Jul 24, 2017
Das Universum in einem Kristall
Dresdner Forscher, zu denen Dr. Tobias Meng vom Institut für Theoretische Physik der TU Dresden gehört, haben gemeinsam mit einem internationalen Forscherteam einen unerwarteten experimentellen Zugang zu einem Problem der Allgemeinen Realitätstheorie gefunden. Im Fachmagazin "Nature" berichten sie, dass es ihnen mit neuartigen Materialien und thermoelektrischen Messungen gelungen ist, die Schwerkraft-Quantenanomalie nachzuweisen. Erstmals konnten so Quantenanomalien in simulierten Schwerfeldern an einem realen Kristall untersucht werden.
In der Physik spielen Messgrößen wie Energie, Impuls oder elektrische Ladung, die ihre Erscheinungsform zwar ändern können, aber niemals verloren gehen und niemals aus dem Nichts entstehen, eine zentrale Rolle. Diese Messgrößen bestimmen die physikalischen Prozesse in unserem Universum. In bestimmten Situationen jedoch, wenn man von der klassischen Physik zu einer nicht-klassischen Betrachtung (Quantenmechanik) übergeht, sind diese Größen nicht mehr zwangsläufig erhalten. Man spricht dann von Quantenanomalien. Eine dieser Quantenanomalien, mit der z.B. theoretische Physiker Neutronensterne beschreiben, ist noch nie experimentell nachgewiesen worden. Es ist die Schwerkraft-Quantenanomalie: der Zusammenbruch eigentlich stets erhaltener Messgrößen – in diesem Fall der Energie und des Impulses – in gleichzeitig angelegten und parallel verlaufenden Magnet- und Schwerefeldern.
Forschern ist es nun erstmals gelungen, diese Quantenanomalie experimentell in Kristallen nachzuweisen. Dabei konnten sie eine große experimentelle Schwierigkeit umgehen, denn ausreichend starke Schwerefelder zur Beobachtung der Schwerkraft-Quantenanomalie, und die damit einhergehende, von Einstein vorausgesagte Krümmung der Raumzeit, liegen zwar bei Neutronensternen oder in der Nähe Schwarzer Löcher vor, können aber nicht im Labor auf der Erde realisiert werden. Somit konnte die theoretisch vorausgesagten Schwerkraft-Quantenanomalie bisher nicht gemessen werden.
Wie das Forscherteam nun in „Nature“ berichtet, haben sie einen unerwarteten Ausweg aus diesem experimentellen Dilemma gefunden. In ihrem Experiment nutzten die Forscher erstmals die Erkenntnis, dass sich unter bestimmten Umständen in Kristallen ein Schwerefeld durch einen Temperaturunterschied nachahmen lässt. So können Messungen in Gravitationsfeldern nachgestellt werden, ohne dass dafür eine Krümmung der Raumzeit im Labor erzeugen werden müsste. Tobias Meng, der erst kürzlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in das renommierte Emmy Noether-Programm aufgenommen wurde, war maßgeblich an der Interpretation der experimentellen Daten beteiligt.
Neuartige Materialien – sogenannte Weyl-Halbmetalle – stellen für die Forscher eine ideale Messplattform dar. In diesen Materialien gibt es bestimmte Elektronen (Weyl-Fermionen), die aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften für das Forscherteam beim Nachweis der Schwerkraft-Quantenanomalie besonders interessant waren. Diese Elektronen haben, wie alle Elektronen in Kristallen, zwei verschiedene Drehrichtungen – links- und rechtsdrehend. Eine Besonderheit dieser Materialien ist, dass die Energie und der Impuls der Elektronen eines Drehsinns jeweils eine stets erhaltene Messgröße darstellen. So kann weder im linksdrehenden noch im rechtsdrehenden Elektronenreservoir Energie oder Impuls verloren oder hinzugewonnen werden – es sei denn, es liegt eine Quantenanomalie vor.
