Aug 01, 2018
Sommer, Sonne, Urlaub: Ich schreibe eine Postkarte.
Jeder hat bestimmt schon mal eine bekommen und eine geschrieben. Urlaubskarten waren bis vor ein paar Jahren ein Muss, wenn man verreiste. Mit ihnen wurde gezeigt, welchen Urlaub man sich gönnte und leisten konnte. Aber mit ihnen zeigten die Reisenden auch, dass sie an die Lieben zu Hause denken. Wie sich die Idee von Urlaub im Verlauf der letzten Jahrzehnte verändert hat, erforscht das Projekt "Textsortenentwicklung zwischen Standardisierung und Variation: Das Beispiel der Ansichtskarte. Text- und korpuslinguistische Untersuchungen zur Musterhaftigkeit privater Fern- und Alltagsschriftlichkeit."
„Unser Forschungsprojekt ist eine Kooperation der Universität Zürich und der Technischen Universität Dresden“, erklärt Josephine Obert, Doktorandin bei Prof. Joachim Scharloth. „Es wird in Zusammenarbeit mit Dr. Noah Bubenhofer vom Institut für Computerlinguistik und Prof. Dr. Heiko Hausendorf, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Zürich sowie Prof. Dr. Joachim Scharloth, Professor für Angewandte Linguistik an der TU Dresden geleitet.“
An der Universität Zürich existiert schon länger eine große Postkartensammlung, die aufgrund eines Zeitungsaufrufs von Prof. Hausendorf an die Universität geschickt wurden. Die Sammlung besteht aus über 13.000 Ansichtskarten von 1900 bis in die 2000er. Aus den ersten Jahren gibt es allerdings zu wenig Karten, um quantitativ damit zu arbeiten. Deshalb haben die Forscher den Zeitraum für die Analyse eingeschränkt. „Wir untersuchen die Postkarten von 1950 bis 2000 sowohl textlinguistisch als auch kulturwissenschaftlich“, berichtet Prof. Scharloth. Im Mittelpunkt steht u.a. die Frage, wie sich die Idee von Urlaub im Verlauf der Zeit verändert hat. „Dazu muss man aber wissen, dass die Postkarten früher nur Ansichtskarten mit einen Foto und einem Adressfeld waren. Es gab kein Feld für eigenen Text. Irgendwann haben die Leute angefangen auf das Bild zu schreiben. Daraufhin gab es ein kleines Kästchen auf dem Foto, in das man Grüße schreiben konnte. Später wurde die Bildseite von der Textseite getrennt und schlussendlich wurde das Schreibfeld auf die Adressseite gedruckt. Das sind Entwicklungen, die zeigen, was Menschen mit dieser Karte gemacht haben.“ erklärt Frau Obert.
Die Wissenschaftler haben sich für Postkarten entschieden, weil sie „eine interessante Form der Kommunikation sind“, erklärt Prof. Joachim Scharloth „und über einen sehr formalisierten Schreibstil verfügen. Es ist also eine extrem musterhafte Textsorte“. Typische Textmuster auf einer Ansichtskarte sind z.B. „schöne Grüße aus …“, „hier ist es schön …“, „auf hoffentlich bald …“. Meist werden noch ein paar Aktivitäten aufgezählt. Das Schreiben einer Karte ist meist nicht intentional. Sie wird geschrieben, um zu zeigen, dass man an den anderen denkt und um zu zeigen, wo der Schreibende Urlaub macht, welche Aktivitäten er unternimmt und aber auch um zu zeigen was er sich leisten kann. „Hier macht man sich nicht so aufwendig Gedanken wie bei einem Brief“, erläutert der Wissenschaftler „aber genau deswegen ist die Textsorte sehr spannend. Es gibt viele Textmuster, die reproduziert werden.“ So lässt sich die historische Entwicklung von Urlaub nachvollziehen. Der Inhalt der Karten zeigt, was zum Urlaub gehört und gehören muss, um als gelungener Urlaub gesehen zu werden. Dies beinhaltet Beschreibungen über das Essen, Hotel, Wetter und über Aktivitäten. „Dabei variiert historisch, was relevant für die Karte ist und welche Sachverhalte referiert werden, die nicht unmittelbar mit dem Urlaub verbunden sind“, beschreibt Frau Obert. Ihr Dissertationsprojekt befasst sich im Rahmen dieses Forschungsprojekts mit Textmusterdynamik in den Postkarten. Sie untersucht, wie Textmuster berechnet werden und wie die Dynamik von Textmustern nachvollzogen und gedeutet werden können. Die Wissenschaftlerin sagt dazu: „Es geht um Fragen, wie sich die Bestandteile einer Postkarte mit der Zeit ändern, woher dieser Wandel kommt und wie er erklärt werden kann. Eine weitere interessante Fragestellung ist die, warum einige Teile einer Karte immer Bestandteil sein müssen und andere fakultativ verwendet werden.“
Die Aufgabe des Teams in Dresden ist es also, Textsorten durch bestimmte Muster automatisch zu erkennen. Dafür verbinden die Forscher textlinguistische und korpuslinguistische Arbeitsmethoden miteinander. Die Vorarbeiten sind abgeschlossen, die Postkarten digitalisiert und so aufbereitet, dass damit gearbeitet werden kann. „Neben den Urlaubsgrüßen haben wir auch noch verschiedene Metadaten erhoben, wie Geschlecht, Anzahl der Sender und Empfänger, Datum und woher die Karte kam und wohin sie gingen“, beschreibt Josephine Obert. Die Daten wurden maschinell nach Bestandteilen wie Essen, Trinken, Hotel, Unterkunft und Aktivitäten getaggt, in Zürich wurden außerdem 1.500 Karten für die textlinguistische Analyse manuell mit weiteren thematischen Kategorien annotiert. „Jetzt beginnt der spannende Teil unserer Arbeit“, sagt Prof. Scharloth. „Das Korpus liegt vor, die ersten Analysen laufen und die ersten Muster konnten wir bereits berechnen.“ Mit diesen Ergebnissen können die Wissenschaftler bereits erste Aussagen über die Nutzung bestimmter Wörter und Textbausteine machen: Die Verwendung des Worts ‚genießen‘ hat sich über den Untersuchungszeitraum extrem gesteigert. Vor allem in den letzten Jahren wird ‚Genießen‘ immer mehr zur Leistung. Es mutiert zu einer Aktivität: ‚Wir genießen die Berge, den Schnee, usw.‘ „Wir haben auch untersucht wie oft das Wort ‚gut‘ genutzt wird“, erklärt Scharloth. „In den 70iger Jahren wurde es noch sehr stark benutzt. Mit der Zeit wurde es aber immer weniger verwendet, dafür wurden die Worte wie ‚wunderschön‘ und ‚wunderbar‘ immer mehr geschrieben. Das Essen ist nicht mehr gut, sondern wunderbar. Es findet eine Emotionalisierung in der Sprache statt.“ ‚Spaß haben‘ ist ebenso ein beispielhaftes Textmuster, dass in den 50iger und 60iger anders verwendet wurde als heute. „Früher hatten die Leute immer an etwas Spaß und heute haben wir viel Spaß“ legt Prof. Scharloth dar. „Das sind Formulierungsmuster, die sich seit den 90igern ausgebreitet haben und wir fragen uns: woher kommt das, warum kann man heute sagen ‚wir haben Spaß‘. Für uns erscheint das als selbstverständlich, aber noch vor 40 Jahren haben die Leute das nicht verstanden.“
Weitere Informationen unter: https://linguistik.zih.tu-dresden.de/ansichtskarten/