Kontrovers und Lebenweltnah - eine gefährliche Mischung für politische Bildung
Kontroversität ist wohl einer der bekanntesten und gleichwohl meist diskutiertesten Standards, die der Beutelsbacher Konsens für politischen Bildung in Deutschland setzt. Nicht zuletzt im Kontext der Diskussion um eine vermeintliche Neutralität der politischen Bildung erfährt der Begriff neue Konjunktur. Warum eine politische Bildung, die besonders auf Kontroversen nahe der Alltagswelt der Adressat:innen setzt, teils gefährliches Terrain betritt und Möglichkeiten der aktiven Teilhabe erschweren kann, diskutiert dieser Handlungsimpuls.
Gleich zu Beginn: keineswegs möchte dieser Impuls nahelegen, dass politische Bildung Angst vor kontroversen Themen entwickeln sollte oder diese wenn mölglich umschiffen sollte. Nein! Alle kontroversen Themen, die innerhalb menschenrechtsorientierter und verfassungsrechtlicher Rahmungen geführt werden können, sollen Raum in politischer Bildung bekommen. Wichtig ist jedoch, dass Kontroversität auch zu Teilen eine gewissen Gefahr für den Bindungsaufbau bzw. -erhalt in politisch bilnderischen Lernprozessen bedeuten kann.
Aber Schritt für Schritt. Langjährige Erfahrungen innerhalb (politisch) bildnerischer Lernprozesse - insbesondere unter dem Fokus inklusiver Lernsettings - gezeigt, dass gemeinsames Lernen ohne eine Bindung und positive Emotionen erschwert oder gar unmöglich ist:
"Lernen findet in Interaktionen statt, die von emotionaler Zuwendung z.B. in Form von Anerkennung und Zugehörigkeit geprägt sind. Positive und bestärkende emotionale Räume ermöglichen es überhaupt erst zu lernen, während negative und ablehnende Umgebungen lernen erschweren oder sogar unmöglich machen." (Hölzel, Jugel 2019)
Die Bedeutung von Emotionen und Bindung soll hier nur kurz angerissen werden, da sie nicht im Fokus dieses Impulses steht. Folgen wir aber dieser grundlegenden Annahme über Bildungsprozesse, entsteht schnell die Frage wie Bindung und Emotion positiv entwickelt werden kann. Hierzu lässt sich verkürzt festhalten:
"Emotionen haben im Kontext von Austausch und Interaktionsprozessen eine zentrale Rolle für Lernprozesse, strukturieren diese und sind für die Herstellung von Sinn verantwortlich." (Hölzel, Jugel 2019)
Bestärkende und anerkennende Settings sind politischer Bildung keineswegs fremd und doch liegt besonders in Fragen der Zugehörigkeit und emotionalen Sicherheit ein Knackpunkt, wenn Ansprüche der Kontroversitätz in politischer Bildung zusammentreffen. Ein Teilnehmer einer unserer begleiteten Studien brachte es einmal mit folgender Aussage ziemlich genau auf den Punkt:
"TN4: „Nein, ich finde, was da nicht länger stehen sollte: Was ist, wenn wir Chef wären. Was wir verändern würden. Ja weil das ist so / da ist einerseits auch so ein bisschen wirklich Politik drin so. Weil dadurch kann man auch Freunde so verlieren, weißt du? Weil wenn jetzt einer so erzählt über Politiker und so erzählt: er (hat) auch schon geschrieben: Merkel sollte abgeschoben werden. Und schon wieder ist darin ein Politik so. Und natürlich wird es dann Diskussionen und Streitereien geben. Lieber sollte ma sowas lieber rausnehmen und was andere schreiben, weil ich glaube, wir würden / wir würden, uns würde das jetzt egal sein, wir würden ja eh kein Chef von Deutschland. Ja, weißt du.“ (#00:15:34-3#)
Was hier deutlich wird, dass besonders zu Beginn von politischen Bildungsprozessen als kontrovers und aufgeladene politische Themen als Gefahr für zwischenmenschliche Bindungen wahrgenommen werden. Viele Themen und lebensweltliche Ansatzpunkte in politischen Bildungsangeboten sind nicht nur gesamtgesellschaftlich hoch emotional aufgeladen – sie werden auch von Teilnehmenden als potenzielle Gefahr für die Bindung zu anderen wahrgenommen. Fragt man nach, so wird deutlich, dass es keineswegs eine grundsätzliche Ablehnung kontroverser Themen gemeint ist, sondern nur, dass besonders in noch neuen und unsicheren Bindungskonstellationen die Kombination aus
lebensweltnaher und konktroverser Themenstellung eher vermieden werden sollte, da Lebensweltorientierung ein zweischneidiges Schwert darstellt, das einerseits durch die Nähe zur eigenen Erfahrungswelt besonders starke Motive der Beteiligung schaffen kann, aber auf der anderen Seite eben nicht festlegen kann, wie diese Motive gelagert sind - ob sie also positive oder eher negative Emotionen einbeziehen.
Wichtig festzuhalten ist also: Menschen sprechen über emotional politische Themen ihrer Lebenswelt mit Familie und Freund*innen - das heißt nicht, dass sie dies unter allen Umständen auch im Kontext politischer Bildung tun wollen. Wird jedoch Schritt für Schritt mehr Bindung aufgebaut, wächst auch die Bereitschaft und folglich der Möglichkeitsraum zur Diskussion kontroverser und lebensweltnaher Themenstellungen. Um diese Möglichkeitsräume auszuloten, bedarf es einer Diagnostik, welche die Verflechtung von emotional-besetzter Vorerfahrung mit Themen, Motiven und Bindungsstruktur verknüpft. Das heißt: Wir müssen mit den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, herausfinden, worüber gesprochen werden kann und was vielleicht erst zu einem späteren Zeitpunkt aufkommen sollte. Und noch einmal: Es darf kontrovers gestritten werden! Bindung heißt nicht Harmonie, aber wir brauchen zu Beginn eher bindungsaufbauende und auf geteilte Werte ausgerichtete Themen.
Quellen/ Vertiefungsangebote:
- Hölzel, T./Jugel, D.: „Da kannst du Freunde verlieren!“. Politische Bildung, Emotionen und Bindung – Zur Aufklärung eines fachdidaktischen Irrtums. In: Besand, A./Ovewrwien, B./Zorn, P. (Hrsg.): Politische Bildung mit Gefühl. Bonn: 2019, S. 246 - 266. ( kostenloser Download hier)
- Besand, Anja (2016): Zum Verhältnis von Emotionalität und Professionalität in der politischen Bildung. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Ideologien der Ungleichwertigkeit, Berlin, S. 77-83.
- Besand, Anja; Hölzel, Tina; Jugel, David (2018): Inklusives politisches Lernen im Stadion - Politische Bildung mit unbekanntem Team und offenem Spielverlauf, [Weiterdenken - heinrich-Böll-Stiftung Sachsen] Dresden. Verfügbar unter:
- Damasio, Antonio R. (2013): Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin.
- Euler, Dieter (2014): Design Research – a paradigm under development. In: Euler, Dieter/ Sloane, F.E. Peter (Hrsg.): Designed-Based Research, Stuttgart, S.15-44.
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