diabetes
Die ersten Ergebnisse der POInT-Studie markieren einen wichtigen Fortschritt in der Prävention von Typ-1-Diabetes. Sie zeigen, dass künftige Ansätze stärker auf personalisierte Strategien setzen sollten. Forschende u.a. von Helmholtz Munich, der Technischen Universität München (TUM) und der Technischen Universität Dresden (TUD) konnten nachweisen, dass die Wirkung einer oralen Insulinbehandlung von der jeweiligen Variante des Insulin-Gens abhängt. Bestimmte Untergruppen sprechen demnach unterschiedlich auf die Behandlung an. POInT ist die erste randomisierte, kontrollierte klinische Studie, die untersucht, ob eine orale Insulingabe die Entstehung einer Inselautoimmunität und damit von Typ-1-Diabetes bei gefährdeten Kindern verhindern kann. Die von der Global Platform for the Prevention of Autoimmune Diabetes (GPPAD) koordinierte Studie umfasste 1.050 Kinder in fünf europäischen Ländern. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal The Lancet veröffentlicht.
Genetische Hinweise für personalisierte Typ-1-Diabetes-Prävention
Seit 2017 untersucht die Studie namens POInT (Primary Oral Insulin Trial), ob eine orale Insulinbehandlung die Bildung von Inselautoantikörpern, die mit der Entstehung von Typ-1-Diabetes in Verbindung stehen, bei Kindern mit erhöhtem genetischem Risiko verzögern oder verhindern kann. Die Studie wurde in fünf europäischen Ländern durchgeführt und vereint mehr als 30 Jahre genetischer und immunologischer Forschung. Damit gehört sie zu den bisher größten Präventionsinitiativen im Bereich der Autoimmunerkrankungen.
Die Forschenden berichten, dass die tägliche Einnahme von Insulinpulver von den Kindern gut vertragen wurde. Insgesamt hatte die orale Insulingabe jedoch keinen Einfluss auf die generelle Entwicklung von Inselautoantikörpern während des Studienzeitraums. Obwohl das primäre Studienziel damit nicht erreicht wurde, zeigten die explorativen Analysen vielversprechende sekundäre Ergebnisse: Kinder, die oral Insulin erhielten, entwickelten im Vergleich zur Placebo-Gruppe verzögert klinischen Typ-1-Diabetes. Besonders interessant war, dass die Wirkung der Behandlung von der jeweiligen Insulin-Genvariante der Kinder abhing – ein Hinweis auf neue Möglichkeiten für genetisch maßgeschneiderte Präventionsstrategien.
„Die POInT-Studie könnte die Art und Weise verändern, wie wir antigenbasierte Therapien bei Typ-1-Diabetes einsetzen. Auch wenn die orale Insulintherapie die Bildung von Inselautoantikörpern nicht wie erhofft verhindert hat, deuten die Daten darauf hin, dass sie den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen könnte“, sagt Gesamtstudienleiterin Prof. Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung bei Helmholtz Munich und Inhaberin des Lehrstuhls für Diabetes und Gestationsdiabetes am TUM Klinikum.
