Die Pest in der Frühen Neuzeit – ein ferner Spiegel
Oder: Was lehrt uns der Blick in die Geschichte?
Gerd Schwerhoff ist seit dem Jahr 2000 Inhaber der Professur für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden. Er ist ein ausgewisener Experte in der Geschichte der Kriminalität und des abweichenden Verhaltens, der Geschichte der Hexerei und der Hexenverfolgung sowie der Religions- und Glaubensgeschichte. Seit Juli 2017 ist er überdies Sprecher und Teilprojektleiter im Dresdner Sonderforschungsbereich 1285: „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung. In seinem Beitrag wagt er den Blick in den fernen Spiegel und macht sichtbar welche Lehren der Blick auf die Pest und den durch sie ausgelösten Schrecken für die heutigen Tage bereithalten kann.
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Die Pest in der Frühen Neuzeit – ein ferner Spiegel
Oder: Was lehrt uns der Blick in die Geschichte?
von Gerd Schwerhoff
In diesen Wochen der Corona-Pandemie geht der Blick häufig zurück in die Geschichte. Vor allem die sog. „Spanische Grippe“ am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 lädt vielfach zu Vergleichen ein. Aber bis heute ist eine andere Krankheit das Synonym für ‚die‘ Seuche schlechthin, und wie keine anderen hat sie die Phantasie durch die Jahrhunderte hindurch beschäftigt: die Pest. Eine solche Rückschau kann unterschiedlich motiviert sein: Wir können, so das eine Extrem, in der Vergangenheit nach vertrauten Mustern suchen, nach dem Motto: So war es schon damals, so ist es immer in Seuchenzeiten! Oder wir können umgekehrt die Unterschiede hervorheben, etwa falsche Reaktionen damals und mangelndes Wissen der Zeitgenossen, um so unsere vergleichsweise privilegierte Situation zu betonen. Die Metapher vom ‚fernen Spiegel‘ zielt auf eine Mittelposition zwischen diesen beiden Extremen: Der Spiegel reflektiert etwas, was uns z.T. durchaus vertraut ist, was aber weit entfernt liegt und allein deshalb nur perspektivisch verzerrt wahrnehmbar ist. Die Entfernung macht es aber bisweilen gleichzeitig möglich, die Dinge vollständiger und schärfer zu sehen als das, was wir jeden Tag miterleben. Es ist also ein distanzierter und zugleich auch distanzierender Blick auf eine fremde Welt, der uns aber vielleicht unsere Gegenwart etwas anders zu sehen lehrt. Ich habe die Metapher dem Buch der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman ‚A Distant Mirror‘ von 1978 entlehnt, das – wie der deutsche Untertitel erklärt – über das ‚dramatische 14. Jahrhundert‘ handelt; der originale Untertitel spricht vom ‚Calamitous 14th Century‘, also vom katastrophalen oder verhängnisvollen Jahrhundert. Die Pest spielt bei dieser Charakterisierung durchaus eine wichtige Rolle – wir kommen darauf zurück.
Die grausame, die abscheuliche ‚Pestilenz‘ stand also in den Jahrhunderten zwischen 1350 und 1750 für eine Epidemie schlechthin, eine schnell um sich greifende Seuche. Wenn in den Quellen von Pest die Rede ist, dann können wir gar nicht immer sicher sein, für welches Krankheitsbild der Begriff steht. Die Pest war ja keineswegs die einzige tödliche Epidemie jener Epoche. Daneben gab es z.B. auch die Malaria, in der Vormoderne keineswegs nur im Süden anzutreffen, oder die Cholera oder den Typhus. Eine typische endemische Krankheit des Zeitalters war daneben der Ergotismus, das sog. „Antoniusfeuer“, eine durch verdorbenes Getreide hervorgerufene Nahrungsmittelvergiftung. Und es gab natürlich die Lepra, den Aussatz, eine chronisch verlaufende bakterielle Infektionskrankheit, die mit auffälligen Veränderungen an Haut, Nerven und Knochen verbunden ist, und bei der die Betroffenen außerhalb menschlicher Gemeinschaften in eigenen Leprosorien isoliert wurden. Aber keine epidemisch auftretende Krankheit erschreckte die Menschen mehr als die Pest.
