Ist zielgruppenspezifische politische Bildung wirklich eine gute Idee?
Sich an Zielgruppen zu orientieren und Bildungsangebote auf ihre Bedarfe abzustimmen ist ein wichtiges Prinzip der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Alle Förderprogramme und Handbücher machen diese Forderung zentral. Aber ist das wirklich eine gute Idee? Mit dieser etwas provokanten Handreichung wollen wir auf Probleme in diesem Zusammenhang hinweisen.
Zunächst und um Missverständnisse zu vermeiden: Mit zielgruppenspezifischer politischer Bildung ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass Bildungsangebote und Projekte an ganz spezifischen Zielgruppen ausgerichtet werden – und nicht, dass Adressat:innen in Bildungssituationen ernst genommen werden. Ersteres hat eine Schattenseite, Zweiteres ist im Rahmen politischer Bildung ein zentrales Gütekriterium und eigentlich eine Selbstverständniskeit.
Aber zurück: Ist es nicht auch richtig und wichtig Bildungsangebote bereits in der Planungsphase auf eine ganz bestimmte Zielgruppe hin auszurichten? Nur so lassen sich passende Materialien und didaktische Methoden wählen, die zur Zielgruppe passen. Das ist richtig und in der pragmatischen Situation, in der Projektanträge geschrieben werden und Fundraisingkonzepte entwickelt werden, wahrscheinlich ziemlich unvermeidlich. Wir wollen trotzdem widersprechen und zwar aus einem wichtigen Grund, und dieser Grund lautet:
POLITISCHE BILDUNG IST EIGENTLICH FÜR ALLE MENSCHEN – POLITISCHE BILDUNG IST INKLUSIV, UND ZWAR VON ANFANG AN.
Politische Bildung versteht sich nicht als Elitenprojekt. Sie ist nicht auf die Ausbildung zukünftiger politischer Leistungsträger:innen gerichtet, sondern hat das Ziel, die Ausbildung politischer Urteils- und Handlungskompetenzen aller Bürger:innen – und mehr als das: aller Menschen – zu unterstützen. Ob und inwiefern es dem Bildungsbereich gelingt, diesen Anspruch einer echten Breitenwirkung tatsächlich gerecht zu werden, ist in den letzten Jahren unter vielfältigen Überschriften diskutiert worden. Politische Bildung für „politik- oder bildungsferne Gruppen“, „politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“ und „gendersensible politische Bildung“ sind nur einige der vielfältigen Schlagworte, die in diesem Zusammenhang entwickelt worden sind (vgl. u. a. Behrens/Motte 2006; Besand et. al 2013; Detjen 2007; Richter 2014). Allerdings kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass jenseits der Debatten zu der Frage, ob und mit welchen Strategien es politischer Bildung gelingen kann, sich „breit“ aufzustellen und damit alle Menschen anzusprechen, so gut wie keine Debatten darüber geführt werden, ob das überhaupt Aufgabe und Ziel politischer Bildung sein kann. Politische Bildung ist damit normativ von Beginn an an inklusiven Bildungsprozessen interessiert und sucht nach Mitteln und Wegen, diese zu organisieren.
ABER WIE SIEHT EINE INKLUSIVE POLITISCHE BILDUNG AUS?
Wenn wir hier von einer inklusiven politischen Bildung sprechen und damit eine politische Bildung meinen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert und nicht unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen weiter auseinander treibt, wird offensichtlich, dass es in diesem Zusammenhang nicht einfach darum gehen kann, eine Reihe von „Spezial-Didaktiken“ oder isolierten Bildungskonzeptionen zu entwickeln, die jeweils individuell auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund oder unterschiedlicher sexueller Orientierung, Altersgruppen, sozialer Milieus, Religionen usw. gerichtet sind. Dafür gibt es mehrere Gründe.
