19.06.2025
Von völliger Unordnung zu fast perfekter Ordnung: Neue Studie zur Erforschung von komplexen Systemen in Natur und Technik
Wissenschaftler vom Center for Advancing Electronics Dresden (cfaed) zeigen in einer Studie, wie Systeme mit beispielloser Abruptheit von Unordnung zu nahezu perfekter Ordnung übergehen können. Die Forschenden der Technischen Universität Dresden (TUD) enthüllen mit ihrer Studie, veröffentlicht in Nature Communications, eine neue Klasse von Übergängen in gekoppelten Oszillatoren, die als "extreme Synchronisationsübergänge" bezeichnet werden. Die Befunde stellen unser traditionelles Verständnis von Phasenübergängen in Frage.
Phasenübergänge sind grundlegende Phänomene, die in natürlichen und vom Menschen geschaffenen Systemen auftreten – vom Schmelzen von Eis über die Bildung von Verkehrsstaus bis hin zur Magnetisierung von Metallen. Sie markieren qualitative Veränderungen des Ordnungsgrades von Systembestandteilen. Zu verstehen, wie und warum diese Übergänge entstehen, ist einer der Eckpfeiler der Forschung zu komplexen Systemen in Natur und Technik.
Lange bekannt sind in der Wissenschaft bisher zwei Arten von Phasenübergängen:
- kontinuierliche Übergänge, bei denen die Ordnung nach dem Überschreiten eines kritischen Punktes allmählich zunimmt (z. B. ein Metall, das mit abnehmender Temperatur langsam magnetisch wird)
- diskontinuierliche Übergänge, bei denen der Ordnungsgrad am kritischen Punkt von Null auf einen Zwischenwert springt
"Was unsere Entdeckung so bemerkenswert macht, ist, dass das System bei diesen extremen Übergängen direkt von völliger Unordnung zu fast vollständiger Ordnung am kritischen Punkt springt", erklärt Seungjae Lee, Erstautor der Studie. "Damit unterscheidet es sich grundlegend von herkömmlichen Phasenübergängen, die sich entweder allmählich verändern oder zu einer Zwischenordnung springen und danach allmählich ihre Ordnung erhöhen."
Die Studie liefert den ersten konzeptuellen Beweis für solche extremen Übergänge, indem sie die mathematischen Eigenschaften einer natürlichen Erweiterung des Kuramoto-Modells, eines paradigmatischen Modells gekoppelter Oszillatoren, nutzt. Die Ordnungsbildung stellt hier einen Synchronisationsprozess dar, eine gegenseitige Anpassung der Phasen, also der relativen Timings der Oszillatoren.
Im Gegensatz zu konventionellen Phasenübergängen, die unendliche Systemgrößen erfordern, treten diese extremen Übergänge bereits in Systemen von wenigen Einheiten und bei relativ geringen Kopplungsstärken auf. "Während wir die grundlegenden Mechanismen in dem von uns untersuchten Modellsystem verstehen, bleibt das Bestimmen der genauen Bedingungen für extreme Übergänge in anderen Systemen eine offene wissenschaftliche Herausforderung", so Prof. Marc Timme, Leiter der Professur für Netzwerkdynamik an der TUD und Letztautor der Studie. „Frühere Studien sowie unsere eigenen Simulationen legen nahe, dass ähnliche Übergänge in verschiedenen Systemen, von chemischen Reaktionen bis hin zu biologischen Prozessen, auftreten könnten.“
Die Auswirkungen dieser Forschung erstrecken sich auf mehrere Bereiche. In technischen Anwendungen könnte dieses Wissen für die Stabilität von Stromnetzen und die Koordination von Schwarmrobotern entscheidend sein. „Diese Ergebnisse bringen nicht nur unser theoretisches Verständnis von Synchronisationsphänomenen voran, sondern liefern auch neue Werkzeuge, um starke Formen der Synchronizität in realen Systemen zu verhindern oder zu gewährleisten“, so Timme weiter. Die Forschungsarbeit eröffnet neue Wege für die Untersuchung ähnlicher Phänomene in anderen Systemen, deren potenzielle Anwendungen von der Behandlung von Krankheiten bis hin zu technologischen Innovationen reichen. Obwohl die Mechanismen, die zu den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung beigetragen haben, im Wesentlichen verstanden sind, bleibt noch offen, welche Mechanismen in welchen Systemen zusammenwirken und welche Bestandteile erforderlich sind, um extreme Übergänge zu realisieren oder zu verhindern.
Informationen zur Studie:
Extreme synchronization transitions
Autoren: Seungjae Lee, Lennart J. Kuklinski & Marc Timme
DOI: 10.1038/s41467-025-59729-8
Veröffentlichung: Nature Communications, May 2025
Download: https://doi.org/10.1038/s41467-025-59729-8
Kontakt:
Center for Advancing Electronics Dresden
Dr. Seungjae Lee, Chair of Network Dynamics
Tel.: +49 351 463-43975
E-Mail:
Prof. Marc Timme
Chair of Network Dynamics
Tel.: +49 351 463-43972
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Matthias Hahndorf
Wissenschaftskommunikation
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