Auch heute noch ist nicht vollkommen gesichert, ob und inwieweit die Pest durch die Menschheitsgeschichte hindurch immer mit denselben Ursachen und Erscheinungsformen verbunden war. So beschrieb der Historiker Thukydides für die Zeit um 430 eine Seuche, die das von den Spartanern belagerte Athen heimsuchte; dabei erwähnte er weder die typischen Beulen noch schwarze Flecken. Gesichert scheint aber, dass es sich bei der im 6. Jahrhundert auftretenden sog. Justinianischen Pest um eine direkte Vorläuferin des Schwarzen Todes handelte. Ab 541 überzog diese Seuche, aus Ägypten und der Levante kommend, Byzanz und drang innerhalb kurze Zeit durch ganz Europa bis nach Spanien vor. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der byzantinischen Bevölkerung sollen ihr zum Opfer gefallen sein. Allerdings ging die Erinnerung an sie im Verlauf des Mittelalters weitgehend verloren, und so war das Wiederauftreten der Pest im 14. Jahrhundert umso dramatischer: Als „Schwarzer Tod“ betrat sie ab 1347 die europäische Bühne.
Bereits seit einigen Jahren hatten sich damals in Europa beunruhigende Nachrichten über eine galoppierende Krankheit in China verbreitet. Tatsächlich kam der Schwarze Tod aus Innerasien nach Europa, auf der Seidenstraße, und zwar im Gefolge einer Mongolenarmee, die die genuesische Kolonie Kaffa auf der Krim belagerte. Bevor die Mongolen die Belagerung abbrachen, schossen sie noch einige Pestleichen über die Stadtmauern – ein früher Fall biologischer Kriegführung, so der Historiker Wolfgang Reinhard. Und dieser Akt war erfolgreich, denn mit zurückkehrenden Seeleuten gelangte die Pest zunächst nach Genua und von dort nach ganz Italien und schließlich fast ganz Europa. Bereits 1348 hatte sie Italien, Frankreich und halb England erfasst, im nächsten Jahr erfasste sie dann auch Deutschland, und 1350 war sie sogar nach Skandinavien vorgedrungen. Mit insgesamt vielleicht 25 Mio. Toten in wenigen Jahren wuchs sich der Schwarze Tod zu eine der größten Katastrophen aus, die den Kontinent je heimgesucht hatten, vielleicht sogar zur größten überhaupt. In relativ kurzer Zeit fiel rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung der Seuche zum Opfer. Dabei verdeckt dieser Durchschnittswert, dass es mancherorts noch dramatischer zuging: So starben in Bremen 50-60% aller Einwohner; in Florenz ging die Einwohnerzahl von über 90.000 auf unter 50.000 zurück.
Anders als nach der Justinanischen Pest im 6. Jahrhundert verschwand die Seuche nicht, nachdem der Schwarze Tod seinen Siegeszug vollendet hatte. Sie blieb vielmehr für die nächsten Jahrhunderte endemisch. In Frankreich soll es bis 1670 kein Jahr gegeben haben, in dem die Seuche nicht an dem einen oder anderen Ort aufgetreten ist. Immer wieder gab es spektakuläre Massensterben, etwa in Mailand 1576 oder in London 1665. Die Londoner Pest ist insbesondere durch den Bericht von Daniel Defoe, Autor des Romans ‚Robinson Crusoe‘, berühmt geworden. Dabei waren es keineswegs nur punktuelle Ausbrüche, die das Pestgeschehen kennzeichneten. So wütete die Pest im Jahr 1665 auch in Köln, wo nach zeitgenössischen Listen vermutlich 10.000 bis 11.000 Menschen innerhalb von zwei Jahren starben, rund ein Viertel der Kölner Bevölkerung. Defoes „A Journal of the Plague Year“ ist ein journalistisch aufgemachter, gleichwohl fiktiver Bericht über ein Ergebnis aus der Rückschau, zwei Generationen später. Defoe hatte 1722 allerdings einen aktuellen Anlass zur Abfassung seines Textes: Ganz Europa starrte gebannt nach Marseille und Südfrankreich. Dort wütete, erneut von Levantehändlern ins Land getragen, eine verheerende Epidemie, die 100.000 Menschen den Tod brachte. Es sollte die letzte große Pestepidemie in Europa sein.
