Beispiel Einleitung/Schlußresümee/Literaturverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Einer Untersuchung von Jacques Morel4 zufolge, finden sich Träume in den französischen Tragödien des 17. Jahrhunderts insbesondere zu Beginn dieses Jahrhunderts, in der Generation Hardys, die dem Barock zuzurechnen ist, und in der diese Träume zumeist konkret aufgeführt wurden. Dabei überwogen die "visions terrifiantes", denn "l´horreur constituait alors la meilleure part du plaisir théâtral"5 . Gegen Ende des Jahrhunderts ist erneut ein starker Gebrauch der Träume - jetzt zumeist als Ballettsequenzen - zu verzeichnen, den Morel auf das Verlangen der Zuschauer nach Unterhaltung zurückführt: "c´est qu´un public aristocratique et délicat réclame au théâtre des spectacles plaisants pour les yeux, et qui puissent toucher sa sensibilité raffinée."6
Dazwischen liegt eine Zeit, in der der Traum laut Morel nur noch als "simple récit"7 fungierte. Seine Gewährsleute hierfür sind Racine (Traumsequenzen in Athalie und Esther) und Corneille, bei dem sich, neben dem Wachtraum im Clitandre von 1660 und dem Traum Camilles im Horace, der Traum Paulines in Polyeucte für eine Untersuchung und Überprüfung der Systematisierung Morels anbietet.
Ausgegangen wird dabei von der Bestimmung des Traums als simple récit, der ihm als typischer Verwendungszweck in einem eher klassischen Theater und dessen Einschränkungen gegenüber dem Bereich des merveilleux gilt. In diesem Sinne ist auch die pauschale Aussage Palleys8 zu verstehen, der feststellt, daß in Frankreich "with its traditional emphasis of reason, dream as a major thema manifests itself only with the Symbolists and Surrealists".
Jacques Schérers9 Auflistung der Funktionen des récit sollen dabei den Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung bieten und - wenn nötig - ergänzt und auf die Anwendung im gegebenen Fall kritisch hinterfragt werden. Zunächst diene der récit, um "faire connaître des événements", im vorliegenden Fall, der Informationsvergabe im Rahmen der Exposition. Zur Charakterisierung der beteiligten Figuren trägt er im Sinne von "peindre le caractère de celui qui parle et de celui qui écoute" zusätzlich bei. Desweiteren sei er ein "ornement", was den Worten Corneilles aus dem Abrégé du martyre de saint Polyeucte10 entspricht, der den Traum als eines der "embellissements" beschreibt. Schließlich trage jeder récit die Funktion einer "génératrice d´émotion", bereitet also Spannung, Überraschung und schafft das handlungskonstituierende obstacle. An dieser Stelle muß auch ein Blick auf die Realisierung der Traumvision geworfen werden.
Darüber hinaus gilt es zu erfragen, warum das Motiv des Traums gleichsam sich eines solchen Beliebtheitsgrades erfreute. Analoge Verwendungszwecke in nicht klassischen Dramen finden sich insbesondere in den "Cäsar-Stücken". Das Vorbild hierfür mag Grévins César aus dem Jahr 1561 gewesen sein, größte Popularität - insbesondere in der Nachwelt - verdankt es wohl Shakespeares Julius Caesar von 1599. Für Corneille direkt präsent dürfte es durch Scudérys Bearbeitung in Mort de César gewesen sein. Hierbei wird zu untersuchen sein, inwieweit die Besonderheit der Märtyrertragödie eine andersartige Verwendung des Motivs vermuten läßt und ob sich eventuell Aussagen über eine Zuordnung Polyeuctes in die Kategorien Barock / Klassik daraus ableiten lassen.
4 Morel, Jacques: "La présentation scénique du songe dans les tragédies françaises du XVIIe siècle", in: Revue d´Histoire du Théâtre 3 (1951), S.153-163.
5 ebd., S.155.
6ebd., S.161. Beispiele hierfür sind u.a. Boyers Les amours de Jupiter et de Sémélé und Donneau de Visés Les Amours du Soleil.
7 ebd., S.153 bzw. S.161: "Il faudra tout le génie de Racine pour rendre au songe...sa profondeur religieuse".
8 Palley, Julian: The Ambiguous Mirror: Dreams in Spanish Literature, Valencia 1983 (=Hispanófila 27), S.22.
9 Schérer, Jacques: La dramaturgie classique en France, Paris 1977, S.239-241.
10 Als Textausgabe diente Corneille, Pierre: Polyeucte, éd. Cathérine Poisson, Larousse 1991, wobei der Abrégé du martyre de saint Polyeucte auf S.27-31 (Zitat S. 30) und das Examen auf S. 143-148 zu finden ist.
Schlussresümee
Kann das Traummotiv und dessen spezielle Verwendung bei Corneille im Polyeucte als Kriterium für die Einordnung des Autors zwischen barocker diversité und klassischem Einheitswillen dienen?