„Wir sind außerordentlich dankbar für die große Teilnahmebereitschaft von Familien mit ihren Kindern an dieser bedeutenden Studie. Sie liefert erste wichtige Erkenntnisse, wie möglicherweise zukünftig bei Kindern mit einem hohen genetischen Risiko für Typ-1-Diabetes die Erkrankung verhindert oder zumindest der Erkrankungsbeginn herausgezögert werden kann. Es fiel auf, dass der Behandlungseffekt stark von der genetischen Ausstattung der Kinder abhängt. Besonders bei Kindern mit Risikovarianten des Insulin-Gens für Typ-1-Diabetes scheint eine Verzögerung des Erkrankungsbeginns möglich zu sein. Das ist sehr ermutigend für die Strategie, sich mit zielgerichteten personalisierten Präventionsansätzen zu beschäftigen, wie wir sie an der Medizinischen Fakultät der TU Dresden gemeinsam mit unseren Partnern konsequent weiterverfolgen wollen“, erklärt der medizinische Studienleiter in Dresden, Prof. Reinhard Berner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden. „Die POInTStudie stellt einen wichtigen wissenschaftlichen Meilenstein dar.“
Ergebnis hängt von der persönlichen Insulin-Genvariante ab
Das Gen, das für das Insulinprotein verantwortlich ist, kommt in verschiedenen Varianten vor. „Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden hatte Varianten, die das Risiko für Typ-1-Diabetes erhöhen“, erklärt Ezio Bonifacio, Mitglied der GPPAD-Studiengruppe und Professor am Zentrum für Regenerative Therapien der TU Dresden. „Bei diesen Kindern schützte die orale Insulinbehandlung vor der Entwicklung von Diabetes. Im Gegensatz dazu nahm bei Kindern ohne Risikovariante die Zahl der Inselautoantikörper unter der oralen Insulinbehandlung sogar zu.“
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine orale Insulinbehandlung für eine genetisch klar definierte Untergruppe von Kindern von Vorteil sein könnte. „Auch wenn der genaue Mechanismus noch unklar ist, geben die Resultate Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Mit der gezielten Auswahl der zu behandelnden Kinder könnte es in Zukunft möglich sein, den Krankheitsverlauf entscheidend zu beeinflussen“, sagt Bonifacio.
Nächste Schritte: Personalisierte Präventionsstrategien weiterentwickeln
Aufbauend auf den ersten Ergebnissen wird die POInT-Studie mit einer erweiterten Nachbeobachtung fortgesetzt, bis die Teilnehmenden zwölf Jahre alt sind – weiterhin unterstützt vom Leona M. and Harry B. Helmsley Charitable Trust. Bis zum Alter von sechs Jahren entwickelten rund zehn Prozent der Kinder Inselautoantikörper, die bei der Mehrheit später in einen klinischen Typ-1-Diabetes münden. Die verlängerte Beobachtungsphase erlaubt es den Forschenden die langfristigen Effekte der frühen oralen Insulinbehandlung zu untersuchen und gleichzeitig eine kontinuierliche Betreuung der Kinder sicherzustellen. Zudem werden die im Rahmen der Studie gesammelten biologischen Proben und Daten für begleitende Forschungsprojekte genutzt. Diese sollen zeigen, wie die orale Insulintherapie die Autoimmunreaktion beeinflusst und den Krankheitsverlauf verändert.
Langfristig zielt die Forschung darauf ab, die frühen biologischen Mechanismen zu verstehen, die zur Entstehung von Typ-1-Diabetes führen. So hoffen die Forschenden, pharmakogenetische Zusammenhänge zu identifizieren, die eine personalisierte Prävention ermöglichen könnten. Die POInT-Kohorte ist hierfür besonders wertvoll, da sie die erste Primärpräventionsstudie ist, die gezielt Kinder mit erhöhtem Risiko aus der Allgemeinbevölkerung rekrutiert.
Hintergrund:
Erste Primärpräventionsstudie für Kinder mit Risiko aus der Allgemeinbevölkerung
Um Säuglinge mit einem genetischen Risiko für Typ-1-Diabetes von über zehn Prozent in die POInT-Studie aufzunehmen, richtete GPPAD ein multinationales Screeningprogramm ein, in Deutschland unter dem Namen Freder1k bekannt. Die Pilotstudie zu Freder1k wurde in Sachsen unter der Leitung des Dresdner-Teams durchgeführt und ab 2017 in allen GGPAD-Zentren ausgerollt. Insgesamt konnten durch Freder1k fast 242.000 Säuglinge unter vier Monaten für die POInT-Studie an den teilnehmenden Standorten in Belgien, Deutschland, Polen, Schweden und Großbritannien gescreent werden. Mithilfe eines genetischen Risiko-Scores identifizierten die Forschenden etwa ein Prozent der Kinder als Hochrisikogruppe. Insgesamt 1.050 Kinder wurden daraufhin in die Studie aufgenommen. Ihre Rekrutierung konnte vorzeitig abgeschlossen werden – ein Hinweis auf das starke Engagement der Familien und die Effektivität des multinationalen Ansatzes. Die Forschenden zeigten, dass ein Neugeborenenscreening in der Allgemeinbevölkerung eine praktikable Grundlage für die Teilnahme an Primärpräventionsstudien bietet. Helmholtz Munich stellte die Infrastruktur bereit, die diese ambitionierte multizentrische Studie ermöglichte.