Was die jahrhundertelange Präsenz der Pest in Europa konkret bedeutete, hat die Forschung erst in Ansätzen herausgearbeitet. Dabei lässt sich die Wahrnehmung der Zeitgenossen hinter den nackten Mortalitätsraten oft bedrückend gut rekonstruieren. Defoe ist hier eher ein spätes Beispiel. Prototyp aller Pestberichte ist Giovanni Boccaccios ‚Decamerone‘, zwischen 1349 und 1353 entstanden (https://archive.org/details/dasdekameron01boccuoft/page/12/mode/2up). Im Kern handelt es sich um eine kurzweilige Sammlung von 10x10 Liebesgeschichten, die sich junge Leute gegenseitig erzählen, die vor der Pest auf ein Landgut geflohen waren. Die Rahmenhandlung, in der die deprimierende Situation in der Stadt Florenz beschrieben wird, steht jedoch in starkem Kontrast zu den komisch-derben Geschichten der Erzähler. Umsonst seien die demütigen Gebete gewesen, so berichtet Boccaccio dort, ebenso die Vorsichtsmaßnahmen der Obrigkeit, um die Krankheit zu besiegen. Binnen weniger Tage seien die meisten Kranken von der schrecklichen Seuche dahingerafft worden. Noch grausamer als das Krankheitsbild erschien dem Chronisten ihre unheimliche Ansteckungskraft, die sich darin zeigte, dass sie nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Mensch zu Tier oder von den Kleidungsstücken Verstorbener auf Lebewesen überspringen könne. Anschaulich beschreibt Boccaccio die verschiedenen Strategien der Überlebenden: Die einen sonderten sich ab und versuchten, gesund und mäßig zu leben; die anderen suchten das Vergnügen und sprachen dem Alkohol zu, wobei sie alle christlichen Gebote missachteten. Eindringlich schildert der Autor die Einsamkeit der Sterbenden: „Schweigen wollen wir davon, das ein Bürger dem andern aus dem Wege ging und dass sich schier niemand um seinen Nachbar kümmerte und dass die Verwandten einander nur zu seltenen Malen oder nie oder nur von weitem sahen, aber diese Heimsuchung hatte in den Herzen der Männer und der Frauen einen solchen Schauder erregt, dass ein Bruder den andern verließ oder der Oheim den Neffen und die Schwester den Bruder und oft die Frau ihren Gatten; und was gewichtiger und schier unglaublich ist, sogar die Väter und die Mütter scheuten sich, nach ihren Kindern zu sehn und sie zu pflegen, als ob sie nicht die Ihrigen gewesen wären.“
Ähnlich wie Boccaccio beschrieb der Diplomat und Historiker Lorenzo de Monacis den Einbruch des Schwarzen Todes in Venedig: „Gleich zu Beginn raffte die Pest innerhalb weniger Tage führende Persönlichkeiten, Richter und Beamte hinweg, danach auch diejenigen, welche deren Platz eingenommen hatten. Im Monat Mai nahm sie so sehr zu und wurde derart ansteckend, dass Plätze, Höfe, Grabstätten und Friedhöfe von Leichen überquollen. Viele wurden an öffentlichen Wegen begraben, einige unter dem Boden ihrer Häuser. Unzählige starben, ohne dass jemand dabei war, und ihre Leichen stanken aus den verlassenen Häusern. Keine natürliche Flamme könnte fettige Dinge, die sich nahe beieinander befinden, so verbrennen, wie diese Pest alles verdarb und befiel, was in ihrer Nähe war. Keiner, der sich bei einem Sterbenden aufhielt, konnte dem Tod entkommen. Hauchte nämlich jemand sein Leben aus, wurde alles von einem unentrinnbaren, tödlichen Ansteckungsstoff erfüllt. So überließen sich Eltern, Kinder, Geschwister, Nachbarn und Freunde gegenseitig ihrem Schicksal. Die Ärzte besuchten keine Patienten mehr, sondern ergriffen die Flucht.“
Solche Schilderungen vermitteln ein anschauliches Bild vom namenlosen Schrecken, der viele Zeitgenossen erfasste. Heute ist viel davon die Rede, nach Corona sei nichts mehr so wie vorher, es wird von einer historischen Zäsur gesprochen. Ganz in diesem Sinne haben viele Historiker dem Schwarzen Tod eine epochemachende Bedeutung zugesprochen. František Graus und andere haben mit seinem Auftreten zumindest eine „Krise des Spätmittelalters“ heraufziehen sehen. Und auch Barbara Tuchman bringt die politischen Konflikte in Frankreich bzw. zwischen Frankreich und England mit den moralischen und physischen Schwächungen durch die Pest in Verbindung. Noch grundsätzlicher spricht Klaus Bergdoldt im Untertitel seines Buches über den Schwarzen Tod vom „Ende des Mittelalters“. Dieses Ende datieren wir doch gewöhnlich in die Zeit um 1500, mit Columbus oder Luther, oder auch etwas früher mit Gutenberg. Allerdings ist Bergdolt durchaus nicht der einzige, der mit 1347/8 die Neuzeit anbrechen sieht, sowohl sozioökonomisch wie mental: Auf der strukturellen Ebene bedeutete der Bevölkerungsverlust durch die Pest eine Schwächung der Wirtschaft und einen Stresstest für die sozialen Binderkräfte; auf der mentalen Ebene kam es zu einer nachhaltigen Verdüsterung des Weltbildes durch den Einbruch von Massensterben und Anomie. Das Gewicht dieser Umbrüche wäre näher zu diskutieren, ebenfalls weitere Krisenfaktoren hinzuzufügen wie der sich anbahnende Klimaumschwung der kleinen Eiszeit, der das Ende einer mittelalterlichen Warmperiode einläutete. Hier bleibt nur festzuhalten, dass die Bedeutung der Pest für den gesellschaftlichen Umbruch nicht leicht zu überschätzen ist.
