14.01.2020
Was braucht unser Land jetzt?
Veranstaltungsreihe »Sturzlage« in der SLUB fragt nach gutem Leben für alle in sich wandelnden Zeiten
Beate Diederichs
Die Veranstaltungsreihe »Sturzlage« fragt dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland, wie ein gutes Leben für alle in sich wandelnden Zeiten aussehen könnte. Sie nähert sich dem Thema unter anderem durch Gespräche, einen Film und einen Poetry Slam. »Ein zentraler Punkt für uns ist dabei, wie man die fruchtbare Diskussionskultur der Umbruchszeit wiederaufleben lassen kann, die beispielhaft an den Runden Tischen zu erleben war«, sagt Dr. Julia Enxing. Die habilitierte Wissenschaftlerin vertritt die Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der TUD. Diese Professur führt die Reihe gemeinsam mit vier anderen Institutionen durch.
Der Geist der Wendezeit umweht die drei Stühle. Sie haben hölzerne Beine und rote Sitzflächen und stehen vor dem Klemperer-Saal der SLUB. »Diese Sitzgelegenheiten sind einer Installation der Künstlerin Gabriele Dolff-Bonekämper entnommen. Sie fand in einem Abstellraum der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin-Pankow die rund 100 Stühle vom Zentralen Runden Tisch und schichtete sie zu einem Kunstwerk übereinander, das gewollt wackelig aussieht und das sie ›Sturzlage‹ nannte«, berichtet Julia Enxing. Die Organisatoren der Veranstaltungsreihe mit dem Untertitel »Die Sehnsucht nach uns in der Veränderung« fanden die Bezeichnung »Sturzlage« für die Reihe passend: »Dieser Titel deutet auf eine angespannte Situation hin, in der sich unsere Gesellschaft momentan befindet. Wir wollten fragen, wie mit den sichtbaren Rissen und Unwägbarkeiten so umgegangen werden kann, dass die demokratischen Grundwerte der Gesellschaft nicht gefährdet werden«, so die Theologin weiter. Die Veranstaltungsreihe blickt nicht nur nach vorne, sondern auch zurück auf die Zeit vor dreißig Jahren im Osten Deutschlands und stellt die Frage, ob die Diskussionskultur von damals auch heute nützlich wäre, um in unsicheren Zeiten Orientierung zu geben. »Meiner Meinung nach waren die Runden Tische Sternstunden der Demokratie. Was können wir also tun, um ein solches Medium wieder aufleben zu lassen?« Das Thema fasziniert Julia Enxing, die im Westen Deutschlands aufwuchs. »Für uns hat sich 1989 nicht viel geändert. Erst später bei meinem Studium in Leipzig bemerkte ich: Die Wende prägt die Menschen immer noch. Da sich die Friedliche Revolution 2019 zum dreißigsten Mal jährte, rückte das Thema natürlich verstärkt in den Blick. Auch dem wollen wir mit der Veranstaltung Rechnung tragen.«
Den Anstoß zu »Sturzlage« gab die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen. Diese Institution warb Fördergelder dafür ein und holte die Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der TUD mit ins sprichwörtliche Boot. Gemeinsam gewannen sie weitere Kooperationspartner: die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), DRESDEN-concept und die Euroregion Elbe/Labe. »Wir haben dann eine Reihe aus Veranstaltungen zusammengestellt, die verschiedene Formate an verschiedenen Orten mit dem roten Faden der Frage nach Identität, Heimat und gesellschaftlichem Zusammenhalt verbindet«, kommentiert Julia Enxing. Von Mitte Oktober bis Ende 2019 fanden drei Podiumsdiskussionen und ein Vortrag statt. Ein Höhepunkt darunter war der Vortrag des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck am 4. Dezember 2019 im Albertinum, den 850 Menschen miterlebten. Im Januar folgen ein weiterer Vortrag und der abschließende Poetry Slam, zu dem sich bis zum 1. Dezember Interessierte mit Kurzvideos bewerben konnten. Julia Enxing war es wichtig, dass »Sturzlage« auch als Lehrveranstaltung für die Studenten nutzbar sein würde. Gut zu beobachten war das an einem Abend, der der Vielfalt der Formate ein weiteres hinzufügte: den Film.
»Adam und Evelyn«, gedreht nach dem Buch von Ingo Schulze und gezeigt am 27. November im Programmkino Ost, ist ein poetischer, wunderbar langsamer Film über ein Paar im Jahr 1989, das – teilweise gemeinsam, teilweise unabhängig voneinander – über Ungarn in den Westen übersiedelt. Die Studentinnen Alexa Sachon und Eva Mariann Karwowski, beide Lehramt Katholische Religion, haben in ihrem Seminar zu »Sturzlage« Fragen vorbereitet, die eine Diskussion anregen. »Wir mussten dabei flexibel sein, denn eigentlich wollten wir in der Eröffnungsfragerunde mit der Hauptdarstellerin Anne Kanis sprechen. Diese war aber kurzfristig verhindert. Für sie sprang Thomas Bohne ein, Mitglied der Katholischen Filmakademie. Für ihn passten wir natürlich die Fragen an«, erzählen die Studentinnen. Der Pfarrer Thomas Bohne betrachtet den Film aus der Zeitzeugenperspektive, aber vor allem aus theologischer Sicht. »Er ist voller Metaphern, die Christen interessieren und die sie deuten können«, lautet sein Urteil. So kann der Westen das »gelobte Land« symbolisieren, zumindest für Evelyn, während Adam sich als Damenschneider in einem Haus mit verwunschenem Garten in der DDR sein kleines Paradies eingerichtet hat. Aus dem wird er vertrieben, indem er Evelyn in den Westen folgt. Alexa und Eva haben sich den Film im Vorfeld drei Mal angeschaut, um die Bildsprache des Regisseurs Andreas Goldstein zu entschlüsseln. Für Alexa Sachon ist die Moderation der Fragerunde Prüfungsleistung für das Seminar. Die Studentin spricht dabei nicht nur etwa dreißig Minuten mit dem Pfarrer über die Interpretation des Films, sondern moderiert am Ende noch die Diskussion mit dem Publikum. Dieses nutzt den Film als Anregung, sich über die Zeit vor dreißig Jahren auszutauschen und sich dabei des zeitlichen Abstands zu damals bewusst zu werden.
Weitere Veranstaltungen:
14. Januar um 19 Uhr in der SLUB: »Reicht die Heimat hier?«
Ein Vortrag von Bischof Peter Kohlgraf aus Mainz.
21. Januar 19 Uhr in der SLUB: »Sturzlage. Der Poetryslam«
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 1/2020 vom 14. Januar 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.