Mit Chitin in der Mongolei
Vor der Ausbreitung von Covid-19 hatte sich die mongolische Republik durch eine weitgehende Abschottung ziemlich erfolgreich geschützt. So vergingen leider etliche Jahre, bevor ich im Auftrag der TUD wieder in die Mongolei reisen konnte, dafür dieses Mal immerhin auf direktem Weg (bei vorigen Reisen war Moskau jeweils fester Zwischenhalt...): Linienflug (staatliche mongolische Fluggesellschaft MIAT) von Frankfurt (Main) nach Ulaan Baatar (neuer Flughafen mitten im Nirgendwo) und zurück, jeweils ohne Zwischenlandung. In der Mongolei gab es Treffen mit den „alten“ Partnerinnen, es folgten (quasi direkt vom Flughafen aus) eine Feldexpedition in die Gobi (östlicher Teil, 2. – 6.8., was mich anging [andere blieben bis zum 15.8. dort]), und schlussendlich die Teilnahme an einer Konferenz über Umweltforschung und -technik in Ulaan Baatar. Das Wetter war nur anfangs so, wie man es in einer Wüste erwarten würde, dann gab es nachts intensive Regenfälle und teils schwere Gewitter. Der „endlose ewige blaue Himmel“ der mongolischen Schamanen (auch Name eines Hotels in Ulaan Baatar) ist freilich gerade im Sommer nicht die Regel in der Gobi.
An den Messungen/botanischen Feldstudien in der Mongolei (in den aimags [Provinzen] Dornogovi und Sükhbaatar) und China (innere Mongolei) waren auch chinesische Kollegen beteiligt, mit denen wir uns am Grenzübergang Zamiin-Uud/Erenkhot trafen und die einen ansehnlichen Gerätepark mitbrachten, welcher dann allerdings erst einmal seinen Weg durch den (chinesischen wie mongolischen) Zoll finden musste… Davon abgesehen ist auch die Situation der mongolischen Minderheit in China (Innere Mongolei) schwierig, wenn auch nicht so schlimm wie die der Uiguren oder Tibeter. Unsere mongolischen Freunde versuchten, mit ihren Landsleuten von südlich der Grenze diskrete Absprachen zu treffen, auf Mongolisch, im (berechtigten) Vertrauen darauf, dass die Mehrheit der Han-Chinesen (Studierende, zwei Professoren, wiss. Mitarbeiter) aus der Gruppe absolut nichts verstand.
Hauptsächliches Messziel bei der Tour durch die Gobi war die Bestimmung von Produktivität und Biodiversität der Pflanzen auf geschützten oder nicht abgesperrten Flächen. Durch Zäune versucht man, die Vegetation vor Verbiss insbesondere durch Ziegen und Kamele zu schützen; Schafe oder Yaks fressen lange nicht so destruktiv... Die Unterschiede sieht man im Gelände nicht sofort, sie sind aber statistisch belastbar. Dazwischen war noch Zeit für regionales Brauchtum wie den Besuch eines Naadam unweit von Zamiin-Uud mitten in der Gobi, mit Ringkämpfen und Bodenschießen. Sowohl „draußen“ in der Wüste als auch in Ulaan Baatar gab es viele schöne und produktive Gespräche, wobei ich die Chitinmethode[1] zur Bestimmung sowohl von Konzentrationen von Metallen in Oberflächen- oder unterirdischen Gewässern als auch in mit diesen in Kontakt stehenden Sedimenten bzw. Fluss- oder Inselufern sowohl anwenden als auch erläutern konnte. Für eine Wüste gibt es relativ viele kleine Gewässer, die meist als Viehtränken genutzt werden (ich habe dort auch erstmals Kamele baden gesehen) sofern sie nicht Salz haltig sind.
Einige davon, die auch mit der Chitinmethode untersucht wurden (Daten stehen noch aus), zeichnen sich durch eine hohe tierische Biodiversität aus: neben „Urzeitkrebsen“ (Triops cancriformis), Flohkrebsen und Wasserflöhen (Daphnia spp.) leben dort im lehmigen Wasser auch kleine (ca. 2,5 cm lange), leuchtend rote Fische. Insekten gibt es in der Gegend bis auf Grashüpfer und Grillen recht wenige, aber zahlreiche verschiedene Eidechsenarten.
In Ulaan Baatar führte ich lange, intensive Gespräche über den Ausbau der Zusammenarbeit. Die nächste Tour wird wohl schon 2024 nach Norden in die Region des (Noch-)Permafrosts führen nahe dem KhuvsGul und südwestlich des Baikal nahe der russischen Grenze. Neben dem Klimawandel gefährden auch Überweidung und atmosphärische Aerosole die Landschaft und traditionelle Lebensweise insbesondere der Rentierhirten im aimag KhuvsGul im Norden.