Wie gingen die Menschen mit der Seuche um? Wie deuteten sie den krassen Einbruch des Todes? Wie suchten sie sich zu schützen? Für die Antwort auf diese Fragen reicht der Verweis auf dramatisierende Berichte wie die zitierten kaum aus. Was die Menschen des 14. bis 18. Jahrhunderts von uns heutigen unterscheidet, ist ihre feste Verankerung in einem christlich-religiösen Weltbild. Damit verbunden war ein dominantes Deutungsangebot für das Auftreten der Pest, das schon von Boccaccio angeführt wurde: Sie sei „von dem gerechten Zorne Gottes zu unserer Besserung über die Sterblichen geschickt“ worden. Die Epidemie als Strafe Gottes dafür, dass seine Geschöpfe die ihnen aufgegebenen Gebote nicht hielten – dahinter steht ein anthropomorphes Gottesbild, das uns befremden mag, das aber immerhin den Vorteil bot, das Unerklärliche einer Erklärung zuzuführen. Außerdem eröffnete diese Erklärung Handlungsoptionen, so wenig zielführend sie vielen von uns auch erscheinen mögen, etwa Gebete und Bittprozessionen. Auch die Erinnerungszeichen, die die Pest allenthalben hinterlassen hat, besitzen stets eine religiöse Fundierung, seien es Gedenktafeln oder Pestkreuze. Geradezu monumental konnten die Pestsäulen ausfallen, die vielerorts als Dank für die überwundene Seuche aufgestellt wurden. Das berühmte Wiener Exemplar am Graben brachte den Dank der Stadtbewohner für die Bewältigung der Großen Pest von 1679/80 zum Ausdruck, wobei die steinerne Dreifaltigkeitssäule 1693 eine zunächst aufgestellte hölzerne Ehren- und Gelübtesäule ersetzte. Dargestellt ist u.a. Glaube, als engelhaftes Wesen mit dem Kreuz in der Hand, der mit Hilfe eines Engels die Pest - ein wahres Scheusal mit wirren Haaren und ausgetrockneten Brüsten - in den Abgrund stürzt (https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wiener_Pests%C3%A4ule&oldid=198096553). So blieb die Pest stets im Gedächtnis – bis heute übrigens: Während der Corona-Krise wurden an der Säule Kinderzeichnungen und Fürbittgebete deponiert.
Ob das religiöse Weltbild die Seuchenzüge unbeschadet überstand, ist im Übrigen eine ganz andere Frage. Bisweilen wird in der historischen Forschung die Krisen- und Kontingenzerfahrung des Schwarzen Todes für einen möglicherweise wachsenden Unglauben, jedenfalls eine zunehmende Verweltlichung im Zeitalter der Renaissance verantwortlich gemacht. Nachzuweisen ist so etwas schwer, aber ganz unplausibel erscheint es nicht. Die kollektiven Bewältigungsmuster allerdings blieben vorwiegend, und vielleicht sogar zunehmend, christlich geprägt. Stärker als die Jahrhunderte zuvor erscheint das Spätmittelalter geprägt von einer intensiven Frömmigkeit auch der einzelnen Laien, eine wichtige Voraussetzung nicht zuletzt für die Reformation.
