Vorwort: Was Schule leistet
Vorwort
Eine Verpflichtung zu regelmäßigen Leistungsbilanzen, wie sie im Bereich von Industrie, Wirtschaft und Finanzen obligatorisch eingeführt, schon traditionell üblich und auch ökonomisch notwendig sind, um den Fortbestand der betreffenden Einrichtung zu sichern, kennt die Staatsschule in Deutschland nicht. Ihre Leistungsfähigkeit wird bis heute vorwiegend im Rahmen eines administrativen Inspektionssystems, durch Erlass von Regulativen, Richtlinien und curricularen Rahmenplänen sowie Verordnungen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrern und Schulleitern oder die Beteiligung von Eltern und Schülern am Schulgeschehen, vor allem aber durch eine hierarchisch gegliederte Schulaufsicht zu gewährleisten versucht. Konzepte, eine relative Schulautonomie einzuführen, den Schulen mehr Gestaltungsspielräume zuzubilligen, Elemente der Selbstevaluation zu implementieren und eine "Schulentwicklung von unten" anzustoßen, sind noch relativ selten, entsprechende Versuche zudem auf bestimmte Bundesländer begrenzt.
Eine konsequente Reform des gegenwärtigen Schul- und Schulaufsichtssystems, wie sie in einigen unserer Nachbarländer verwirklicht wurde, ist in Deutschland nicht in Sicht, obwohl bei uns seit über 100 Jahren - insbesondere durch die Reformpädagogik - nicht nur eine radikale und substantiierte Schulkritik formuliert wurde, sondern auch konzeptionelle Alternativen und praktische Gegenentwürfe von schulischem Lernen und Leben vorgelegt worden sind. Die Staatsschule hat sich gegen solche Kritik immunisiert und es in allen Krisen verstanden, ihre Grundkonzeption von Schule zu modifizieren, im Prinzip aber beizubehalten und zu einer Erfolgsgeschichte zu erklären. Insofern als durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht allen Bevölkerungsschichten ein Mindestmaß an Bildung ermöglicht wurde, kann der These vom Erfolg des staatlichen Schulsystems sogar zugestimmt werden.
Wenn ein gesellschaftliches Teilsystem wie die Schule hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit nicht kontinuierlich an die gesamtgesellschaftlichen Erfordernisse angepasst wird, sei es dass überprüft wird, ob es die festgelegten Funktionen und Aufgaben hinreichend wahrnimmt, sei es, dass neue, zeitgemäße Zielsetzungen definiert werden, kommt es zu Reformstaus, Friktionen und Konflikten. Eine solche Situation erleben wir zurzeit und haben sie in der Geschichte in Phasen gesellschaftlichen Umbruchs häufiger erfahren. Die Frage, wie es um die Zukunft der Schule bestellt sei, wie man sie sich wünschen oder vorstellen müsse, wird immer dann heftig diskutiert, wenn der Eindruck entsteht, dass die Schule nicht leistet, was ihr aufgetragen wurde oder man meint, die Jugend, bzw. wesentliche Teile der nachwachsenden Generation würden fachlich wie auch ethisch-moralisch den zukünftigen Anforderungen nicht gewachsen sein - und uns dies durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen deutlich wird.
Noch tiefgreifender wird diskutiert, wenn die Gesellschaft insgesamt (oder in weiten Teilen) durch Notlagen, Umwälzungen, Umbrüche in ihrer bisherigen Gestalt bedroht ist: So ist in den Nöten des Dreißigjährigen Krieges die wegweisende Pädagogik eines Johann Amos Comenius entstanden, so ist die preußische Schul- und Universitätsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine direkte Folge der Bedrohung durch Napoleon und eine indirekte Folge der französischen Revolution, so sind die liberale bürgerliche Pädagogik der Mitte des 19. Jahrhunderts und die etwa gleichzeitig beginnende Einflussnahme der Arbeiterbewegung auf Schul- und Bildungspolitik ohne die Revolution von 1848 nicht zu verstehen, nur so ist die 1848 einsetzende Restauration des Volksschulwesens wie auch seine 1871 beginnende Modernisierung verständlich, nur so ist der Durchbruch der lange bereits gärenden reformpädagogischen Bewegung nach der Kapitulation von 1918 erklärlich.
