02.08.2023
Wie ein Dresdner Mathematiker den Wettlauf um eine lang gesuchte Zahl gewann
Der Dresdner Mathematiker Christian Jäkel war über sechs Jahre lang auf der Suche nach der 9. Dedekind-Zahl. Was er nicht wusste: er war nicht der Einzige. Als er am 3. April 2023 sein beeindruckendes Ergebnis der 42-stelligen Zahl auf dem Preprint-Server ArXiv veröffentlichte, folgte nur drei Tage später eine Publikation der Universität Paderborn, die das gleiche Ergebnis vorstellt. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, welches Christian Jäkel aufgrund seiner schnellen Veröffentlichung gewonnen hatte. Das Paderborner Team um den Informatiker Lennart Van Hirtum konnte jedoch zeigen, dass sie bereits im März 2023 das Ergebnis vorliegen hatten, sich jedoch über dessen Exaktheit noch nicht sicher waren. Am Ende sehen sich beide Forschungsgruppen durch ihre gegenseitigen Publikationen in ihrem Ergebnis bestätigt.
„Was beweisbar ist, soll in der Wissenschaft nicht ohne Beweis geglaubt werden“ – so lautet eines der bekanntesten Zitate des deutschen Mathematikers Julius Wilhelm Richard Dedekind (1831-1916). Und so sollte es nicht verwunderlich sein, dass Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt daran arbeiten, das sogenannte Dedekind-Problem, das wohl älteste Problem der Verbandstheorie, welche zur Algebra gehört, zu lösen. 1897 präsentierte der Visionär Dedekind eine Folge von ganzen Zahlen mit doppelt exponentiellem Wachstum, welche durch die Anzahl der Elemente einer algebraischen Struktur definiert ist. Heute wird diese Struktur als freier distributiver Verband mit n Erzeugern bezeichnet. Ein Beispiel aus dem Alltag für die Bestimmung der Dedekind-Folge liefert Manon Bischoff in einem Spektrum-Artikel vom 14.07.2023. Bis heute gibt es noch keine einfache Formel, um die sogenannten Dedekind-Zahlen d(n) zu berechnen. Die ersten vier Zahlen wurden von Dedekind selbst berechnet, d(5) von Randolph Church (1940), d(6) von Morgan Ward (1946), d(7) von Randolph Church (1965) und d(8) von Doug Wiedemann (1991).
Die Folge lautet:
d(1) = 3
d(2) = 6
d(3) = 20
d(4) = 168
d(5) = 7581
d(6) = 7 828 354
d(7) = 2 414 682 040 998
d(8) = 56 130 437 228 687 557 907 788.
Für die Berechnung von d(8) musste der Mathematiker Wiedemann den damaligen Cray2 Supercomputer gut 200 Stunden lang auf Hochtouren laufen lassen. Seit 1991 war die Bestimmung von d(9) eine offene Herausforderung, von der man nicht wusste, ob es überhaupt möglich sei, diese Zahl jemals zu errechnen.
Christian Jäkel stieß während seiner Doktorarbeit an der Fakultät Mathematik der TU Dresden auf das Problem und arbeitete sechs Jahre lang an einer Lösung. Mit Erfolg. „Eigentlich war das Dedekind-Problem nicht Inhalt seiner Dissertation, aber als er über die Problematik stolperte, war er zugleich davon fasziniert. Er war besessen von der Idee, die neunte Dedekind-Zahl zu bestimmen und hat sich damit sechs Jahre lang im Rahmen seiner Promotion beschäftigt. Schließlich hat er das Problem in Theorie durchdrungen und ein vergleichbar schlankes mathematisches Verfahren zur Berechnung der Zahl entwickelt. Ich finde es wichtig, dass die Wissenschaft genügend Freiheiten für solche visionären Ideen bietet und ich bewundere Christians Ehrgeiz, der am Ende von großem Erfolg gekrönt wurde“, berichtet Prof. Stefan Schmidt, Doktorvater von Christian Jäkel an der Fakultät Mathematik.
