Dresdner Stahlbaufachtagung 2016 (10.03.2016)
Stand und Entwicklung der Europäischen Stahlbaunormung
Am 10. März 2016 fand die Dresdner Stahlbaufachtagung im großen Hörsaal des Potthoff-Baus an der Technischen Universität Dresden statt. Zum zehnjährigen Jubiläum konnten die Veranstalter, das Institut für Stahl- und Holzbau der TUD und die Bauakademie Sachsen, rund 200 Gäste begrüßen. Die Tagung wurde wie in den vergangenen Jahren durch bauforumstahl e. V., die Forschungsvereinigung Stahlanwendung e. V. (FOSTA), die Ingenieurkammer Sachsen, den Verband Beratender Ingenieure (VBI), den Verlag Ernst & Sohn und die Baukammer Berlin unterstützt.
Unter dem diesjährigen Motto „Stand und Entwicklungen in der Europäischen Stahlbaunormung“ war die überwiegende Zahl der Vorträge den Eurocodes für den Stahlbau, deren Entwicklung und Fortschreibung gewidmet. Ergänzend hierzu wurden Themen der Stahlbauforschung, die Ausführung von Stahltragwerken nach EN 1090 und die Planung und Ausführung von Großbrücken in Stahl- und Verbundbauweise behandelt. Zu den jeweiligen Fachthemen trugen ausgewiesene Referenten aus Lehre, Forschung und Praxis vor.
Prof. Richard Stroetmann, Direktor des Instituts für Stahl- und Holzbau der TU Dresden, eröffnete die Veranstaltung und begrüßte die Teilnehmer. Anschließend sprach Herr Dipl.-Ing. Ralf Luther, Präsident des Deutschen Stahlbauverbandes und stellvertretender Vorstandsvorsitzender von bauforumstahl, in seinen Grußworten über die Möglichkeiten bei der Weiterentwicklung der derzeitigen Normung. Die nächste Normengeneration sollte nicht nur Forschungsergebnisse in die Praxis transferieren, sie bietet vor allem die Chance zur Umstrukturierung und Vereinfachung der Eurocodes, um diese für den Anwender einfacher handhabbar zu machen und damit die Stahlbauweise zu fördern.
Im Anschluss gab Prof. Stroetmann in seinem Vortrag „Weiterentwicklung der Tragsicherheitsnachweise in EN 1993-1-1“ eine Übersicht über die laufende Normungsarbeit und bereits im SC3 beschlossene Änderungen, die den Teil 1-1 des Eurocode 3 betreffen. Derzeit ergibt sich zwischen Querschnitten der Klassen 2 und 3 ein Sprung in den rechnerischen Querschnittstragfähigkeiten, der durch den Wechsel von der plastischen zur elastischen Berechnung bedingt ist. In der Neufassung des Teiles 1-1 ist die Möglichkeit einer teilplastischen Ausnutzung vorgesehen, die einen kontinuierlichen Übergang von den Klasse-2- zu den Klasse-4-Querschnitten schafft. Mit Bezug auf die von Herrn Luther angesprochene Vereinfachung wies Prof. Stroetmann darauf hin, dass die teilplastischen Querschnittstragfähigkeiten genauso wie die vollplastischen Werte in Abhängigkeit der Festigkeitsklasse tabelliert werden können, wie z. T. schon geschehen. Neben Änderungen zur Querschnittsklassifizierung ging Prof. Stroetmann in seinen weiteren Ausführungen auf zahlreiche Neuerungen bei den Stabilitätsnachweisen von Stäben und die Integration der technischen Regeln zu den höherfesten Stählen des derzeitigen Teils 1-12 in den Teil 1-1. Im Anschluss an seinem Vortrag übernahm Prof. Stroetmann die Moderation für den weiteren Verlauf der Tagung.