Es gibt aber auch Umbruchsituationen und gesellschaftliche Notlagen, in denen es an der Kraft oder am Willen fehlt, das schulpolitisch und pädagogisch Notwendige zu tun. Das gilt z. B. für die Schulpolitik im Westen Deutschlands nach 1945. Kritiker haben dies eine Phase der Restauration, nicht der Reform genannt. Eine solche Bewertung könnte auch für die Transformation des Schulsystems in Ostdeutschland im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands zutreffen. Denn die Chance einer ideologiefreien Evaluation der beiden konträren Schulsysteme hinsichtlich der Bildungsinhalte und -dauer, der Effektivität des Unterrichts, des Schulklimas, der Ausbildung der Lehrer etc. wurde nicht genutzt, vielmehr konnte sich wiederum das traditionelle Staatsschulsystem westlicher Prägung auch im Osten durchsetzen.
Der gegenwärtige Verunsicherungsschub in Bezug auf die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit der Schule hat im Kern mit einer neuen Phase ökonomischer Entwicklung und einem dementsprechenden Umbau der Gesellschaft zu tun, in dem alle Institutionen auf ihre Effektivität hin überprüft werden. Als Auslöser der neuen Bildungsdebatte hat ein doppelter Schock gewirkt: Der TIMSS-Schock und der Meissen-Schock, also die bittere Erkenntnis, dass der Leistungsstandard unserer Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich - zumindest gesichert festgestellt für das Fach Mathematik - allenfalls mittelmäßig ist und auch das Sozialverhalten der Schüler zu Sorge Anlass gibt, bis hin zum extremen Fall der Ermordung von Lehrpersonen durch Schüler.
Die sichtbar gewordenen Defizite werden von bestimmten Interessengruppen in die gesellschaftliche Debatte um die künftige Ausrichtung von Schule eingebracht, wobei der Kompensation mangelnder Fachleistungen von der Öffentlichkeit und noch mehr von der Bildungspolitik eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Frage ist, ob die konträren Positionen - wie schon einmal in der Phase der westdeutschen Bildungsreform am Ende der 60er und in den 70er Jahren, als "bildungsökonomische Effizienzsteigerer" und "Chancengleichheitsapologetiker" gleichermaßen von den Umgestaltungen zu profitieren hofften - bildungspolitisch in der Staatsschule zusammengeführt werden können. Einiges spricht dafür, denn in den Präambeln der Schulgesetze ist ein umfassender Bildungsauftrag der Schule, der das qualifikatorische und das erzieherische Element gleichermaßen einschließt, verankert. Außerdem zeigen Studien zum Bildungserfolg, dass Fachleistungsstatus, Sozial- und Selbstkompetenzen sich wechselseitig bedingen. Sollte es an gesellschaftlicher Integrationskraft fehlen, diese beiden Anforderungsprofile zu integrieren, träte mit einiger Wahrscheinlichkeit das Szenario einer diversifizierten Bildungsgangs- und Schulstruktur mit einem starken Anteil privater Schulen ein, wie es in der Fachliteratur schon einige Male skizziert worden ist.
Angesichts dieser Situation wird mit dem vorliegenden Band der Versuch unternommen, aus den verschiedenen Traditionen von Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie den gegenwärtigen Zustand und die Entwicklungsmöglichkeiten der Institution Schule darauf hin zu untersuchen, ob sie das, was sie zu leisten beansprucht und vorgibt, auch erfüllt und ob sie vielleicht anderes leisten soll, als in der Vergangenheit von ihr erwartet wurde.
Dresden, im November 2000
Wolfgang Melzer, Uwe Sandfuchs