In den sechs Jahren Forschungsarbeit hat Christian Jäkel einen Algorithmus zur Berechnung der 9. Dedekind-Zahl aufgestellt. „Ich habe mit einer Technik gearbeitet, die wir als ‚shift‘ oder ‚jump‘ bezeichnen. Ich habe einen shift um 4 angewendet und weil 5+4=9 ist, habe ich im freien distributiven Verband mit d(5) = 7581 Elementen gearbeitet. Die Schlüsselaspekte sind die Verwendung von Matrixmultiplikation und Symmetrien im freien distributiven Verband, die mit Techniken der Formalen Begriffsanalyse bestimmt werden“, so stellte der Dresdner Mathematiker seinen bahnbrechenden Durchbruch auf der ICFCA 2023 (International Conference on Formal Concept Analysis) im Juli in Kassel vor. Die Fachwelt ist begeistert von der mathematischen Raffinesse und gratuliert dem 38-Jährigen. Er hat Formeln entdeckt, die eine effiziente Berechnung der Zahl auf Grafikprozessoren (GPU) erleichtern, was zu deutlich schnelleren Laufzeiten im Vergleich zu herkömmlichen CPU-Berechnungen führt. „Im Skiurlaub zwischen Weihnachten und Neujahr hatte ich den Ansatz mit der Matrixmultiplikation entdeckt. Das war das letzte Puzzlestück, was mir gefehlt hatte“, berichtet der begeisterte Mathematiker. Danach entwickelte er sein Programm, schrieb seine Theorie formal auf und arbeitete die nötigen Beweise aus. „Als ich alles fertig hatte, mietete ich mir im März acht Grafikkarten und startete die Berechnungen“, beschreibt Jäkel seinen Endspurt. 28 Tage liefen die acht Grafikkarten, bis Jäkel am 3. April 2023 das Ergebnis vor sich sah.
Die neunte Dedekind- Zahl mit 42 Stellen:
286386577668298411128469151667598498812366.
Zu dieser Zeit ahnte Christian Jäkel jedoch noch nicht, dass diese Zahl schon von einem anderen Team errechnet wurde. Am 8. März 2023 war der Informatiker Lennart Van Hirtum an der Universität Paderborn bereits auf die Zahl gestoßen – jedoch mit einer komplett anderen Methode. Mithilfe des dort beheimateten Supercomputers Noctua 2, eines über mehrere Jahre eigens entwickelten Programms und fünf Monaten Berechnungszeit kam das Team auf die gleiche 42-stellige Zahl. Auch sie wussten nichts von der Arbeit Christian Jäkels. Ihre Methode umfasste die von Prof. Dr. Patrick De Causmaecker (Universität Leuven) entwickelte Technik, die als P-Koeffizienten-Formel bekannt ist. Damit kann d(8) in lediglich acht Minuten auf einem normalen Laptop entschlüsselt werden. (vgl. mit dem Verfahren von Christian Jäkel kann die Berechnung von d(8) innerhalb von 10 Sekunden erfolgen). Doch das Paderborner Team war sich nicht sicher, ob ihre Berechnungen stimmten und so zögerten sie, das Ergebnis zu veröffentlichen. Erst als sie durch Zufall auf die Preprint-Veröffentlichung von Christian Jäkel stießen, wussten sie, dass ihr Ergebnis richtig war und setzten alle Mittel und Wege in Bewegung, um ihre Arbeit so schnell wie möglich ebenfalls öffentlich zu machen, was dann bereits drei Tage später geschah.
Als Christian Jäkel die Publikation von Van Hirtum und De Causmaecker sah, war er sehr überrascht: „Ich war geschockt, weil ich dachte, es würde fünf bis zehn Jahre dauern, ehe ein anderes Verfahren die Zahl verifizieren kann. Schon nach so kurzer Zeit sicher sein zu können, war überwältigend.“
Mit ihrer fast zeitgleichen Berechnung wurden sowohl Christian Jäkel, als auch Lennart Van Hirtum und Team als Entdecker der 9. Dedekind-Zahl in Wikipedia aufgenommen.
Und wie geht es weiter? Möchte Christian Jäkel vielleicht auch die 10. Dedekind-Zahl bestimmen? „Von d(7) zu d(8), und von d(8) zu d(9) vergingen jeweils circa 30 Jahre. Ich sehe keinen Grund, warum es von d(9) zu d(10) schneller gehen sollte. Die Zahl d(10) ist ungefähr 10^82 groß. Das entspricht der Anzahl an Atomen im sichtbaren Universum. Um dahin zu kommen, braucht es neue mathematische Methoden und vermutlich auch neue Hardware. Ich werde natürlich die Entwicklungen rund um die Dedekind-Zahlen genau beobachten. Es gibt Ideen, die ich ausprobieren möchte, aber ich mache mir dabei keine Hoffnung d(10) berechnen zu können“, beschreibt er die Herausforderung.
Über Christian Jäkel:
Christian Jäkel (MSc in Mathematik) ist Doktorand an der Technischen Universität Dresden - unter der Betreuung von Prof. Stefan E. Schmidt. Seine Forschung konzentriert sich auf Optimierungsprobleme in algebraischen Strukturen und deren Verhalten unter verschiedenen Produktoperationen. Seit 2018 arbeitet er als Softwareentwickler und beschäftigt sich mit Mustererkennung in 3D-Punktwolken.
Originalveröffentlichung:
Christian Jäkel. A computation of the ninth Dedekind Number. https://arxiv.org/pdf/2304.00895.pdf
Kontakt für Journalisten:
Christian Jäkel
Fakultät Mathematik
TU Dresden
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