Wir sind es gewohnt, ‚Glauben‘ und ‚Wissen‘ gegeneinander auszuspielen. Wie stand es um das Wissen in Sachen Pest? Erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind die biologischen Übertragungswege der Seuche geklärt. Es ist der Pestbazillus, übertragen vor allem durch den Rattenfloh, der die Krankheit verursacht. Wo die Wanderratten befallen waren, verbreitete sich die Pest langsamer und war eher endemisch; wo der Floh auf die Hausratte übersprang und von dort in Häuser und Lagerräume vordrang, kam es zu Epidemien. Allerdings konnte dann auch der Menschenfloh die Krankheit übertragen. Nicht zuletzt gab es auch den – derzeit ebenfalls dominanten – Übertragungsweg von Mensch zu Mensch, über Tröpfcheninfektion. Entsprechend unterschiedlich konnten Krankheitsbild und Krankheitsverlauf sein. Durch Flohbisse wurde die klassische Beulenpest übertragen, deren Inkubationszeit bis zu sechs Tagen betrug; danach schwollen die Lymphknoten schnell zu den typischen Beulen an. Platzten diese nach außen auf, dann konnten die Betroffenen mit dem Leben davonkommen; geriet der Erreger dagegen in die Blutbahn, dann waren Sepsis und Tod fast unvermeidlich. Die primäre Lungenpest durch Tröpfcheninfektion zeigte oft keine spektakulären Anzeichen wie Beulen, führte allerdings meist nach kürzerer Zeit zum Tode durch Nervenlähmung und Lungenzerfall.
All diese Hintergründe waren bis ins 18. Jahrhundert hinein weitestgehend unbekannt. Der Kenntnisstand von Ärzten und Gelehrten war, so Bergdoldt, „deprimierend gering“. Die Mediziner folgten meist den antiken Lehren von Galen und Hippokrates und damit einer wenig sachadäquaten Humoralpathologie, nach der Gesundheitsstörungen meist durch eine Störung im Verhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle verursacht würden. Speziell bei der Pest wurde angenommen, es gebe eine Verunreinigung der Luft durch bestimmte krankhafte Ausdünstungen, krankmachende „Miasmen“. Die als Gegenmaßnahmen angewandten Räucherungen mit verschiedenen Kräutern und Düften halfen ebensowenig wie der als Allroundmittel oft vorgenommene Aderlass. Wirklich helfen konnte die Medizin den Pestkranken erst mit der Entwicklung von Antibiotika Mitte des 20. Jahrhunderts. Dennoch sterben bis heute Menschen in Randgebieten an Pestausbrüchen, im letzten Jahrzehnt etwa mehrere Hunderte auf Madagaskar.
Mangelndes medizinisches Wissen und religiöse Deutung schlossen allerdings empirische Beobachtung und pragmatischen Selbstschutz keineswegs aus. Bereits den zitierten Augenzeugen im 14. Jahrhundert war klar, dass sich die Pest – mochte auch der Allmächte der Letztbeweger sein – über Ansteckung verbreitete. Deswegen lautete der meistzitierte Rat an alle Bedrohten: Fliehe schnell und weit, und bleibe lange fort: Cite, longe, tarde!Boccaccios junge Geschichtenerzähler auf dem Landgut hatten diesen Rat befolgt und machen gleich die soziale Dimension der Seuche klar: Wer es sich leisten kann zu fliehen, vergrößert seine Überlebenswahrscheinlichkeit – ähnliche Beobachtungen finden sich ja auch während der derzeitigen Corona-Krise. Aber mochte auch in mancher Epidemie die gesellschaftliche Ordnung zusammenbrechen und das Chaos regieren, die Regel war das nicht. Oft stemmte sich das gesamte Gemeinwesen in einer gemeinschaftlichen Kraftanstrengung gegen den Ausbruch der Pest oder versuchte wenigstens ihre Auswirkungen abzumildern bzw. die Folgen in geordnete Bahnen zu lenken. Zahlreiche Pestmandate und -verordnungen enthielten eine Menge von Maßnahmen und Strafandrohungen, die – nimmt man den Horizont des zeitgenössischen Wissens – durchaus funktional erscheinen. So enthält ein Edikt des Kölner Rates aus dem Jahr 1597 Bestimmungen zur Aufsicht über fremde, in die Stadt flüchtende Personen, zur Quarantäne betroffener Häuser und zum Verbot des Verkaufs von ‚verseuchter‘ Kleidung, wobei dieses Mandat durchaus auch auf den göttlichen Zorn und die angeblich ‚verunreinigte‘ Luft abstellt.
