14.05.2019
Wie aus kleinsten Schnipseln ein ganzes Buchleben wird
Eine Gruppe Dresdner Provenienzforscher untersucht noch bis zum Jahr 2020 NS-Raubgut an der SLUB
Anne Vetter
Bücher erzählen Geschichten. Manchmal nicht nur ihre eigenen, sondern auch die ihrer Besitzer. Zum Beispiel Georg Webers »Weltgeschichte in übersichtlicher Darstellung« von 1889. Sie gehörte laut einem Autogramm Max Geyer. Geboren 1918 in Dresden als drittes Kind von Salcia und Paul Geyer wuchs er in der Pirnaischen Vorstadt auf. Seine Eltern führten dort einen Herrenausstatter. Als der Vater 1931 starb, kümmerte sich die Mutter allein um Geschäft und Kinder. Webers »Weltgeschichte« hatte Max vermutlich von seinem Vater geschenkt bekommen – darauf deutet zumindest das Autogramm hin. Die »Weltgeschichte« begleitete Max Geyer, bis er 1939 nach seiner Haft in Dachau emigrierte. Er ließ das Buch bei der Mutter in Dresden zurück. Als man sie am 20./21. Januar 1942 nach Riga und von dort weiter nach Auschwitz deportierte, wurde das Buch »herrenlos«. Es gelangte in die Hände eines Gärtnereibesitzes aus Brockwitz, der seine Privatbibliothek offenbar dank guter Kontakte zur Gestapo mit etlichen Büchern aus jüdischem Besitz erweiterte. Nach dessen Entnazifizierung und der Pfändung seines Besitzes gelangte Georg Webers »Weltgeschichte« 1949 in die Sächsische Landesbibliothek.
Jahrzehnte später fiel das Buch während der »Schlossbergungen« den Provenienzforscherinnen der heutigen Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) in die Hände. Bei einer Gedenkveranstaltung für Salcia Geyer und ihre drei Kinder Cäcilie, Minna und Max am 15. April 2018 vor ihrem letzten freiwillig gewählten Wohnsitz und den dort für sie verlegten Stolpersteinen konnten Jana Kocourek und Elisabeth Geldmacher von der SLUB den Nachfahren ihren alten Besitz zurückgeben. Eine Erinnerung an die Dresdner Zeit ihrer Vorfahren von unschätzbarem Wert.
Die Germanistin Nadine Kulbe und ihre Kollegen, die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Geldmacher und der Historiker Robin Reschke, können mittlerweile viele dieser Geschichten erzählen. Seit 2017 läuft ihr Projekt zur Suche nach NS-Raubgut in den Erwerbungen der Landesbibliothek nach 1945. Gefördert wird es vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste Magdeburg und läuft bis August 2020. Nicht viel Zeit, um etwa 1000 Verdachtsfälle in der SLUB zu untersuchen. Davon lassen sich Kulbe und ihre Mitstreiter jedoch nicht entmutigen. »Es geht um die Wiederherstellung der Ordnung«, sagt die Germanistin. Dabei macht es für sie keinen Unterschied, ob es sich um wertvolle Kunstwerke handelt oder Alltagsgegenstände wie Bücher. »Wir müssen unserer Verantwortung gegenüber den beraubten Menschen und Institutionen gerecht werden«, betont sie. Auch wenn es in Deutschland kein Gesetz für die Rückgabe von (NS-)Raubgut gibt, hat sich die Bundesrepublik mit Bezug auf die Washingtoner Erklärung von 1998 verpflichtet, die während des Nationalsozialismus beschlagnahmten Kunstwerke zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer bzw. Erben ausfindig zu machen und eine »gerechte und faire Lösung« zu finden. Das klingt deutlich einfacher als es ist. Um aus kleinsten Schnipseln ganze Buchleben zu rekonstruieren, müssen Provenienzforscher Detektive sein, Geschichtskenner und ausgezeichnete Netzwerker.
