Beitrag der Schulforschung
Wolfgang Melzer Der Beitrag der Schulforschung zur Qualitätssicherung und Entwicklung von Schule In: Erziehungswissenschaft H. 16/1997, S. 16-23 |
Schule befindet sich in einem stetigen Wandel, der sich aus der Anforderungsstruktur einer sich permanent verändernden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und aus der Selbstreferenz des politisch-administrativ organisierten Systems Schule ergibt. Diese Prozesse vollziehen sich im Alltag und verlaufen teilweise unkontrolliert, so dass sich im Ergebnis einer über 200-jährigen Geschichte des staatlichen Schulsystems in Deutschland eine große Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Schulformen und Schullaufbahnen sowie der Inhalte und Methoden des Lehrens und Lernens ergeben hat. Als Gegentrend zu dieser "Diversifizierung des Bildungssystems" (Melzer/Hurrelmann 1990) gibt es vonseiten der Bildungsplanung immer wieder Versuche, die heterogenen Schulsysteme der Bundesländer zu standardisieren, sei es durch grundlegende Formen "zentralistischen" Zuschnitts wie in der Vergangenheit, sei es durch Formulierung und Verabschiedung gemeinsamer Minimalstandards, wie es die gegenwärtige Politik unternimmt (vgl. u. a. Kultusministerkonferenz).
Von den großen Projekten früherer Tage verdienen der Rahmenplan des "Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen" sowie der Strukturplan des "Deutschen Bildungsrates" eine besondere Erwähnung, da sie die weitreichendsten Versuche einer grundlegenden Modernisierung und Vereinheitlichung des Bildungssystems im Westdeutschland der Nachkriegszeit darstellen. Versuche wie diese sind letztlich am parteipolitisch geführten Streit der A- und B-Länder (SPD- bzw. CDU-geführte Bundesländer) und an fiskalischen Fragen gescheitert - mit der Folge der skizzierten Unübersichtlichkeit.
Diese ist durch die Vereinigung Deutschlands und die Transformation der DDR-Einheitsschule in neue differenzierte Schulformen nicht geringer geworden - im Gegenteil: es kommt eine weitere Schulart hinzu, ein teilintegriertes, zumindest kooperatives System - in Sachsen "Mittelschule", in Thüringen "Regelschule" und in Sachsen-Anhalt "Sekundarschule" genannt -, das in diesen Bundesländern flächendeckend eingeführt worden ist.
Die klassischen Steuerungsversuche des Schulsystems vollziehen sich über ein staatlich-bürokratisches Schulaufsichts- und Inspektionssystem mit Schulbehörden und Schulaufsichtsbeamten, von denen über Erlasse und Verordnungen sowie über Inspektionen und "Besuche" die Schulen bei der Wahrnehmung ihrer im weitesten Sinne gesetzlich definierten Aufgaben kontrolliert werden. Über die Kultusministerien und deren nachgeordnete Behörden werden in curricularen Fragen, durch Lehrerfort- und -weiterbildung sowie durch Schulversuche im begrenzten Umfang neue Impulse für die Schulentwicklung gegeben. Die Wissenschaft tritt allenfalls in diesem letzten innovativen Teil und nur als Juniorpartner der Ministerialbürokratie auf, die Schulen sind häufig nur Adressaten der eingeleiteten Maßnahmen.
Ein weiterer praktizierter Ansatz der Evaluation sind Input-Output-Analysen, wie sie z. B. von internationalen Organisationen, die für Bildungsprozesse zuständig sind (OECD, WHO), durchgeführt werden. Dieser Ansatz hat vor allem im Bereich der Erhebung von Bildungsstatistiken mit internationalen Vergleichsdaten seine Stärken und ermöglicht eine Formulierung allgemeiner Standards für z. B. Bildungsausgaben, Schüler-Lehrer-Relationen, aber auch im Hinblick auf einige Kriterien zur Qualität der Institution (Leitung der Schule, Lehrerkooperation) sowie pädagogische Kriterien (differenziertes und integriertes Lernen, Leistungsorientierung der Schüler) (vgl. Scheerens 1995).