Bis dahin stehen auch noch einige gemeinsame Publikationen an. Ulaan Baatar zeichnet sich ansonsten durch eine exorbitante Bautätigkeit aus; mittlerweile lebt fast die Hälfte der 3,3 Millionen mongolischen Staatsbürger dort; die nächstkleineren Städte (Darkhan, Erdenet[2], beide erst in den 1970er Jahren zu Bergbauzwecken gegründet, Choibalsan im Osten, Morön im Norden) haben nur zwischen 90.000 und 40.000 Einwohner. Aus Mörön stammt unsere langjährige Kollegin Ariuna[3], jetzt Dekanin der Biologie in der NUM, die den Feldtrip geleitet und koordiniert hat. Beachtenswert in UB sind auch zwei große Ausstellungen: das neue Dschingis-Khan-Museum neben dem Parlament und die Sonderausstellung zur Kultur, Geschichte und Religionsgeschichte des mongolischen (und tuwinischen, buryatischen) Schamanismus, die Staatspräsident KhürelSuch wenige Tage zuvor (am 1. August) persönlich eröffnet hatte. Sie befindet sich im Museum für nationale Geschichte, das den Weg der Mongolen vom Paläolithikum bis zur modernen parlamentarischen Demokratie mit vielfältigen internationalen Verflechtungen liebevoll nachzeichnet. Der Schamanismus wird heute als die originäre Religion der Mongolei rezipiert, zu ihm bekennen sich allerdings nur noch 2% der Bevölkerung, vergleichbar den Anteilen von Christen bzw. Muslimen im Land.
Dessen ungeachtet fragen sich die Mongolen, welche Aussichten ihr Land zwischen den beiden riesigen und zunehmend aggressiven Nachbarn Russland und China hat, die auch die offene, demokratische Lebensform, einschließlich des „Eindringens“ unzensierter Informationen nach Nord und Süd sowie der Aufnahme von Flüchtlingen, nicht gerade schätzen. Auch hierzu sehr ernste Gespräche. In UB versucht man, in Bezug auf strategische Rohstoffe wie Lanthanoiden und deren Verarbeitung/Veredlung neue Netzwerke, insbesondere mit USA, EU und Japan, zu schaffen, die wohl eine ähnliche Existenz- und Beistandsgarantie begründen sollen wie die Mikrochips für Taiwan. Schlichte Rohstoffe können die seit der Unabhängigkeit 1921 stets sehr skeptisch beäugten Nachbarn im Süden dagegen gerne haben: täglich fahren auf der Bahnlinie durch die Gobi mehrere jeweils gut einen Kilometer lange Züge mit mongolischer Steinkohle nach China, meist mit drei bis vier Dieselloks bespannt. Die Nutzung regenerativer Energieträger in der Mongolei macht in letzter Zeit große Fortschritte. Dennoch ist in UB Luftverschmutzung nicht nur im Winter ein ernstes Thema.
Die legendären mongolischen Dinosaurierfunde aus der obersten Kreidezeit der Gobi (Nemegtium) – 2020 kam auch ein großer Flugsaurier dazu – werden übrigens endlich wieder angemessen in einem neuen Museum präsentiert, während sie eine Zeit lang in einem Einkaufszentrum am Rande von UB untergebracht waren.
Auch dieses ist museumsdidaktisch hervorragend gemacht, beherbergt auch fast alle in der Mongolei gefallenen oder gefundenen Meteoriten und – eher als Kuriosum – große, offenkundig von der UdSSR gestiftete Bronzewandtafeln zur Feier des Bergbaus und Fünfjahresplans insbesondere in Darkhan, die bezeichnender Weise komplett in Russisch, nicht Mongolisch, einer turko-altaischen Sprache (wer Türkisch kann, wird viele Worte wiedererkennen), beschriftet sind.
Was bleibt: eine Menge neuer Impulse für beide Seiten, ein sehr guter menschlicher und wissenschaftlicher Kontakt, der zunehmend auch Fragen betrifft, die nicht nur bilateral von Relevanz sind, wie Messungen am degradierenden Permafrost. Wir freuen uns schon auf das nächste Mal.
Prof. Stefan Fränzle
[1] Entwickelt vom Autor auf der Basis von älteren Arbeiten zur Sanierung von Abwässern und radioaktiven Stoffströmen durch Adsorption verschiedenster Metalle, einschließlich Uran und Spaltprodukten, an Chitin. Dabei werden auch minimale Spuren von Metallen aus Wasser, feuchten Sedimenten, gemahlenen Mineralien oder Holz in einer schnellen Reaktion (10 min) auf Chitin (Nebenprodukt des Krabbenpulens) übertragen. Das Chitin wird innen und außen auf Glasfläschchen aufgeklebt (je rund 40 – 50 mg), wobei die Außenseite für die erwähnten 10 min auf/in das Sediment gedrückt wird und gleichzeitig auf dem Sediment befindliches Wasser Metallionen auf das Chitin im Flascheninneren überträgt (vgl. Bild 1). Das gewährleistet einen minimalen Abstand der beiden Probennahmeorte und damit die möglichst präzise Erfassung der Gleichgewichtslage bei der Metallionadsorption aus beiden Phasen beiderseits des Gewässerbodens oder der Uferlinie.
[2]Der heutige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij ist teilweise in der Pioniersiedlung, aus der Erdenet werden sollte, aufgewachsen; sein Vater war dort als Bergbauingenieur tätig. Gefördert werden dort hauptsächlich Kupfer und Molybdän.
[3]Eigentlich Ariuntsegtseg. Im Mongolischen gibt es – ähnlich wie auf Island und in Äthiopien – in der Regel keine Familiennamen, sondern nur Patronyme (hier: Lkhagvaa). Besonders Prestige trächtige Namen wie „SüchBaatar“ (Axt-Held (1893 – 1923); der Name des Staatsgründers der modernen Mongolei) werden aber halbformell gerne beibehalten und über die Generationen vermittelt.