»Unsere jetzige Datengrundlage beruht auf den Schlossbergungen von 2009 bis 2013«, sagt Kulbe. Damals wurden rund 300 000 Bücher, die von 1945 bis 1990 in die Bestände der heutigen SLUB aufgenommen worden und vor 1945 erschienen waren, auf ihre Herkunft überprüft. »Dazu sind wir systematisch die Regale im Magazin abgeschritten, haben die Zugänge ab 1945 in die Hand genommen und jedes Provenienzmerkmal erfasst«, erläutert sie. Anhand der Stempel, Exlibris, Autogramme, Nummern, Signaturen oder Etiketten versuchen die Forscher in detektivischer Kleinarbeit herauszubekommen, wer wann in den Besitz eines Buches gekommen ist und ob darunter unrechtmäßige Besitzwechsel waren. Bei den »Schlossbergungen« standen die Enteignungen im Zuge der Bodenreform auf dem Gebiet der DDR im Mittelpunkt des Interesses. Großgrundbesitzer, viele Adlige sowie als Kriegsverbrecher und NSDAP-Mitglieder eingestufte Besitzer kleinerer Agrarbetriebe wurden damals enteignet. Am Ende der »Schlossbergungen« konnten die Reste zahlreicher sächsischer Adelsbibliotheken dokumentiert und zurückgegeben werden.
»Während der Arbeit an diesem Projekt sind wir auch auf zahlreiche Bücher gestoßen, die verdächtig waren, Raubgut aus der NS-Zeit zu sein«, erklärt Kulbe. Etwa 600 entsprechende Merkmale konnten die Provenienzforscher ausmachen. In einem ersten, kleineren Projekt wurden deshalb von 2011 bis 2013 30 000 Bücher der SLUB untersucht, die zwischen 1933 und 1945 in den Bestand der Landesbibliothek aufgenommen worden waren. »Diese geraubten Bücher hatten meist eine regionale Herkunft. Die Gestapo brachte sie nach den Enteignungen«, erzählt Kulbe. Darunter war beispielsweise die aufgelöste Bibliothek der Freimaurer aus Meißen. »Viel ist jedoch nicht erhalten geblieben, da die meisten Bücher entweder im Krieg verbrannt oder an ihren Auslagerungsorten von der sowjetischen Trophäenkommission beschlagnahmt worden sind.«
Bei den Zugängen nach 1945 wird die Forschung schwieriger, erläutert Nadine Kulbe am Beispiel der Arbeiterkammer Wien: »Die Bibliothek enthielt mehrere 100 000 Bücher. Wir konnten bislang zehn in der SLUB ausfindig machen, die zwischen 1967 und 1989 hier angekommen sind.« Der Grund dafür ist, dass große Teile des Raubguts nach Kriegsende in Berlin ankamen, wo die Bücher zum Aufbau einer Zentralbibliothek genutzt wurden. »Erst nach und nach verteilte man die Dubletten übers Land.« Daher können die Forscher bei ihrer Suche auch nicht systematisch vorgehen, sondern müssen anhand von Merkmalen die geraubten Bücher ausfindig machen. Bei Institutionen, auf die sich Nadine Kulbe spezialisiert hat, ist die Recherche insofern leichter, da es Stichdaten für das Verbot und damit Kenntnis über ihre Auflösung gibt. Die freien Gewerkschaften wurden am 2. Mai 1933 verboten. Die jüdischen Organisationen offiziell 1938. Die religiöse Verfolgung von freien Zusammenschlüssen erfolgte ab 1941/42, okkulte Organisationen existierten spätestens 1943 nicht mehr. »Weil die Vorgänge oft ähnlich sind, kann man bei der Recherche etwas Zeit sparen. Für einen Fall brauche ich etwa zwei bis drei Monate«, schätzt sie. Neben der Internet- und Datenbankrecherche gehören dazu Archivbesuche. Ist das Buch als Raubgut identifiziert, ist es allerdings oft schwierig, die rechtmäßigen oder ideellen Nachfolger zu finden. »Es gibt nur noch wenige Einzel-Gewerkschaften. Nicht einmal der DGB hat noch eine eigene Bibliothek. Deshalb gehen die meisten Fundstücke an die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung«, erklärt Kulbe mit Blick auf die Gewerkschaften. Noch komplizierter wird es bei Gruppierungen aus dem Ausland oder bei Freidenkern. Gerade hat sie beispielsweise ein Buch aus dem Besitz des »Bundes der entschiedenen Schulreformer« aus Riesa auf dem Tisch. »Die Recherchen haben gezeigt, dass es sich um Raubgut handelt. Jetzt muss ich aber das Schicksal der Ortsgruppe herausfinden, um die Restitutionsempfänger zu ermitteln.« Und die nächsten Projekte warten bereits. Bücher der sogenannten B‘nai B‘rith-Logen. Dabei handelt es sich um jüdische Logen, die sich caritativ und humanistisch engagiert hatten. Hier gibt es sogar Nachfolgeorganisationen. »Gerade bei der Rückgabe wären wir jedoch für juristische Unterstützung dankbar. Mehr noch als bei Institutionen ist es bei Personen schwierig, den richtigen Erben zu finden. Da es meist viele Nachfahren gibt, stellt sich oft die Frage, wer erbberechtigt ist«, erklärt sie das Problem.
