10.03.2020
Richard Engländer – ein »musikalischer Botschafter«
Der heute nahezu vergessene Musiker, Komponist, Journalist, Forscher und Hochschullehrer lebte von 1889 bis 1966
Hans-Günter Ottenberg
In Schweden, dem Land, das ihm Exil gewährte, wurde Richard Engländer ein »musikalisk ambassadör« genannt, ein Prädikat, das sich auch auf das gesamte Lebenswerk des Musikers, Komponisten, Hochschullehrers, Journalisten und Musikforschers beziehen lässt. In der Öffentlichkeit ist Engländer heute nahezu unbekannt. Grund genug, diese universal gebildete Persönlichkeit näher vorzustellen.
Überblickt man die Biographie des am 17. Februar 1889 in Leipzig geborenen Richard Engländer, heißt das, Fragen nach der Existenz eines jüdischen Mitbürgers in divergierenden gesellschaftlichen Systemen zu stellen, konkret, sein Leben und Wirken im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Zeit des Nationalsozialismus und im Exil zu untersuchen. Engländer wuchs in einer gutsituierten Leipziger Familie auf. Der Vater Bernhard Engländer leitete zuletzt den IV. Zivilsenat des Reichsgerichts. Die Mutter Rosalie, eine geborene Pringsheim, war mit Katia Mann und Max Liebermann verwandt. Der ältere Bruder Konrad bekleidete in der Messestadt eine Professur für Staatsrecht, verstarb jedoch wie die Eltern schon vor 1933. Engländers Schwestern hingegen wurden Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: Katharina wurde 1943 nach Riga deportiert, wo sie umkam. Gudrun war in Theresienstadt interniert, konnte das Lager verlassen, verstarb jedoch nach mehrjähriger, auch haftbedingter Krankheit 1953.
Engländer besuchte in Leipzig die Thomasschule und studierte am dortigen Konservatorium. Die musikalische wie musikwissenschaftliche Ausbildung setzte er 1908 in Berlin fort. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er eingezogen und später verwundet. Im Jahre 1916 promovierte Engländer mit einer Arbeit über den Dresdner Kapellmeister Johann Gottlieb Naumann. Ausgestattet mit profundem wissenschaftlichem Rüstzeug und anerkannt als Cembalist und Pianist ließ er sich in Dresden nieder. Die Stadt beherbergte ihn für fast zwei Jahrzehnte und bot ihm zunächst gute Entwicklungschancen.
Dreh- und Angelpunkt waren dabei die Institutionen Staatsoper und Staatskapelle. Engländer arbeitete von 1922 bis 1925 als Assistent von Generalmusikdirektor Fritz Busch. Als Solorepetitor und stellvertretender Chordirektor war er an der Einstudierung etlicher Opernproduktionen beteiligt, darunter Verdis »Falstaff« und Hindemiths »Cardillac«. Sängerinnen und Sänger der Staatsoper, von denen stellvertretend die Sopranistin Elisa Stünzner und der Bariton Robert Burg genannt seien, begleitete Engländer bei Konzerten in Dresden und andernorts. Auch außerhalb von Staatsoper und Kapelle war er künstlerisch tätig. Im Sommer 1924 dirigierte er u. a. an der Sommeroper des Bühnenvolksbundes Webers »Freischütz« und Verdis »Rigoletto«.
Engländers Hauptbetätigungsfelder blieben allerdings die Musikforschung und der Musikjournalismus. Auf seine in erweiterter Form 1922 publizierte Naumann-Biographie folgte eine Vielzahl von Aufsätzen. In ihnen behandelte er vorzugsweise Themen der Dresdner Musikgeschichte, veröffentlicht in renommierten Fachzeitschriften wie »Zeitschrift für Musikwissenschaft«, »The Musical Quarterly« und vielen anderen.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sah sich Engländer in seinen Wirkungsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt. Als Musikkritiker am »Dresdner Anzeiger« konnte er noch bis zum Herbst 1934 arbeiten, was zunächst wohl seiner Teilnahme im Ersten Weltkrieg geschuldet war. Im Mai 1935 quittierte Engländer, der leidenschaftliche Musikpädagoge, seinen Dienst als Dozent am Musikseminar der Orchesterschule der Staatskapelle. Er verstummte für längere Zeit, war Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt und sogar inhaftiert. Im Mai 1939 verließ er Deutschland, unterstützt durch einflussreiche schwedische kirchliche Kreise um die Witwe des Erzbischofs und Friedensnobelpreisträgers Nathan Söderblom, und fand schließlich in Uppsala seinen neuen Lebensmittelpunkt.
In Schweden konnte Engländer in nur wenigen Jahren als Wissenschaftler und Künstler reüssieren. Sein Interesse galt jetzt vor allem der schwedischen Musikgeschichte. Als Journalist besprach er den Großteil der Stockholmer Opernpremieren. Für Sveriges Radio produzierte er Musiksendungen. Als Hochschullehrer – 1955 zum Dr. h.c. ernannt – bildete er von 1948 bis 1966 Studenten für Musikwissenschaft an der Universität Uppsala aus. Als Cembalist gab er solistisch und mit seinem Kammerorchester Konzerte. Am Palmsonntag 1943 beteiligte er sich an der Aufführung der Bachschen »Johannespassion« im Uppsalaer Dom.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 5/2020 vom 10. März 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.