16.02.2019
"Mehr Cicero täte uns gut", Martin Jehne im Interview mit der Landeszeitung für die Lüneburger Heide vom 10.02.2019
Ein Interview mit Prof. Martin Jehne, Leiter unseres Teilprojektes A:
"Thüringens AfD-Chef Björn Höcke meint, die Bundeskanzlerin müsse „in der Zwangsjacke“ aus dem Kanzleramt entfernt werden, Parteikollege Peter Boehringer hat sie in einer E-Mail als „Dirne der Fremdmächte“ bezeichnet. Pegida-Anhänger attackieren sie als „Volksverräterin“. Wären die Senatoren in der römischen Republik über diese Beschimpfungen entsetzt gewesen?
Prof. Martin Jehne: Sie wären nicht völlig überrascht gewesen, denn der Ton damals war rau. Römische Senatoren mussten dies bis zu einem gewissen Punkt über sich ergehen lassen. Vor allem, wenn die Beschimpfungen nicht von politischer Prominenz geäußert wurden, sondern etwa von Besuchern einer Volksversammlung. Denn in der römischen Republik galt das Staatsvolk als Inkarnation des Staates selbst, hatte deshalb auch besondere Rechte.
In Rom konnte der hochmögende Senator das Volk verachten, als Magistrat konnte er es durch sein Personal vom Bürgersteig verscheuchen lassen, um ihm den Weg frei zu machen, aber nicht in den Momenten, in denen Bürger ihm als Vertretung aller entgegentraten, etwa in Volksversammlungen, aber auch im Theater. Bei diesen Gelegenheiten waren die Rollen so verteilt, dass das Volk die Senatoren aufs Härteste schmähen durfte, umgekehrt war dies tabu.
In der Moderne ist es natürlich fragwürdig, wenn eine Gruppe für sich reklamiert, sie sei das Volk. Dennoch erlebten wir einen Nachhall, als Sigmar Gabriel 2015 im sächsischen Heidenau von einer sehr kleinen Gruppe Fremdenhasser aufs Übelste attackiert wurde und sich dann dazu hinreißen ließ, diese als „das Pack“ zu titulieren. Die Empörung über Gabriels Äußerung resultierte auch aus der Tradition, in einer Volksmenge den Souverän zu vermuten."
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"Müssen wir im Lichte der römischen Erfahrungen die Verrohung der Sprache nicht länger als Warnsignal für die Demokratie begreifen?
Wir sollten es nüchterner und gelassener sehen und uns mit mehr Härte in den Auseinandersetzungen arrangieren. Allerdings gilt es, klare Grenzen zu setzen. Was in einer Demokratie nicht geht, sind Vorwürfe mit biologistischem Hintergrund. Man darf Gruppen keine angeborenen Eigenschaften zuschreiben, um sie zu diskriminieren. Gegen einen derartigen Rassismus sind die betroffenen Menschen wehrlos.
Aber die Auseinandersetzungen in den Parlamenten dürften durchaus wieder schärfer geführt werden. Eine Partei wie die AfD, die den Ton verändert hat, muss auch Konter erleben. Beleidigungen sollten Demokraten nicht auf sich sitzen lassen oder nur in Form von Empörung beantworten. Denn Rechtspopulisten integrieren ihre Anhänger über eben diese Grenzüberschreitungen. Wer robust kontert, wie etwa Martin Schulz gegenüber Alexander Gauland in der Bundestagsdebatte vom September 2018, als er die AfD verbal auf „den Misthaufen der Geschichte“ warf, raubt den Populisten die notorische Siegerpose.
Es gilt zu belegen, dass die Demokratie auch auf dieser Ebene eine gewisse Wehrhaftigkeit besitzt.
Wir brauchen mehr Cicero im Bundestag…
…Genau. Wenn man von dessen Obsession aufs Sexuelle absieht, würde uns ein bisschen mehr Cicero gut tun."