Internationale Vergleichsuntersuchungen mit standardisierten Leistungstests wie die neulich erschienene TIMSS-Studie (Baumert/Lehmann u. a. 1997) gehören ebenfalls in diese Kategorie von Evaluation. Als Nachteile des Input-Output-Konzeptes werden angeführt, - "daß die Indikatoren 'fremdbestimmt' sind und nicht aus dem pädagogischen Selbstverständnis und aus der spezifischen 'Kultur' der einzelnen Bildungseinrichtungen abgeleitet sind, - daß es quantifizierbare Indikatoren gegenüber qualitativen bevorzugt, - daß es die Beziehungen zwischen Input und Output letztlich als 'black box' behandelt und wenig Information über Prozesse und Transaktion liefert und - daß sich im Ländervergleich oft Bildungssysteme von (z. B. asiatischen) Ländern als besonders effektiv erweisen, deren Bedingungen (z. B. schlechte Bezahlung der Lehrer, Verzicht auf Differenzierung, Frontalunterricht) in anderen Ländern keine Akzeptanz finden, so dass sich die Ergebnisse nicht in generalisierbare Empfehlungen überführen lassen" (Flechsig/Kanther 1997, S. 5).
Dennoch scheint es so, dass die für den Bildungssektor verantwortlichen Politiker in einer Leistungsevaluation der Schüler den Königsweg der Qualitätssicherung von Schulen sehen, obwohl der so festgestellte "Output" vollkommen von der sozialen Rekrutierung und den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler abstrahiert und auch die pädagogischen Prozesse, die zu den Testergebnissen geführt haben, weitgehend ausblendet. Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, dass "Output" nicht mit "Outcome" zu verwechseln ist und die Ergebnisse von Schulleistungstests nur einen geringen Prognosewert für die Bewältigung von Aufgaben im Studium und im späteren Beruf besitzen (vgl. Timmermann 1996). Wenn diese Kritik richtig ist, wäre es fahrlässig, ausschließlich auf diese Evaluationsmethode zu setzen.
In der schulbezogenen Forschung hat sich in den letzten Jahren ein weiterer Ansatz der Qualitätssicherung etabliert, der mittlerweile auch von der Bildungsadministration einiger Bundesländer aufgegriffen worden ist und sich mit Begriffen wie Organisationsentwicklung, Selbstorganisation und Schulautonomie charakterisieren lässt (vgl. u. a. Rolff 1996). Der Grundsatz besteht darin, dass Schulen die Kriterien und Prozesse ihrer Entwicklung selbst definieren und spezifizieren können - mit dem Ziel, eine eigene Organisationskultur und ein eigenständiges pädagogisches Konzept zu entwickeln und zu optimieren. Dabei werden Experten (z. B. Schulforscher, Bildungssoziologen) und Moderatoren (Begleiter, Berater) mit herangezogen.
Diese Linie wird mit einem an der TU Dresden von der "Forschungsgruppe Schulevaluation" entwickelten Konzept der Evaluation und Qualitätssicherung von Schulen weiterverfolgt. In Zusammenarbeit mit 10 Modellschulen und auf der Basis einer Repräsentativ-Auswahl allgemeinbildender Sekundarschulen im Freistaat Sachsen wurde mit Hilfe von Schüler- und Lehrerbefragungen ein sog. "Schulqualitätsindex" als Bewertungsmaßstab der Evaluation für das Schulsystem insgesamt, für die bestehenden Schulformen (Mittelschulen, Gymnasien) und ihren Vergleich sowie für die Einzelschulen entwickelt. Mit den durchgeführten wissenschaftlichen Arbeiten werden einerseits theorieproduktive Zwecke und andererseits handlungsorientierte pädagogische Ziele für die Arbeit mit den einzelnen Schulen verfolgt.
Die Überprüfung theoretischer Modelle zur Schulqualität hat - kurz zusammengefasst - zu folgenden Ergebnissen geführt (vgl. ausführlich: Melzer/Stenke 1996). Wichtige Aspekte der Schulqualität sind die Lehrerprofessionalität (z. B. Methodenkompetenz, Förder- und Integrationskompetenz), das Schul- und Klassenklima, die bestehenden Partizipationsmöglichkeiten für Schüler (und Eltern) sowie die Schulökologie (räumliche Aneignungsmöglichkeiten, außerunterrichtliche Angebote, Schulleben). In den Schulen, die auf eine in diesem Sinne positive Schulkultur verweisen können, haben Schüler eine überdurchschnittliche Freude am Lernen, sehen den Sinn des Lernens eher ein, haben bessere Schulnoten und besitzen ein positiveres Leistungsselbstkonzept. Sie empfinden in geringerem Maße Druck, Belastung und Angst; auch finden sich an solchen Schulen in den Lerngruppen weniger Außenseiter. Schließlich konnte festgestellt werden, dass abweichendes, aggressives und gewaltförmiges Schülerverhalten in dem Maße abnimmt, wie die jeweilige Schule die o. g. Qualitätskriterien erfüllt.