Herr Dipl.-Ing. Matthias Albiez von der Versuchsanstalt für Stahl, Holz und Steine des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) sprach im zweiten Fachvortrag über neue Verbindungstechnologien im Stahlbau. Nach einigen einführenden Worten zu Entwicklungen bei geschweißten und geschraubten Verbindungen im Stahlbau, wie der Schweißnahtnachbehandlung durch höherfrequente Hämmerverfahren und Verbindungen mit Injektionsschrauben, widmete er sich den im Stahlbau noch selten angewendeten Klebverbindungen. Entwicklungstechnisch steht die Branche bei dieser Verbindungstechnik dem Maschinen- und Fahrzeugbau weit nach. Das Kleben bietet einige Vorteile, wie z. B. die Möglichkeit zur Verbindung verschiedener Werkstoffe oder den Toleranzausgleich an der Baustelle durch dickere Klebeschichten. Dem gegenüber stehen geringere Festigkeiten von Verbindungen mit größeren Schichtdicken und die hohen Materialkosten bei den im Stahlbau erforderlichen Mengen an Klebstoff. Als Lösungskonzept für Verbindungen von Hohlprofilen stellte Herr Albiez hybride Klebeverbindungen vor, bei denen eine Granulatschicht auf beide Kontaktflächen mit einer organischen Dünnschichtklebung aufgebracht und der verbleibende Spalt mit Vergussmörtel verfüllt wird. Derzeit laufen Untersuchungen beim KIT zur Entwicklung und Auslegung dieses Verbindungstyps.
Nach der Kaffeepause referierte Frau Priv.-Doz. Dr.-Ing. habil. Bettina Brune von der Technischen Universität Dortmund über den Stand und die Fortschreibung der Bemessungsregeln für kaltgeformte dünnwandige Stahlbauteile. Aufgrund der Beulgefährung, die noch überlagert wird durch das Biege- oder Biegedrillknicken von Querschnittsteilen (distortional buckling), ist der Nachweis der Gesamtstabilität dünnwandiger Bauteile mit erheblichem Aufwand verbunden. Frau Dr. Brune verstand es, eine gute Übersicht über die komplexen Regelungsinhalte des Teil 1-3 zu den Nachweisen der Bauteile und der Verbindungen sowie deren mechanischen Hintergründe zu vermitteln. Als Alternative zur aufwendigen Bestimmung der wirksamen Querschnitte wies Frau Dr. Brune auf die „Direct Strength Method“ hin, die sich im amerikanischen Raum bereits durchgesetzt hat, in Europa jedoch noch nicht normativ eingeführt wurde.
Im weiteren Verlauf des Vormittages präsentierte Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Gerhard Lener von der Universität Innsbruck Hintergründe und Entwicklungen zu den Stabilitätsnachweisen nach EN 1993-1-5. Er ging ausführlich auf das derzeitige Bemessungskonzept ein bevor er weitere Entwicklungen des Normenteils erläuterte. Diese sind z. B. in Form der Erweiterung und Anpassung der Interaktionsnachweise für verschiedene Schnittgrößenkombinationen sowie dem Ausbau der derzeit sehr knapp gefassten Methode der reduzierten Spannungen zu erwarten. Die Bemessungskonzepte bleiben in ihren Grundprinzipien erhalten, mit einer Revision ist voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2020 zu rechnen.
Den Nachmittagsblock eröffnete Ass. Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Andreas Taras von der TU Graz (seit dem 1. April 2016 an der Universität der Bundeswehr München) mit seinem Vortrag über den Stand und Neuerungen zu EN 1993 Teil 1-9 - Ermüdung und Teil 1-10 - Stahlsortenauswahl. Die Kerbfalltabellen im Teil 1-9 werden derzeit auf ihre Konsistenz zu den Regeln für die Ausführung nach EN 1090-2 geprüft und angepasst. Die Ermüdungsfestigkeit geschweißter Verbindungen ist in hohem Maße von der Ausführungsqualität der Schweißnähte abhängig. Dies ist im Anforderungskatalog der Kerbfalltabellen nicht hinreichend berücksichtigt. Auch sollen Empfehlungen des International Institute of Welding (IIW) bzgl. der Einordnung von Kerbfällen bei niedrigerer Ausführungsqualität nach ISO 5817 berücksichtigt werden. Weitere Entwicklungen zum Teil 1-9 betreffen die Sicherheitsfaktoren für das „Safe-Life-Konzept“, die geometrischen Kerbfaktoren kf zur Berücksichtigung von Exzentrizitäten in Stumpfstößen von Schweißverbindungen sowie den Anhang B zum Strukturspannungskonzept. Die Neuauflage der EN 1993-1-10 - Stahlsortenauswahl wird einige Erweiterungen gegenüber dem vorliegenden Regelungsumfang erhalten. Als Beispiele führte Prof. Taras erweiterte Regeln für kaltgeformte Profile, die Ausweitung auf nicht ermüdungsgerecht ausgeführte Kerbdetails und die Berücksichtigung günstigerer Kerbdetails als bisher dem Teil 1-10 zugrunde gelegt, auf.