„Konkret geht es darum, dass die Energie der nach dem Physiker Hermann Weyl benannten Weyl-Teilchen nicht den gleichen Gesetzen folgt wie bei normalen Teilchen“, erklärt Tobias Meng. Der Nachweis des Effekts schließt eine Lücke zwischen dem theoretischen Bild, das die Physiker von Weyl-Teilchen haben, und den bisherigen experimentellen Ergebnissen. Dies ist nicht nur grundlagenwissenschaftlich interessant: Weyl-Teilchen leiten zum Beispiel Strom besonders gut, und könnten daher die Computer der Zukunft schneller machen. „Um solche Fortschritte im Alltag zu ermöglichen, müssen wir zuerst die grundlegenden Eigenschaften dieser Teilchen wirklich verstehen. Ich freue mich, dass unsere Arbeit dazu einen wichtigen Beitrag leistet“, so Tobias Meng.
Ein solches neuartiges Material setzten die Forscher im Experiment einem Temperaturunterschied aus, der in gewöhnlichen elektrischen Leitern einen Stromfluss verursacht. In dem untersuchten speziellen Halbmetall-Material darf nun allerdings gerade kein Stromfluss zustande kommen, da dies Ausdruck der stets erhaltenen Energie und des stets erhaltenen Impulses der beiden Elektronenreservoirs ist. Als die Forscher einen weiteren Temperaturunterschied über dem Kristall erzeugten und in gleicher Richtung ein Magnetfeld anlegten, beobachten sie jedoch einen Stromfluss, der mit ansteigendem Magnetfeld weiter zunahm. Dieser resultiert daraus, dass die eigentlich stets bewahrte Energie und der stets bewahrte Impuls der Elektronen eines Drehsinns nun nicht mehr erhalten ist und linksdrehende Elektronen beispielweise mehr Energie und einen größeren Impuls haben als die rechtsdrehenden. Dieses werten die Forscher als ersten experimentellen Nachweis der Schwerkraft-Quantenanomalie.
Den Forschern ist es somit erstmals im Experiment gelungen, eine Quantenanomalie unter Beteiligung eines simulierten Schwerefeldes zu beobachten. „Extrem spannend ist, dass wir mit Hilfe dieses Experiments aus dem Bereich der Festkörperphysik eine physikalische Fragestellung beantworten konnten, die auch in vielen anderen Bereichen der Physik außerhalb der Materialforschung eine wichtige Rolle spielt“, freut sich Anna Niemann, Doktorandin im Team von Professor Nielsch am Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden (IFW Dresden). So seien die Ergebnisse dieser Studie beispielsweise relevant für Astrophysiker, um Prozesse im frühen Universum aufzuklären, und für Teilchenphysiker, um mögliche Teilchenzerfälle zu verifizieren.
Das Autorenteam besteht aus Wissenschaftlern der TU Dresden, des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe und des IFW Dresden sowie aus Partnern vom IBM-Research Zürich, des Weizmann Institute of Science in Israel, der Berkeley Universität in Kalifornien und den Universitäten in Madrid und Hamburg. Im IFW Dresden stehen die Arbeiten unter Leitung von Prof. Kornelius Nielsch, der seit 2015 Direktor des IFW-Instituts für Metallische Werkstoffe am IFW Dresden ist und das Gebiet der thermoelektrischen Materialien und Messmethoden, zu dem auch diese Arbeit zählt, am IFW Dresden wieder etabliert hat.
Originalveröffentlichung: J. Gooth, A. C. Niemann, T. Meng, A. G. Grushin, K. Landsteiner, B. Gotsmann, F. Menges, M. Schmidt, C. Shekhar, V. Süß, R. Hühne, B. Rellinghaus, C. Felser, B. Yan, K. Nielsch: „Experimental signatures of the mixed axial-gravitational anomaly in the Weyl semimetal NbP“ DOI: 10.1038/nature23005
Informationen für Journalisten:
Prof. Kornelius Nielsch
Tel.: 0351 4659-104