14.12.2021
Von Wut und Flucht aus dem kommunikativen Lockdown
Die 14. Fachtagung des Traumanetzes Seelische Gesundheit fand Anfang Dezember 2021 online statt
Dagmar Möbius
Die 14. Fachtagung des Traumanetzes Seelische Gesundheit fand Anfang Dezember 2021 online statt. 150 Teilnehmer hörten und diskutierten zum Schwerpunkt »Trauma und Freiheit«.
»Die Einschränkung von Freiheit kann ein Traumatisierungsanlass sein. Anderseits kann das Ende von Einschränkung, Einschüchterung, Gewalt oder Missbrauch eine Entwicklungsaufgabe sein, mit der gewonnenen Freiheit umzugehen«, erläutert die wissenschaftliche Leiterin, Dr. Julia Schellong, Oberärztin für Traumafolgestörungen an der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus. Mit Blick auf die vergangenen zwei Jahre der Coronapandemie hatte die Fachtagung neben der (über-) regionalen Vernetzung auch den Anspruch, wenig bekannte Möglichkeiten wie schnelle psychische Hilfe und ergänzendes Hilfesystem bekannt zu machen. Harald Martenstein eröffnete mit einer Lesung aus seinem Roman »Wut«, in dem er eine Kindheit voller Gewalt schildert. Die Tagungsmoderation übernahm in bewährter Form Martina de Maizière.
Macht Flucht in die Freiheit frei? Dazu gab Dr. Ibrahim Özkan aus Göttingen Impulse. »Nicht ankommen zu können, bedeutet, die Trauer vor sich her zu schieben«, sagt der Diplom-Psychologe. »Aber solange kein Dazugehören stattgefunden hat, lässt sich das Alte nicht hergeben.« Das war bei vielen Gastarbeitern in der Klinik zu beobachten. Heimweh, um die Orientierung zu behalten, sei mitunter leichter als an alte Wurzeln heranzugehen.
Auf lebhaftes Interesse stieß der Bericht des in den USA geborenen und heute in Dresden und Basel wirkenden Rabbiners Akiva Weingarten. Aufgewachsen in einer ultraorthodoxen Gemeinde, stieg der sich heute als liberal-chassidisch Beschreibende aus und unterstützt heute junge Männer und Frauen, sich von streng religiösen jüdischen Traditionen zu lösen. Dass Knaben erstmals nach dem dritten Geburtstag die Haare geschnitten bekommen, weshalb auch später der Bart nicht gekürzt wird, warum Tiere, Frauen und Nichtjuden nicht koscher sind und warum er – obwohl in Amerika geboren – Englisch erst als vierte Fremdsprache lernte, stimmte ein auf unzählige Begrenzungen der ultraorthodoxen Welt – geschlechtergetrennte Schulen ohne Zeugnisse beispielsweise. Lebensziel: religiöse Texte lernen. Wie ultraorthodoxe Hochzeiten vermittelt werden, weshalb sich dennoch wenig Paare trennen und warum »Liebe etwas für Nichtjuden ist«, klingt in der westlichen Welt befremdlich. Auch das Verständnis von Heimat ist kompliziert. Rabbi Weingarten lebte ab seinem 18. Lebensjahr in Israel. Sein gedanklicher Ausstiegsprozess aus der ultraorthodoxen Welt brauchte sechs bis zehn Jahre. Den eigentlichen Ausstieg bereitete er zwei Jahre lang vor. Heimlich. »Erst in Berlin traf ich nichtorthodoxe Juden und merkte: Es gibt auch andere.« Heute fühle er sich frei zu entscheiden, wie er sein Judentum leben möchte.
Professor Martin Sack von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar der TU München erklärte an einem Fallbeispiel, wie es gelingen kann, sich aus traumatischen Verstrickungen zu befreien und Entwicklungsförderung als therapeutische Aufgabe zu sehen. Verbindendes Element zu den Themen Flucht und Ausstieg war Integration: »Die Entwicklung der Persönlichkeit ist wichtig. Aber sie ist konzeptuell noch zu wenig verankert.« Die therapeutische Praxis zeige, dass Zuwendung und eine gute Beziehung allein nicht ausreichen. Wichtiges Thema der möglichst multimodal aufgebauten Therapie müssen verletzte oder nicht ausreichend befriedigte Grundbedürfnisse sein. Wertschätzung ist dafür der wichtigste Einstieg.