Systematisch hat die Frühneuzeithistorikerin Eva Labouvie die Abwehrmaßnahmen einer von der Pest bedrohten Stadt erforscht. Als sich 1680 eine große Pestwelle von Prag über Dresden, Leipzig und Halle auch nach Magdeburg auszubreiten drohte, versuchte man dort die Seuche durch entschiedene Exklusionsmaßnahmen abzuwehren. Bereits im Februar begann der Stadtrat per Verordnung alle Personen und Waren aus infizierten Gebieten systematisch auszuschließen. Zu diesem Zweck verlangte er Herkunftsnachweise und Pässe. Viele Auswärtigen protestierten, aber der Rat blieb bei seiner sehr rigiden Linie, einmal, weil er eine Einschleppung der Seuche befürchtete, andererseits, weil nur ein gesunder Ruf der Stadt die Handelswege für Magdeburg offen hielt. Viele ökonomischen und auch verwandtschaftlichen Bande jenseits der Stadtmauern wurden gekappt, verzweifelte Menschen biwakierten vor den geschlossenen Toren. Eine Bürgerin bat z. B., ihren Sohn in die Stadt zu lassen, der zwar in Dresden gewesen war, keineswegs aber mit Infizierten in Berührung gekommen sei und sich außerdem nachher habe ausräuchern lassen und neue Kleider angezogen habe. Vergebens. Allerdings gelang es anderen durchaus, die harten Maßnahmen zu unterlaufen und heimlich Verwandte und Freunde in die Stadt zu schleusen. Bereits damals standen neben sentimentalen Bindungen auch harte ökonomische Interessen im Hintergrund.
Jenseits von Magdeburg wuchs derweil der Verdacht, in der Stadt grassiere bereits die Seuche. Magdeburger Kutscher und Kaufleute beklagten schon im Herbst 1680 über Abweisungen und Behinderungen andernorts. Trotz aller Dementis des Rates vervielfältigten sich im Frühjahr 1681 die Gerüchte über geheimnisvolle Sterbefälle und nächtliche Beerdigungen, bis zu einem Punkt, an dem der Rat seine Verleugnungspolitik nicht länger aufrechterhalten konnte. Im April gab es die ersten offiziellen Todesfälle, ab Juni begann ein großes Sterben. Bis zum November hatte Magdeburg bereits 2650 seiner rund 8000 Einwohner verloren, davon die Hälfte Kinder. Seit Juli war die Stadt durch kurfürstliches Mandat zum Seuchengebiet erklärt. Die politischen Maßnahmen kehrten sich nun um: An die Stelle der „Exklusion der Anderen“ trat nun die Inklusion der eigenen Bevölkerung als Stichwort. Die Stadt wurde völlig abgeriegelt und von kurfürstlichen Truppen kontrolliert. Lediglich ein Wochenmarkt vor der Stadt war zugelassen, wo die Bauern der Umgegend ihre Waren deponieren konnten, sich dann zurückzogen und den Bürgern das Feld überließen. Handels- und Geschäftsbeziehungen brachen ab, Bierbrauer und Fischer klagten über mangelndes Einkommen und baten vergebens um die Erlaubnis, mit ihren Waren Handel außerhalb der Stadt zu treiben. Zum fehlenden Einkommen traten die Belastungen durch städtische Sondersteuern, um die Versorgung und die Betreuung der Pestkranken finanzieren zu können. Steuern und Rationierungen konnten allerdings Versorgung und Lebensmittelversorgung nur notdürftig sicherstellen.
Im Inneren der Stadt herrschten zeitweilig verzweifelte Zustände. Bei Todesstrafe war die Flucht aus der Stadt ebenso wie das Hereinschmuggeln von Auswärtigen verboten. Schon im Oktober jedoch waren die meisten Ärzte und Pestbediensteten der Krankheit zum Opfer gefallen, sodass man – mit zweifelhaften Erfolg - von auswärts versuchte, erfahrene Pestärzte und anderes Personal zu rekrutieren. Dabei orientierten sich die Experten an den erwähnten anachronistischen Vorstellungen, etwas an der Miasmentheorie, sodass von ihnen kaum wirkliche Hilfe zu erwarten war. In den Spitzenzeiten der Krankheit versuchte man aber auch innerhalb der Stadt, Gesunde und Kranke voneinander zu trennen. Ein Haus, in dem ein Pestfall aufgetreten war, wurde mit einem Kreidekreuz versehen, niemand außer dem Pflegepersonal durfte hinaus oder hinein. Menschenansammlungen wie Märkte, Gelage oder gar Begräbnisse oder die Frühpredigt wurden verboten. Familien wurde auseinandergerissen, erkrankte Väter und Mütter hatten Angst um die Versorgung ihre zurückbleibenden Kinder.