GRUND NR. 1: Bereits in der Vergangenheit konnte man beobachten, dass Angebote, die an gesonderte Gruppen adressiert waren (weil sie vermeintlich schwer erreichbar sind), oft defizitorientiert konzipiert wurden (vgl. Besand 2013, S. 10 ff.). Das heißt: durch die Zuschreibungen, die im Hinblick auf die anvisierten Zielgruppen bei einer solchen Herangehensweise vorgenommen werden, werden Hinderisse im Hinblick auf den Zugang der Zielgruppe eher verfestigt als abgebaut. Am Beispiel des Begriffs „Politikferne“ lässt sich dies gut nachvollziehen. Er wurde im Zuge der PISA-Debatte und der aufkommenden deutschen Bildungsberichterstattung dem Begriff „bildungsfern“ nachempfunden und bezeichnet eine Gruppe von Menschen, deren gemeinsames Merkmal offenbar in einer gewissen Ferne oder Distanz zum Gegenstand Politik besteht. Durch die Nähe zum Begriff der Bildungsferne wird allerdings auch angedeutet, dass Menschen dieser Gruppe sich möglicherweise in Umgebungen oder Kontexten aufhalten, in denen nur niedrige formale Bildungsabschlüsse realisiert werden können. Empirisch stellt sich der Zusammenhang allerdings komplexer dar: Zum einen lässt sich selbst für junge Menschen ohne Bildungsabschlüsse Interesse für politische Fragen nachweisen (vgl. beispielsweise Kohl/Seibring 2013; Besand 2014), zum anderen erweisen sich auch Akademiker:innen nicht selten als politisch verdrossen. Der Begriff „Politikferne“ liefert damit für die praktische Bildungsarbeit keine wirklich sinnvollen Anhaltspunkte.
PERSPEKTIVEN FÜR DIE PRAKTISCHE BILDUNGSARBEIT: LÖST EUCH VON ALTEN DIFFEENZKATEGORIEN ODER ZIELGRUPPENBESCHREIBUNGEN!
Wie aber soll eine politische Bildung aussehen, die einerseits in der Lage ist, vielfältige Menschen anzusprechen und die sich gleichzeitig nicht an der Reproduktion defizitorientierter Zuschreibungskategorien beteiligt? Zunächst bedarf es dafür einer sinnvollen inklusiven Perspektive, die nicht mehr an die traditionellen Zielgruppen gebunden ist. Denn nur so kann verhindert werden, dass unser Handeln durch den Bezug auf eine bestimmte Gruppe Teil der Reproduktion von Benachteiligung wird. Dazu ist es sinnvoll, eine andere Differenzperspektive einzunehmen als bisher, und zwar eine Perspektive, die zwischen zwei Arten von Differenzlinien unterscheidet: Zum einen existieren Zuschreibungslinien, die wir bisher nutzen und an die häufig Diskriminierung gekoppelt ist, und zum anderen gibt es Anschlusslinien, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie durch fehlende Passungen Zugang, Teilhabe und Selbstbestimmung erschweren oder gar verhindern. Das klingt kompliziert, aber das ist es bei genauerer Betrachtung gar nicht wie man in der hier vorgestellten Abbildung sieht:
Die Differenzkategorie „Migrationshintergrund“ ist ein Beispiel für eine Zuschreibung, die durch Vergleich entsteht, aber keine Eigenschaft ist (Dederich 2014; 128-137), die per se zum Ausschluss führt. Dass ein Teil der Menschen dieser Gruppe Schwierigkeiten hat, an politischer Bildung teilzuhaben, liegt nämlich nicht am Merkmal Migrationshintergrund selbst – es gibt Menschen mit Migrationshintergrund, die problemlos Zugang finden – sondern daran, dass die Kommunikation oder kulturell geprägte Lebensweise einiger Menschen mit Migrationshintergrund nicht passfähig zu bestehenden Angeboten politischer Bildung ist.
Die Kommunikationsform schließt auch Menschen aus, die Behinderungen haben, die nicht passfähig zur Kommunikationspraxis der politischen Bildung sind (Taube, Blinde, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung usw.) oder Menschen die aufgrund ihres Herkunftsmilieus andere Kommunikationswege und -formen nutzen. Die Ausschlusslinie ist also nicht Migration, Behinderung oder Milieuzugehörigkeit, sondern in diesem Fall „Kommunikation“. Dass eine solche geänderte Differenzperspektive sinnvoll ist wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise Materialen, die von der Bundeszentrale für politische Bildung in einfacher Sprache verfasst wurden, nicht nur für Menschen mit Behinderung genutzt werden, sondern sich bei Lehrer:innen vieler Schularten große Beliebtheit als Unterrichtsmaterial erfreuen.
Weitere Ausschlusslinien sind beispielsweise Macht, Kultur oder bauliche Beschaffenheit (vgl. Abb.). Diese andere Differenzperspektive ersetzt jedoch nicht die Dekonstruktion von Zuschreibungskategorien und die Forderung nach Sensibilisierung; sie erweitert diese lediglich.
