21.06.2023
Voll Eifer danach streben, das Gute zu tun. Ein Nachruf auf Ursula Gräfin zu Dohna.
Vermutlich ist es eines der letzten glücklichen Fotos, das Ursula Gräfin zu Dohna, ihren Bruder Fabian und ihren Vater Heinrich im heimatlichen Tolksdorf (poln. Tołkiny) zeigt. Wegen der Verstrickung in das Attentat auf Hitler wird der Vater am 14. September 1944 hingerichtet. Seine Frau und die Tochter Ursula werden in Gefängnishaft genommen. Während die Mutter schließlich ins Frauen-KZ Ravensbrück transportiert wird, kann die Tochter wieder nach Tolksdorf zurückkehren. Mit Hilfe von Verwandten und Einheimischen versucht sie als Einzige der Familie vor Ort, dem fast 2.000 Hektar großen Betrieb mit der renommierten Pferdezucht, an der auch ihr Herz hängt, vorzustehen. Vergeblich.
Als sie im ostpreußischen Winter 1945 vor der Sowjetarmee fliehen muss, wird die 22jährige wegen ihres tadellosen Leumunds und ihrer exzellenten Fähigkeiten im Umgang mit Pferden die Führerin eines großen Trecks gen Westen. Ortsansässige, Bedienstete und Familienmitglieder schließen sich an. Mit Mühe und Not erreichen sie schließlich das mecklenburgische Pinnow bei Stavenhagen. Eigentlich bleibt keine Zeit, doch folgt Ursula zu Dohna einem vagen Hinweis auf den Verbleib ihrer Mutter und gelangt im Schutz von Waldwegen und der Dunkelheit nach Ravensbrück, wo sie sie nur durch List wiedersehen kann.
Währenddessen formiert sich der Flüchtlingstreck neu. Ein Teil sucht sein Schicksal in Richtung Schleswig-Holstein, andere bleiben. Die verwandten Maltzahns in Pinnow, die um ihr zweifelhaftes Schicksal wussten, überlassen ihre Kinder dem neuen Treck in der Obhut ihrer Cousine. Das Ziel ist die Familie ihrer Tante, Ilse Gräfin von Kanitz, im westfälischen Cappenberg.
Der neue Treck ist der zunehmenden Gefahr von Fliegerangriffen ausgesetzt. Am 20. April gilt es das Nadelöhr der Dömitzer Brücke an der Elbe zu passieren, auf der sie bereits mit Ästen getarnte Rüstungsfahrzeuge erspähen. Ein gefahrloses Passieren ist für die Pferde unmöglich, da sie scheuen würden. Als die junge Dohna am Himmel einen Reflex wahrnimmt, wird ihr klar, dass Bomber in Anflug sind. In Sekundenschnelle gibt sie Befehle und treibt Pferde und den Tross mit heftiger Gewalt, Kraft und Schnelligkeit voran. Als alle das Dannenberger Ufer erreichen, wird hinter ihnen die Brücke in Schutt und Asche gelegt. Ursula zu Dohna und ihr Treck sind die letzten, die die Brücke passiert haben.
Die Biographie der jungen Frau wird schließlich vom Nachkriegsdeutschland geprägt, von ihrer Lehre im Gartenbau, doch wird sie ihre ostpreußische Heimat nie vergessen. Dort hatte sie im Elternhaus gelernt, die Kargheit an Mitteln und Möglichkeiten durch Kunstsinn und Charakter zu veredeln. Ihre Liebe zur Kalligraphie und zur Kunst des Ikebana – die auf die Reduktion des Wesentlichen abzielt – entsprechen ihrem geradezu künstlerisch-strengen Sinn.
In das Fach Gartengeschichte und Gartendenkmalpflege gerät sie eher als Seiteneinsteigerin. Mit Herta Gollwitzer, Mitbegründerin der DGGL und Lehrbeauftragten für die „Geschichte der Gartenkunst“ in Weihenstephan, weiß sie eine Förderin neben sich. Da Gollwitzer inhaltlich und sprachlich bei der Konstituierung der Charta von Florenz an ihre Grenzen gerät, übernimmt Ursula zu Dohna. Ihr ist letztlich das Verdienst zuzuschreiben, auf der deutschen Seite am Gelingen des Abkommens aktiven Anteil gehabt zu haben.
Da Ursula zu Dohna nichts Materielles geerbt hat, weiß sie, wie wichtig ideelle Werte sind. Sie lernte, dass Erbe nicht wirtschaftlich zu bemessen ist, sondern das Sprichwort gilt: „Was Du ererbt von den Vätern, erwerbe es, um es zu besitzen.“ Ihr Augenmerk fällt deshalb nach ihrer Pensionierung auf die privaten und historischen Gärten ihrer Wahlheimat. Sie wird zur Mitbegründerin der „Niedersächsischen Gesellschaft zur Erhaltung historischer Gärten“, die bis heute durch eine beigefügte Stiftung zahlreiche Projekte initiiert.
Darüber hinaus bleibt ihr akademisches Interesse bis ins hohe Alter bestehen, wobei sie nicht nur Projekte und Publikationen (erinnert sei an die Gärten der preußischen Königskinder), sondern auch stets den wissenschaftlichen Nachwuchs im Auge behält.
Auf die Frage nach ihren überaus gelungenen, wissenschaftlichen und unterhaltsamen Publikationen, antwortet sie einmal, dass sie nie gern geschrieben habe und jedes Wort deshalb abgewogen sei. Präzision, Strebsamkeit und Disziplin verlangt sie von sich und ihren Schülern und Schülerinnen. Ihr bleibt es immer unverständlich, warum die veredelnde Gartenkunst durch den Begriff des Freiraums ersetzt wurde. Angesichts der zunehmenden Vermarktung vertritt sie deshalb immer die Meinung, dass der Freiraum kein „freier“ Raum neoliberaler Wirtschaftsspiele sei, sondern ein Wert für sich.
Vor dem Hintergrund der Denkmalpflege und letztendlich auch ihrer Familie agierte Ursula zu Dohna immer als aufrichtige Konservatorin.
In der Nacht von Sonntag, den 4., auf Montag, den 5. Juni 2023, ist Ursula zu Dohna, bei Familienmitgliedern und Freunden als „Tante Ulla“ und bei Kollegen als „Gartengräfin“ bekannt, im 101. Lebensjahr entschlafen.
Ihr Wirken und Handeln, das im Wesentlich im christlichen Glauben fußte, schien unter dem Motto zu stehen: Voll Eifer danach streben, das Gute zu tun (vgl. Tit. 2,15).
In großer und aufrichtiger Dankbarkeit gilt es von ihr Abschied zu nehmen und ihrem Vorbild zu folgen.
Marcus Köhler