»Kinder sind sehr häufig belastenden Verhältnissen ausgesetzt«, erinnerte Dr. Eva Margarete Seeger, Oberärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Dresden, anhand aktueller Zahlen. »23 von 100 000 Kindern erkranken an Diabetes Typ I, aber 327 von 100 000 erleben eine Art von Kindeswohlgefährdung.« 29 Prozent aller Mädchen und Jungen in Europa werden nach WHO-Angaben emotional misshandelt, 13 Prozent der Mädchen und knapp sechs Prozent der Jungen sexuell missbraucht. Wie können Kinder und Jugendliche aus traumatisierenden Verhältnissen begleitet werden? Mit Blick auf die Tatsache, dass Kinderrechte erst vor 50 Jahren in Deutschland entwickelt wurden, beschrieb sie das Dilemma: »Wir gucken zu lange zu.« Das liege am Gefährdungsabwendungsprimat (»Hilfen für das Kind und seine Eltern haben Vorrang «). Erst wenn das scheitert, kann der Schutzauftrag für das Kind (»ohne oder auch gegen die Eltern«) einsetzen. Dabei müsse man aus dem emotionalen Bauchgefühl herauskommen. »Kenntnisse über Kindesmisshandlung und Vernachlässigung sind notwendig«, betont die zertifizierte Kinderschutzexpertin, die Eltern mitunter darauf hinweisen muss, dass sie nicht nur ein Sorgerecht, sondern auch eine Sorgepflicht haben. »Dabei dürfen wir nicht gegen die Eltern als Personen agieren, sondern gegen ihr Verhalten, denn sie bleiben ihr Leben lang Eltern.« Zudem müssten die unterschiedlichen Sprachen von Institutionen angeglichen werden.
Arnd Henze, investigativer Journalist, gab Anregungen, wie aus dem kommunikativen Lockdown der Corona- Pandemie herauszukommen sei. »Es wäre schön, wenn wir den Dialog weiterführen«, sagte Dr. Julia Schellong, auch angesichts jüngster Zahlen der Kriminalstatistik (unter anderem 152 getötete Kinder 2020 im Vergleich zu 112 getöteten Kinder 2019 / Quelle: BKA) oder der Statistik von Opferentschädigungsanträgen (OEG) des Weißen Rings. Das Traumanetz Seelische Gesundheit bearbeitet viele Felder. So möchte das Team des Kompetenzzentrums Traumaambulanzen für Sachsen ein flächendeckendes Netzwerk von Traumaambulanzen für Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche aufbauen. »Unsere Vision ist, dass alle Menschen in Sachsen, die Opfer einer Gewalttat nach OEG geworden sind, maximal anderthalb Stunden Anfahrt zu einer zeitnah beginnenden, leitliniengerechten, schnellen psychischen Hilfe benötigen«, so Projektleiterin Dr. Julia Schellong. Weitere Projekte sind kultursensibles Videodolmetschen, Casemanagement für Kinder-Traumaambulanzen sowie ein Forschungsprojekt zu Kindstötungen. Bis 2024 wird außerdem dazu geforscht, wie sich das Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts nach SGB XIV auf die Versorgung von Gewaltbetroffenen in Traumaambulanzen auswirkt. Für eine DFG-geförderte Querschnittsstudie (INVITE), die Partnerschaftsgewalt drei bis vier Monate nach Geburten untersucht, können sich noch betroffene Frauen anmelden, die mittels Telefoninterview befragt werden.
Auch eine App für Menschen über 50 dient der Forschung. Über die im Google Play Store kostenfrei herunterzuladende App »intelli@ge« werden Info-Texte zu psychischer Gesundheit, Covid-19, körperlicher Gesundheit und Gewaltprävention sowie Entspannungsübungen und Kontaktadressen möglicher Ansprechpartner angeboten. Ein Ressourcenheft kann auf der Websitedes Traumanetzes kostenfrei bezogen werden.
Die 15. Traumanetzfachtagung wird für November/Dezember 2022 geplant. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. Schwerpunktthema soll »Trauma und Macht« sein. Denkbar sind auch »Trauma und Stigma« oder »Trauma und Verantwortung«. Wünsche und Anregungen können dem Netzwerk gern via Web übermittelt werden.
Weitere Informationen unter:
www.ukdd.de/traumanetz-fachtagung
https://traumanetz-sachsen.de
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2021 vom 14. Dezember 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.