Derzeit laufen Untersuchungen zu etwa 300 Personen, die ihre Kollegin Elisabeth Geldmacher betreut. Ist der Weg des Buches von der Enteignung bis in die Bibliothek geklärt, werden die Merkmale dokumentiert und ein umfangreiches Protokoll erstellt. Dann beginnt die Erbensuche. Für die Recherche arbeiteten die Forscher eng mit der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und vor Ort mit dem Verein »Stolpersteine für Dresden« zusammen. Auch die sehr detaillierten Deportationslisten der Nazis sind, so zynisch es ist, eine wichtige Quelle. Die Suche nach den rechtmäßigen Besitzern der Bücher und ihren Nachfahren ist oft wie das Öffnen der Büchse der Pandora, aus der alles Schlechte der Geschichte strömt. »Wenn wir die Eigentümer der Bücher finden und ihre Lebenswege nachzeichnen, hoffen wir jedes Mal, dass sie es geschafft haben, zu überleben«, erzählt Nadine Kulbe. Häufig treffen sie allerdings auf Schicksale wie das des jüdischen Fabrikbesitzers Beno Kaufmann, geboren 1882 in Krakau. In den 1920er-Jahren war er mit seiner Frau nach Dresden gezogen. Kaufmann war ein leidenschaftlicher Münzen- und Handschriftensammler. Sogar sorgsam beschriftete Mappen legte er für seine Raritäten an. Ende der 30er-, Anfang der 40er-Jahre starb seine Frau. Da Beno Kaufmann an Altersdemenz litt, wurde er zunächst von seiner Wohnung am Nürnberger Platz 5 in eine Einrichtung für psychisch kranke Juden gebracht. Laut Deportationsliste kam er im August 1942 nach Theresienstadt, wo er vermutlich ermordet wurde. Seine Autographensammlung verkaufte später ein Berliner Antiquariat. Die Münzsammlung ging an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD). »In Fällen wie diesen arbeiten wir eng mit der SKD zusammen«, erläutert Nadine Kulbe. Nachfahren konnten sie dennoch nicht ausmachen.
Für den Fall, dass es noch einmal neue Erkenntnisse gibt, sind sämtliche Fälle in verschiedenen Datenbanken hinterlegt. Dafür ist im SLUB-Team der Historiker Robin Reschke zuständig. »Personen wie Max Geyer oder Beno Kaufmann tauchen in allgemeinen Quellen nicht auf. Wir haben in den wichtigen Datenbanken jetzt unsere Erkenntnisse abgespeichert, falls irgendwo anders Bücher mit diesen Merkmalen auftauchen«, erklärt Reschke. In der Deutschen Fotothek ist ein Bild des Merkmals mit sämtlichen Daten abgelegt, in der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek sind die Rechercheergebnisse ebenfalls dokumentiert. »So können wir unsere Ergebnisse transparent und für alle zugänglich machen. Jeder sieht, ob und was zu den einzelnen Fällen bekannt ist und muss nicht immer wieder bei Null anfangen. Das hilft natürlich auch bei der Rückgabe. Wir können unsere Erkenntnisse besser bündeln«, sagt er. Damit die zurückgegebenen Bücher für die Bibliotheken nicht verloren sind, archiviert Reschke sie ebenfalls elektronisch. »Auch das ist wichtig«, betont er: »Die Herkunft ›ihrer‹ Bücher ist für Bibliotheken grundsätzlich interessant, weil sie viel über ihre historische Zusammensetzung erzählt.« Es geht um das Bewusstsein, dass wir auch durch die Herkunft der Bücher viel über (Alltags-)Geschichte und Schicksale lernen. Nicht anders als bei Privatpersonen ist dies am Ende ein wichtiges Stück unserer Kulturgeschichte.
Am 10. April 2019 fand bundesweit zum ersten Mal der Tag der Povenienzforschung statt. Auch die Mitarbeiter des NS-Raubgut-Projektes in der SLUB erläuterten Interessierten ihre Arbeit. Sie hoffen, dass die Besucher im nächsten Jahr die Gelegenheit nutzen, auch eigene antiquarisch erworbene Bücher mitzubringen, um etwas über deren Geschichte zu erfahren.
Mehr zum Projekt unter: nsraubgut.slub-dresden.de/ns-raubgut
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 09/2019 vom 14. Mai 2019 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.