Wissenschaftliche Grundlage der oralen Immunintervention
Typ-1-Diabetes entsteht durch eine Autoimmunreaktion, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse angreift. Dieser Prozess beginnt häufig im frühen Kindesalter und ist durch Autoantikörper gekennzeichnet – oft steht Insulin selbst im Mittelpunkt der Immunreaktion. Die Forschenden vermuteten, dass eine orale Gabe hoher Insulindosen helfen könnte, eine Immuntoleranz aufzubauen, ähnlich wie bei Ansätzen zur Allergieprävention. Zwischen dem vierten und siebten Lebensmonat erhielten die POInT-Teilnehmenden bis zum Alter von drei Jahren entweder täglich orale Insulinmengen (7,5 mg, innerhalb von vier Monaten auf 67,5 mg gesteigert) oder ein Placebo. Die Nachbeobachtung erstreckte sich bis zum Alter von sechs Jahren und sechs Monaten. POInT ist die erste randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte klinische Studie, die untersucht, welchen Einfluss orale Insulingabe auf die Entwicklung von Inselautoimmunität und Typ-1-Diabetes bei Kindern mit erhöhtem Risiko hat.
Original-Publikation
Ziegler et al., 2025: Efficacy of once-daily, high-dose, oral insulin immunotherapy in children genetically at risk for type 1 diabetes (POInT): a European, randomised, placebo-controlled, primary prevention trial - The Lancet
DOI: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(25)01726-X/fulltext
Über die Forschenden
Prof. Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung bei Helmholtz Munich und Lehrstuhlinhaberin für Diabetes und Gestationsdiabetes am TUM Klinikum
Prof. Ezio Bonifacio, Mitglied der GPPAD-Studiengruppe, Professor am Center for Regenerative Therapies der TU Dresden und wissenschaftlicher Studienleiter in Dresden
Prof. Reinhard Berner, medizinischer Studienleiter in Dresden, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
Über die Global Platform for the Prevention of Autoimmune Diabetes (GPPAD)
GPPAD ist eine europäische Plattform, die Kinder mit erhöhtem genetischem Risiko für Typ-1-Diabetes identifiziert und Studien zur Primärprävention durchführt. Ziel der Studien ist es, die Entstehung von Inselautoimmunität und Typ-1-Diabetes bei Kindern zu reduzieren. Nach der POInT-Studie und der SINT1A-Studie (Supplementation with B. infantis for Mitigation of Type 1 Diabetes Autoimmunity) rekrutiert GPPAD derzeit für seine dritte klinische Studie, AVAnT1A (Antiviral Action against Type 1 Autoimmunity). GPPAD-Forschungszentren befinden sich in Belgien (Leuven), Deutschland (Dresden, Hannover, München), Schweden (Malmö), Großbritannien (Newcastle, Cambridge) und Österreich (Wien). Die Plattform wird vom Leona M. and Harry B. Helmsley Charitable Trust finanziell unterstützt.
Über den Helmsley Charitable Trust
Der Leona M. and Harry B. Helmsley Charitable Trust hat das Ziel, Leben zu verbessern, indem er außergewöhnliche Initiativen in den USA und weltweit im Gesundheitsbereich sowie in ausgewählten regionalen Projekten unterstützt. Seit Beginn der aktiven Fördertätigkeit im Jahr 2008 hat Helmsley mehr als 4,5 Milliarden US-Dollar für eine Vielzahl wohltätiger Zwecke bereitgestellt. Das Helmsley-Typ-1-Diabetes-Programm (T1D) ist weltweit der größte private Förderer auf dem Gebiet von Typ-1-Diabetes. Bis heute wurden mehr als eine Milliarde US-Dollar bereitgestellt, um den Krankheitsverlauf zu verändern und den Zugang zu zeitgemäßer Versorgung weltweit zu beschleunigen. Weitere Informationen über den Helmsley Charitable Trust und seine Programme unter helmsleytrust.org.
Kontakt:
Anne-Stephanie Vetter
Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus
der Technischen Universität Dresden
+49 (0) 351 458 17903