Der Teil des Schulqualitätsindexes, der auf den Schülerbefragungen basiert, umfasst insgesamt 25 Kriterien, von denen in der Abbildung (s. u.) 12 ausgewählte Faktorvariablen dargestellt sind. Ebenso wie in der Wissenschaft unterschiedliche Positionen in der Frage der Schulqualität bestehen, ist es auch in der Schulpolitik und erst recht in den vielen einzelnen Schulen durchaus strittig und einen Diskurs wert, was unter einer "guten Schule" im Einzelnen zu verstehen ist - daher die Idee eines relativ offenen Instrumentariums, das genügend Gestaltungs- und Interpretationsspielräume für die Schulen lässt. Der Schulqualitätsindex ist also als eine Art Checkliste zu verstehen, deren Einzelkriterien für die jeweilige Schule bedeutsam sein können. So enthält der Index nebeneinander und ohne vorgenommene Gewichtung Statusmerkmale der Schüler (z. B. Leistungsstatus), Kontextvariablen (z. B. Schulatmosphäre, räumliche Gestaltung der Schule) oder Skalen zur Schülerbefindlichkeit (z. B. Schulangst).
In welcher Weise lässt sich der Index bei der Schulevaluation und Schulentwickung einsetzen?
Erstens ermöglicht er Aussagen über die Qualität des schulischen Gesamtsystems, einen Vergleich der Schulformen und über die Befindlichkeiten und Einstellungen von Schülern, die mit denen der Lehrer verglichen werden können. Das interessanteste Ergebnis hierzu: Bei den weitaus meisten Kriterien waren keine oder nur geringe Unterschiede zwischen Mittelschulen auf der einen und Gymnasien auf der anderen Seite zu verzeichnen. Bei einigen Kriterien, nach denen die Mittelschule schlechter abschnitt, z. B. abweichendes Verhalten/ Gewalt in der Schule oder Schulabschlusserwartungen, verweisen die Befunde eher auf Sozialisationsprobleme bzw. Prädisposition durch die Familien denn auf Spezifika und Organisationsprobleme der Mittelschule. Im Wesentlichen bestätigen sich die Ergebnisse der auch international geführten Debatten um Schulqualität: die Unterschiede der Einzelschulen fallen deutlicher aus als die Unterschiede zwischen den Schulformen. So waren bei dem Qualitätskriterium "Schulatmosphäre" die beiden jeweils besten Schulen eine Mittelschule und ein Gymnasien. Ebenso waren im mittleren Bereich und am Ende der Rangreihe beide Schulformen vertreten. Es gibt ebenso wenig Schulen die auf der ganzen Linie vorbildlich sind, wie solche, die nur schlechte Ergebnisse verzeichnen. Vielmehr besitzt jede Schule ein spezifisches Qualitätsprofil. Die Abbildung zeigt die entsprechenden Untersuchungsergebnisse für eine kleinstädtische Mittelschule. Die Werte dieser Schule für das jeweilige Qualitätskriterium sind als schwarzer Balken in das Säulenhistogramm eingezeichnet, so dass sich ein Gesamtbild der pädagogischen Leistungsfähigkeit ergibt. Die Positionierung und Ausdehnung der Säule deutet an, welche Bedeutung und Wichtigkeit diesem Kriterium im Schulsystem insgesamt zukommt und wie stark die Unterschiede zwischen den Schulen sind. Die Abweichung des Wertes für die Einzelschule vom Mittelwert aller Schulen (gedachte Linie in der Mitte der Skala bei 2,5) ermöglicht eine vergleichende Einschätzung der erreichten pädagogischen Leistungen als über- bzw. unterdurchschnittlich. Dieses Leistungsprofil wird der Schulleitung und dem Kollegium der betreffenden Schule vorgelegt und dient als Grundlage für Diskussionen und die Entwicklung von Strategien zur Schulentwicklung. Durch die Vergleichsmöglichkeiten mit den Durchschnitts- oder Extremwerten der Repräsentativbefragung erhält der Qualitätsindex zusätzlich die Funktion eines pädagogischen "Benchmarking" und verbindet Prozesse interner und externer Evaluation.
