Siedlungsprojekte und Landbesitz. Netzwerke deutschbaltischer Agrarunternehmer im 20. Jahrhundert
Die Staaten des mittleren und östlichen Europas bemühten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts intensiv darum, ihre Landwirtschaft zu modernisieren, die Auswanderung ihrer wachsenden Bevölkerung aufzuhalten oder zu steuern und unruhige oder gefährdete Randgebiete zu stabilisieren. Das russische und das deutsche Kaiserreich experimentierten mit der An- und Umsiedlung von Menschen je nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit, um diesen zentralen ökonomischen und sozialen Herausforderungen zu begegnen. Sie setzten damit Dynamiken der Migration, Umverteilung und ethnischer Differenzen in Gang, die maßgeblich zu der Eskalation der Gewalt in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Form von Krieg, Genozid und Deportationen beitrugen. An diesem Prozess beteiligten sich auch nichtstaatliche Akteure, deren Position sich mit der Verschiebung von Grenzen, der Gründung und dem Zerfall von Staaten sowie wechselnder Herrschaft in den Weltkriegen häufig mehrfach veränderten. In diesem Projekt untersuche ich die Handlungsoptionen und Beiträge von Netzwerken deutschbaltischer Agrarunternehmer auf die Entwicklung von Siedlungsprojekten und der Umverteilung von Landbesitz im Namen imperialistischer und nationalistischer Visionen. Diese Netzwerke verbanden russische und deutsche staatliche Stellen, erlitten Statusverlust ebenso wie sie privilegierte Positionen einnehmen konnten. Die Geschichte von Enteignung, Umsiedlung und Agrarökonomie aus ihrer Perspektive zu rekonstruieren verspricht, die Konfliktspirale dicht zu beschreiben, sie an den Raum zu binden, in dem sie ihre größte Wirkung entfaltete und was sie mit Menschen machte, die Akteure und Täter aber zugleich auch Opfer sein konnten. Nicht zuletzt betont diese Perspektive die Bedeutung von Ökonomie und insbesondere Besitz und Zugriff von Land für die moderne Geschichte Deutschlands und des östlichen Europas.