Politische Bildung inklusiver zu gestalten, heißt demnach nicht, das methodische Repertoire des Lernbereichs um einige sonderpädagogische Elemente zu bereichern. Eine inklusive politische Bildung bedarf vielmehr einer sehr grundsätzlichen Sensibilisierung für Exklusionsprozesse entlang vielfältiger Zuschreibungslinien. Gleichzeitig muss es allerdings auch darum gehen, sich mit den Möglichkeiten von Anschlusslinien intensiv zu beschäftigen, die quer zu den traditionellen Zielgruppenkonzepten liegen.
Im Kern muss es das Ziel sein, Konzepte zu entwickeln, die Praktiker:innen vor Ort bei der Diagnose von Lernausgangslagen/Interessen unterstützen. Damit kann eine Perspektive eingenommen werden, die auf die Ausschlussmechanismen des Einzelnen gerichtet ist, um darauf aufbauend mit den entsprechenden Konzepten auf die Bedürfnisse des Individuums reagieren zu können. Es bedarf also – als Grundlage für inklusive Prozesse – der Entwicklung inklusiver diagnostischer Verfahren innerhalb der politischen Bildung und zu guter Letzt geht es in diesem Zusammenhang auch darum, Inklusion in der politischen Bildung sinnvoll theoretisch zu begründen, um die Austauschprozesse zwischen Praxis und Theorie in diesem Zusammenhang fruchtbar halten zu können. Nur so kann sichergestellt werden, dass Inklusion in der politischen Bildung nicht alter Wein in neuen Schläuchen sein wird.
TEXT AUF DER GRUNDLAGE VON TEXTAUSZÜGEN AUS:
Besand, Anja/ Jugel, David (2015): Zielgruppenspezifische politische Bildung jenseits tradierter Differenzlinien, in: Dönges, Christoph/ Hilpert, Wolfram/ Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 99-109. Hier Download möglich
Literatur und Vertiefungshinweise
Eine sehr schöne und kompakte Darstellung, warum die Einteilung in Zielgruppen in der politischen Bildung in mehrerelei Hinsicht problematisch ist, hat die Transferstelle politische Bildung erarbeitet. Sie finden sie unter folgendem Link.
Als wichtige weitere Literatur verweisen wir auf:
Behrens, Heidi/ Motte, Jan (2006): Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Zugänge, Konzepte, Erfahrungen. Schwalbach/Ts.:Wochenschau.
Besand, Anja (2017): Von roten und von blauen Kreisen Oder: Wie kommen wir zu einer inklusiveren politischen Bildung, in: Transferstelle politische Bildung (Hrsg.): Jahresbericht 2016, S. 29-34. Text hier online verfügbar.
Besand, Anja/ Jugel, David (2015): Inklusion und politische Bildung – gemeinsam denken, in: Dönges, Christoph/ Hilpert, Wolfram/ Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn, S. 45-59. Hier online verfügbar.
Besand, Anja (2014): Monitor Politische Bildung an beruflichen Schulen, Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Besand, Anja/ Birkenhauer, Peter/ Lange, Peter (2013): Politische Bildung in digitalen Umgebungen. Eine Fallstudie. Zum Projekt DU HAST DIE MACHT. Dresden. Hier online verfügbar.
Calmbach, Marc/ Borgstedt, Silke (2012): „Unsichtbares“ Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen. In: Kohl, Wiebke/ Seibring, Anne (Hrsg.): „Unsichtbares“ Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen, Bonn, S. 43-80.
Dederich, Markus (2014): Egalitäre Differenz, radikale Andersheit und Inklusion. Ein Problemaufriss. In: Lanwer, Willehad (Hrsg.): Bildung für alle Beiträge zu einem gesellschaftlichen Schlüsselproblem, Gießen, S. 121-137.
Detjen, Joachim (2007): Politische Bildung für bildungsferne Milieus. In: APuZ 33/2007, Bonn, S.3-9.
Reinhardt, Sibylle (2014): Handlungsorientierung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., S. 275-311.
Richter, Dagmar (2014): Geschlechtsspezifische Zusammenhänge politischen Lernens. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., S. 359-350.
Sander, Wolfgang (2003): Politik in der Schule, Marburg.
Schiele, Siegfried (2009): Elementarisierung politischer Bildung. Überlegungen für Informationen zur Politischen Bildung Bd. 30, Innsbruck–Bozen–Wien.
UNESCO (2009): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik, Bonn.
Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens á la Beutelsbach? In: Schiele, Siegfried/ Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart, S.173-184.