Offiziell wurde die Stadt erst mit einem Mandat des Kurfürsten vom 25. April 1682 wieder als pestfrei deklariert; viele Einreiseverbote umliegender Obrigkeiten blieben noch länger bestehen. Erst im Februar 1683, nach rund zwei Jahren, wurde ein großer Lob- und Dankgottesdienst zur überstandenen Seuche veranstaltet, und mit der Prägung eines eigenen „Pesttalers“ wurde die Rückkehr des Lebens und der Rückzug des Todes gefeiert.
Damals gingen die Magdeburger wohl nicht davon aus, dass sie die letzte Pestwelle überhaupt erlebt hatten, die ihre Stadt überstehen musste. Warum die Pest mit dem frühen 18. Jahrhundert aus Europa verschwand, ist eine ungeklärte Frage. Eine bessere medizinische Versorgung spielten definitiv keine Rolle! Vielleicht war die Verdrängung der Hausratte durch die Wanderratte ursächlich, vielleicht trugen wachsender Wohlstand und bessere Ernährung zum Sieg über die Pest bei. Aber auch die obrigkeitliche Prävention wird als ein Kandidat gehandelt. Jenseits der Städte übernahmen vielfach die Territorialstaaten die Organisation von Abwehrmaßnahmen, Preußen an der Grenze zu Polen ebenso wie das Habsburgerreich, das im 18. Jahrhundert entlang der Grenze zum Osmanischen Reich Quarantänestationen bauen ließ. Bezeichnenderweise war es wohl ein Bruch der strikten Quarantänebestimmungen an der Südküste Frankreichs, die den letzten Pestausbruch in Marseille 1722 verursachte (https://www.geo.de/wissen/gesundheit/22816-rtkl-pest-marseille-als-der-tod-schiff-ankam-ein-lehrstueck-ueber-die).
Der Sieg des Pragmatismus über die Seuche – das wäre wohl eine schöne, versöhnliche Schlusspointe für einen historischen Überblick zur schrecklichen Pestilenz. Allerdings muss noch ein Tatbestand zur Sprache kommen, der dieses Bild noch einmal erheblich eintrübt: die Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten als Sündenböcke. Denn aller religiösen Demut und aller pragmatischen Beobachtungen über die unwillkürliche Ansteckung zum Trotz: Vielen Menschen erschien das Massensterben offenkundig dermaßen unnatürlich, dass sie bei der Idee Zuflucht suchten, das Ganze müsse von Menschenhand verursacht sein, eine verbrecherische Vergiftung von Luft und/oder Wasser. Die Vorstellung, eine bestimmte Gruppe von Menschen hätte sich zu derartigen Verbrechen verschworen, war durchaus älter. Bereits 1321 war in Südfrankreich den Aussätzigen unterstellt worden, die Brunnen aus niederen Motiven vergiftet zu haben, ohne dass es Anzeichen für eine größere Epidemie gegeben hatte. Später sollte Ähnliches auch anderen Gruppen zugeschrieben werden: Bettlern, Ketzern oder Hexen. Aber niemand eignete sich für diese Zuschreibung besser als die Juden: Angehörige einer anderen Religion, die mitten unter den Christen lebten, klar identifizierbar waren und bereits seit längerem unter Diskriminierung litten. Bereits zuvor waren ihnen Verschwörungen gegen die Christen unterstellt worden, Ritualmorde oder Hostienfrevel. Nun wurden ihnen das Motiv der Brunnenvergiftung und die Verbreitung der Pest zur Last gelegt. Mit dem Schwarzen Tod kam es zu dramatischen Pogromen, denen zahlreiche jüdische Gemeinden zum Opfer fielen. Sie gingen von Südfrankreich aus, verbreiteten sich von dort nach Spanien ebenso wie nach Deutschland bis nach Böhmen. Nur wenige Städte in Deutschland blieben verschont wie Regensburg und Goslar. Die Verfolgungen können hier nicht im Detail betrachtet werden. Häufig aber, so ist grundsätzlich festzustellen, folgten die Pogrome nicht dem regionalen Auftreten der Pest, sondern gingen ihm voraus. Die Seuche kann also höchstens als allgemeine Rechtfertigung angesehen werden, keineswegs als direkter Anlass für eine Judenverfolgung. Das unterstreicht auch die Tatsache, dass für Italien keine größeren Pogrome bekannt sind, obwohl nirgends die Epidemie grässlichere Opfer forderte als dort. In Frage steht damit auch die ältere Vorstellung, es habe sich um spontane Ausschreitungen des „Volkes“ gehandelt. Detaillierte Analysen haben offengelegt, wie sehr konkrete Interessen von Klerikern, Bürgern und Herrschern im Hintergrund die Pogrome angeleitet haben. Dass viele gleichwohl an die Verschwörungstheorien von den giftbringenden Juden glaubten, steht allerdings außer Zweifel. Das Ergebnis war die Zerstörung einer zuvor bei aller Diskriminierung blühenden jüdischen Kultur Mittel- und Südeuropas.