Die Schulen sollen/können bei ihrer internen Debatte, die von einer Fachgruppe von Lehrern vorbereitet und angeleitet werden kann, durch Moderatoren und Experten von wissenschaftlichen Institutionen beraten werden - so die Idealvorstellung unseres Modells von Schulentwicklung. Dabei spielt auch die schulinterne Lehrerfortbildung und die Einbindung staatlicher Planungsinstanzen mit einem neuen innovativen Selbstverständnis eine Katalysatorrolle. In Ostdeutschland wird die Rolle der Fachberater neu diskutiert; es sind auch Fachberater für Schulentwicklung und andere Aufgaben im präventiven und sozialen Bereich vorstellbar und nicht nur Zuständigkeiten für die einzelnen Fächer, wie es bisher der Fall war. Das entwickelte Instrumentarium eignet sich für einen weiteren Verwendungszusammenhang, nämlich die prozessorientierte Evaluation schulischer Entwicklung. In einem Modellversuch zur Schulentwicklung von Mittelschulen, der über den Zeitraum von etwa 3½ Jahren lief, wurden zehn ausgewählte Modellschulen in ihrem Entwicklungsprozess begleitet und evaluiert. Diese besaßen - wie jede Mittelschule im Freistaat Sachsen - spezifische Profile (z. B. technisches, wirtschaftliches, musisches, sprachliches Profil), die sie im Rahmen des relativ offen angelegten Versuchsauftrages pädagogisch ausgestalten konnten. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf den Unterricht in den Profilfächern, die Differenzierungsthematik und den Fremdsprachenerwerb gerichtet werden. Mit einer Vorher-Nachher-Befragung wurde dieser Prozess in seinen Ergebnissen kontrolliert. Die Schule besitzt eine äußerst engagierte Schulleitung und ein Team von Lehrern, das deutliche Akzente im Bereich der Verbesserung der innerschulischen Kommunikationskultur und des Umgangs mit Andersartigem und Fremdem (interkulturelle Pädagogik) gesetzt hat. In der Abbildung sind die Ergebnisse der Vorher-Befragung als schwarzer, die der Nachher-Befragung als weißer Balken eingetragen. Es zeigen sich in diesem Fall deutliche Entwicklungsfortschritte. Bei der Erstbefragung war auffällig, dass die schulbezogenen Variablen von den Schülern vergleichsweise günstiger bewertet wurden als die klassenbezogenen Variablen. Den überdurchschnittlich positiven Werten für die Schulatmosphäre standen unter dem Durchschnitt liegende schlechtere Werte für die Klassenatmosphäre gegenüber. Die Werte jeder einzelnen Klasse, aber auch die durchschnittlichen Werte für die Klassenatmosphäre fielen also gegenüber der Schulatmosphäre weit ab.
In Kenntnis des pädagogischen Initiativpotentials an der Schule hatten wir diesen Befund dahingehend interpretiert, dass die von der Schulleitung und der Innovationsgruppe intendierte pädagogische Aufbruchstimmung noch nicht bis zu jedem Lehrer und in jede Klasse vorgedrungen war. Die Schulatmosphäre wird auch in der zweiten Befragung noch etwas höher bewertet als die Klassenatmosphäre. Die Werte beider Parameter liegen aber im positiven Bereich und der Indikator für das Klassenklima hat sich relativ stärker verbessert als der für das Schulklima, so dass man annehmen kann, dass das Eintreten für die neue pädagogische Programmatik sich in der Schule weiter durchgesetzt hat. Schulqualität entwickelt sich, so lässt sich zusammenfassend festhalten, also nicht innerhalb der Grenzen von Schulformen, sondern ist eine Prozessvariable, die ganz wesentlich durch Initiative von Schulleitern und Kollegien von Einzelschulen geprägt ist. Der Erfolg hängt weiter davon ab, ob es gelingt, ein überzeugendes pädagogisches Profil zu entwickeln, mit Schülern, Lehrern und Eltern darüber zu diskutieren und sie einzubinden sowie die Ressourcen des Stadtteils und der Region zu nutzen - zum Vorteil für alle Beteiligten.
Literatur
Flechsig, K.-H./Kanther, M. 1997: Management, Organisationsentwicklung und Qualitätssicherung in Bildungseinrichtungen. Arbeitspapier. Göttingen
Melzer, W./Hurrelmann, K. 1990: Individualisierungspotentiale und Widersprüche in der schulischen Sozialisation Jugendlicher. In: Heitmeyer, W./Olk, T. (Hrsg.): Individualisierung von Jugend. Weinheim und München, S. 35-79
Melzer, W./Stenke, D. 1996: Schulentwicklung und Schulforschung in den ostdeutschen Bundesländern. In: Rolff, H.-G. u.a. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 9. Weinheim und München, S. 307-336
Rolff, H.-G. 1996: Autonomie von Schule - Dezentrale Schulentwicklung und zentrale Steuerung. In: Melzer, W./Sandfuchs, U.: Schulreform in der Mitte der 90er-Jahre. Opladen, S. 209-227
Timmermann, D.: Qualitätsmanagement an Schulen. In: Wirtschaft und Erziehung H. 10/1996, S. 327-333