Im Anschluss stellte Prof. Dr.-Ing. Michael Volz von der Hochschule Offenburg in seinem Vortrag zum Thema „Ausführung von Stahltragwerken – praktische Umsetzung der EN 1990“ die Überleitung von der Ermüdungsfestigkeit nach Teil 1-9 des Eurocode 3 zu den Ausführungsklassen in EN 1090-2 her. Durch die Zuordnung von Bauwerken und deren Bauteile zu diesen Klassen werden Güteanforderungen und Prüfumfänge festgelegt. Für im Werk hergestellte tragende Bauteile ist ein Konformitätsnachweis nach EN 1090-1 zu erbringen. Gegenstand sind dabei die werkseigene Produktionskontrolle, die Leistungserklärung des Herstellers und die CE-Kennzeichnung. Wie die Werksfertigung von Stahlbauteilen unterliegt die Montage und deren Qualitätssicherung den Regeln der EN 1090-2. Die für das kommende Jahr angekündigte Neuauflage der EN 1090 wird nach Angabe von Prof. Volz jedoch wegen notwendiger weiterer Abstimmungen auf Europäischer Ebene erst in einigen Jahren zu erwarten sein.
Die letzten beiden Vorträge der Dresdner Stahlbaufachtagung waren dem Brückenbau gewidmet. Dr.-Ing. Markus Porsch von der HRA Ingenieurgesellschaft stellte in seinem Vortrag über die „Planung und Ausführung von Großbrücken im Stahl- und Verbundbau“ exemplarisch am Beispiel der Aftetalbrücke aktuelle Fragestellungen beim Entwurf und dem Bau großer Talbrücken vor. Die grundsätzlichen Überlegungen zur Querschnittswahl des Überbaus, der Systemidealisierung bei der Tragwerksberechnung und der Montageplanung sind für jede Brücke notwendig. Bei der Aftebrücke wurde ein Stahlkastenträger mit in Querrichtung spannender Stahlbetonfahrbahnplatte als Verbundtragwerk ausgeführt. Die Montage erfolgte in 7 Verschubphasen im Taktschiebeverfahren. Auf eine Reihe besonderer Aspekte musste bei der Planung und Ausführung geachtet werden. Ein Beispiel hierfür sind die Windeinwirkungen während der Montage, die mit strömungsgünstiger Verkleidung des Überbaus durch Vorsatzkeile reduziert wurden.
Im abschließenden Vortrag sprach Herr Prof. Dr.-Ing. Klaus Thiele von der Technischen Universität Braunschweig über Erfahrungen und Entwicklungen bei der Planung, Ausschreibung, Fertigung und Montage von Stahl- und Verbundbrücken. Im Zuge der Digitalisierung im Bauwesen werden Werkstattplanungen immer häufiger mit 3D-Modellierungen erstellt. Dies bietet einige Vorteile, wie zum Beispiel die geometrische Sicherheit auch bei komplexen Details, die Möglichkeit zur Visualisierung des Montageablaufs sowie das nachträgliche Anpassen der spannungslosen Geometrie, bei der durch Festlegung entsprechender Bauteilabmessungen Verformungen der Tragstruktur ausgeglichen werden. Bei der Fertigung wird immer häufiger von der Möglichkeit der Automatisierung Gebrauch gemacht. Abschließend sprach sich Prof. Thiele für einen vermehrten Einsatz von Verbundbrücken bei kleineren und mittleren Spannweiten aus. Durch den hohen Vorfertigungsgrad können an wichtigen Verkehrsverbindungen die Sperrzeiten deutlich reduziert werden.
Die Pausen boten den Teilnehmern neben der Versorgung mit Speisen und Getränken auch den Rahmen für vertiefende Fachdiskussionen und den persönlichen Austausch. Im Foyer präsentierten Aussteller ihre Produkte und Dienstleistungen. Die Resonanz der Teilnehmer und Referenten war sehr positiv. Dies motiviert die Veranstalter, im kommenden Jahr am 29. März 2017 die Dresdner Stahlbaufachtagung mit Themen zur Normung, Berechnung und Ausführung rund um den Stahl- und Verbundbau fortzusetzen.
Dipl.-Ing. Lars Werner
Technische Universität Dresden
Institut für Stahl- und Holzbau