Was lernen wir, unter dem Strich, beim Blick in den fernen Spiegel? Diese Frage werden unterschiedliche Beobachter je anders beantworten. Der Medizinhistoriker Martin Dinges erwägt in seinem gedankenreichen Essay zum Verhältnis von Corona und Pest, auf das hier nur summarisch verwiesen sei (https://www.akademie-rs.de/index.php?id=198&tx_news_pi1%5Bnews%5D=1056&cHash=7add06c89797521f3ed09c2dfc35220f), einige Unterschiede und Ähnlichkeiten. Vieles wäre hinzuzufügen. Die interkontinentalen Übertragungswege der Pest bereits in früheren Jahrhunderten verweisen z. B. darauf, dass die Welt damals bereits stärker vernetzt war, als wir es häufig unterstellen. Gleichwohl hat die Übertragungsdynamik selbst ebenso wie unser Bewusstsein von dieser Dynamik im Zeitalter der Globalisierung eine ganz neue, beschleunigte Dimension erreicht. Auch unser Wissen hat sich explosionsartig vermehrt, doch hat das nicht dazu geführt, dass die Experten, wie wir gerade erleben, sichere Handlungsempfehlungen geben oder gar Voraussagen machen können. Manche ihrer Ratschläge bleiben einer pragmatischen Vernunft verhaftet, die bereits die besseren Seiten des Pestregiments vergangener Jahrhunderte auszeichnete, etwa was die Quarantänebestimmungen anlangt. Und auch die Verschwörungstheorien sind nicht vollkommen aus der Welt, sondern werden – von interessierter Seite ebenso wie von den massenhaft befeuerten Kommunikationskaskaden in den sozialen Medien – munter weiterverbreitet. Dabei sind die Feindbilder im Zeitalter der Globalisierung vielfältiger geworden als unter christlicher Dominanz im Alten Europa: die Chinesen beschuldigen die Amerikaner, die Amerikaner die Chinesen; und manche europäischen Reisenden in den Ländern des globalen Südens machen die unangenehme Erfahrung, in der Fremde derzeit einer stigmatisierten Randgruppe anzugehören. Angesichts dieser Vervielfältigung von Schuldigen wäre es gefährlich, allzu starkes Gewicht auf die Tatsache zu legen, dass Corona ebenso wie die Pest aus Innerasien den Weg nach Westen (wie in die übrigen Weltteile) angetreten zu haben scheint. Denn zu einer historischen Gesamtbilanz des interkontinentalen Transfers von Krankheiten und Seuchen würden auch andere Kapitel der Menschheitsgeschichte gehören, so etwa das Massensterben der indigenen Bevölkerung Mittel- und Südamerikas im Zuge der europäischen Expansion. Sie fiel eingeschleppten Bakterien und Viren, wie z.B. den Pocken, zum Opfer, weil ihnen die Immunität gegen neue bzw. bislang unbekannte Erreger fehlte. Europa ist so in der Geschichte nicht nur Empfänger gefährlicher Epidemien gewesen, sondern auch deren Ursprung.
Literaturhinweise:
Klaus Bergdoldt: Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 1994
František Graus: Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987
Eva Labouvie: Commerce, Communication und Contagium. Die Pest in Magdeburg 1681-1683, in: Dies. (Hg.): Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs, Köln 2004, S. 37-56
Otto Ulbricht(Hg.): Die leidige Seuche. Pest-Fälle der Frühen Neuzeit, Köln 2004
Quelle:
Pestordnung der Reichsstadt Köln von 1597 (PDF Anlage)