02.12.2021
Forschung: Elektronen-Familie erzeugt bisher unbekannten Aggregatzustand
Elektronen-Familie überrascht Forscher
In der Quantenphysik ist die schon 1911 entdeckte Supraleitung bisher das wohl bekannteste Phänomen. Seit den 1950er Jahren sind ihre theoretischen Grundlagen verstanden. Ganz wesentlich dabei ist, dass sich Elektronen bei ultratiefen Temperaturen nicht mehr einzeln, sondern als zweiteilige Elektronen-Paare durch ein Metall bewegen. Elektronen-Paare stoßen im Atomgitter nicht an, so dass sie ihre Ladung ganz ohne Energieverluste transportieren können.
Als die Dresdner Forscher um Henning Klauss das supraleitende Metall Ba1-xKxFe2As2 aus der Klasse der Eisenpniktide experimentell untersuchten, vermuteten sie zunächst einen Fehler: „Als wir entdeckt haben, dass plötzlich vier statt bisher zwei Elektronen eine Verbindung eingehen, glaubten wir zuerst an einen Messfehler. Aber mit je mehr Methoden wir gemessen haben, desto klarer wurde uns, dass es sich um ein neues Phänomen handeln musste: Alle Nachprüfungen kamen zum gleichen Ergebnis. Jetzt wissen wir, dass durch die vierteilige Elektronen-Familie in bestimmten Metallen bei ultratiefer Kühlung ein ganz neuer Aggregatzustand entsteht. Wozu das künftig führt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen“, kommentiert der Dresdner Physiker und Projektleiter Henning Klauss.
Schon vor etwa zehn Jahren wurde theoretisch vorhergesagt, dass es bei bestimmten supraleitenden Metallen einen ungewöhnlichen Materiezustand geben könnte, bei dem vier statt zwei Elektronen eine Rolle spielen. Das internationale Forschungsteam des Exzellenzclusters ct.qmat hat nun den ersten experimentellen Nachweis erbracht. Zwei Jahre lang wurde er mit sieben unterschiedlichen Methoden nachgepfüft.
„Wir haben den neuen Aggregatzustand zunächst in einem Schweizer Teilchenbeschleuniger entdeckt. Unsere Ergebnisse konnten wir danach mit sechs weiteren Methoden vor Ort in Dresden und an der Universität Stockholm bestätigen. Der große Standortvorteil von Dresden sind die kurzen Wege: Ich kann meine Probe fast zu Fuß in ein Leibniz-Institut oder Helmholz-Zentrum bringen“, betont der führende Experimentator des Projektes, Dr. Vadim Grinenko von der TU Dresden. Die theoretische Interpretation der Messergebnisse stammt vom schwedischen Physiker Prof. Egor Babaev.
Schon die Entdeckung der Eisenpniktide als für Supraleitung besonders geeignete Materialklasse löste ab 2008 einen weltweiten Forschungsboom in Physik und Materialwissenschaft aus. Die Energiewirtschaft setzt große Hoffnungen in das populäre Quantenphänomen, denn beim konventionellen Energietransport gehen bis zu 15 Prozent Energie durch den Transportwiderstand verloren. „Wenn man Strom tatsächlich flächendeckend in supraleitenden Metallen bei Raumtemperatur transportieren könnte, wären auf der Stelle etwa zehn Großkraftwerke überflüssig“, so Klauss. Grundlagenorientierte Forschung – wie die von Prof. Klauss – beschäftigt sich allerdings mit dem Verständnis der zugrundeliegenden Physik und kann über zukünftige Anwendungsmöglichkeiten allenfalls spekulieren.
„Man kann davon ausgehen, dass unsere Ergebnisse zu einer ganz neuen Forschungsrichtung führen, in der zum Beispiel nach anderen Metallen mit vier zusammenhängenden Elektronen gesucht wird oder man erforscht, wie Materalien verändert werden müssen, damit eine Elektronen-Familie entsteht“, erklärt Klauss. „Rein theoretisch wäre mit unserer Elektronen-Familie auch eine ganz neue Art von Supraleitung möglich, aber das ist Zukunftsmusik. Sicher ist nur, dass sich Eisenpniktide durch den neuen Aggregatzustand gut für Technologien wie Quantensensoren eignen.“
V. Grinenko, D. Weston, F. Caglieris, C. Wuttke, C. Hess, T. Gottschall, I. Maccari, D. Gorbunov, S. Zherlitsyn, J. Wosnitza, A. Rydh, K. Kihou, C.-H. Lee, R. Sarkar, S. Dengre, J. Garaud, A. Charnukha, R. Hühne, K. Nielsch, B. Büchner, H.-H. Klauss, E. Babaev,
State with spontaneously broken time-reversal symmetry above the superconducting phase transition,
Nat. Phys. 17, 1254 (2021) (arXiv)