Sicherlich beutet Corneille die theatralische Wirksamkeit des Traumes nicht vollständig aus, verpackt er ihn doch in einen - wenn auch stilistisch höchst kunstvoll ausgestalteten - récit. Dabei wird der Traum aber dramaturgisch funktionalisiert, dient zur Gestaltung der Exposition und zur damit verbundenen Charakterisierung der Figuren, was trotz des heiklen Agierens am Grenzbereich zwischen vraisemblance und merveilleux den klassischen Prinzipien entspricht. Barocke Elemente finden sich hinsichtlich des dekorativen Ausschmückens im Sinne einer Definition des Traums als embellissement du théâtre ebenso wie in der Täuschung des Zuschauers durch die schleichende Demontage der Traumvision. Die Koexistenz barocker und klassizistischer Orientierungen, ohnehin ein Zeichen der Zeit11 , zeigt sich besonders gut an der Besonderheit der Gattung der Märtyrertragödie und deren in der Natur der Sache begründetem Abweichen vom Ideal des mittleren Helden, was einem Regelverstoß gleichkommt12 . Da anzunehmen ist, daß die als klassisch vereinnahmten Autoren (Racine, Molière) eben durch gewisse Abweichungen vom üblichen regelhaften Theater beim Zuschauer brillierten, mag Corneille zum Vergnügen des Publikums und zur Lösung vorwiegend technischer Probleme auf das weit verbreitete Motiv des Traums zurückgegriffen haben.
Erstaunliche Parallelen finden sich zu den "Cäsar-Stücken". Das negative Omen des Traums, der letztlich fatalerweise nicht beachtet wird, dient zunächst als obstacle. Wie Calphurnia um Ehemann Cäsar fürchtet, so bangt Pauline um Polyeucte. Wie Cäsar schließlich trotz aller Rücksicht auf seine Gattin die politische Ambition höher bewertet, so ist es bei Polyeucte der religiöse Eifer. Wie Cäsar aus stoizistisch-rationalen Gründen den Aberglauben in den Wind schlägt, so lehnt Polyeucte aus Glaubensgründen die unsichere Vision ab. Über diese Parallelen hinweg gibt es natürlich erhebliche Unterschiede, wichtig ist für diese Fragestellung vor allem, daß in beiden Fällen der Traum ungehört bleibt, sich auf gewisse Weise allerdings einlöst. Die Besonderheit Polyeuctes besteht in der christlichen Tragweite: der im Traum verkörperte Aberglaube wird vom Glauben, von der Konversion überwunden. Der Aberglaube hat das Schicksal vage vorhergesagt, doch ändern konnte er daran nichts. Nur der wahre Glaube ermöglicht es, sich mit dem Schicksal abzufinden, es zu akzeptieren. Wer das nicht kann, der geht als Verlierer vom Platz, wie Racines Athalie, die die tragische Schicksalsverflochtenheit des Racineschen Helden verkörpert. Dabei gilt es aber darauf hinzuweisen, daß dies, zumal bei Corneille, nur auf die emotionalen Protagonisten zutrifft, die vom Aberglauben affizierbar sind und zumeist durch Frauen repräsentiert sind. Sévère verkörpert den aufgeklärten honnête homme, der dem Aberglauben nicht anhängt, dessen Ideologie sich dem Leben stellt und der als der wahre, menschliche Sieger dasteht. Seine eigene Person betrifft die Problematik gar nicht, er verkörpert das Ideal der vraisemblance und der bienséance. Er muß am Ende nicht durch unrealistische Konversionen seinem Schicksal zugeführt werden. Und so kann man auch die Problematik des Traums auflösen. Corneille sieht in der Realität, auf dem Boden der Tatsachen, die bessere Position für die klassizistische Haltung, für, wenn man so will, die Regelpoetik, für die vraisemblance. Aber er hebt die barocke Lösung positiv auf, im Theater und im von ihm geschätzten Christentum kann der Aberglaube überwunden werden, dient das Irreale als schöner Schein, zum divertissement des Publikums. Damit allerdings verbindet er wieder die Aspekte, die im barocken Theater oftmals nebeneinander stehen: Didaxis und divertissement. Corneille belehrt uns über den Status des Traums und des Aberglaubens im allgemeinen. Dies kann als Aspekt der von Corneille immer wieder (v.a. in der Illusion comique) vertretenen Schule des Sehens gewertet werden: der Traum wird eben als falsche bzw. nur halbrichtige Sicht entlarvt, es kommt darauf an, wie man ihn deutet, wie man ihn sieht. Damit ist der klassischen Ausgestaltung des Stückes zusätzlich das barocke Element des far stupire und ein Erkenntnisgewinn hinzugefügt. Polyeucte ist in diesem - eingeschränkten - Sinne die Verneinung der doctrine classique.13
Der Traum bei Corneille braucht den Vergleich mit dem Traum bei Racine nicht zu scheuen.14 Die einseitige Geringschätzung des einen und das überschwengliche Lob des anderen bei Pabst ist eindeutig überzogen. Auch sollte diese Arbeit gezeigt haben, daß der Traum - bei beiden Autoren - mehr als nur einen simplen récit darstellt, wie Morel es vorschlägt. Der Traum hat seine Bedeutung in der Literatur des 17. Jahrhunderts nie ganz verloren.
11 Stenzel, Hartmut: Die französische "Klassik". Literarische Modernisierung und absolutistischer Staat, Darmstadt 1995, S.41.
12 In diesem Sinn bleibt die Verwunderung Doubrovskys, S.223: "pourquoi Corneille seserait mis soudain en tête d´écrire une ‚tragédie chrétienne', blessant par là les usages courants et les opinions prévalentes, dont il se montrait toujours si respectueux?", nicht nachvollziehbar, scheint er doch die zahlreichen barocken Elemente der vorhergehenden Dramen völlig zu vergessen.
13 Diese Meinung von Krauss wird bei Pabst, S.160 referiert.
14 Pabst, S.169/70. Der Vergleich Corneilles mit Shakespeare, der beweisen soll, daß der Traum einen schwankenden Charakter zeichne, hinkt, wird doch Cäsar mit Pauline gleichgesetzt und offenbar vergessen, daß Calphurnia die Träumende ist.
Literaturverzeichnis
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