15.06.2022
Forschung: Fast alles ist topologisch
Seit einem Jahrhundert wird Studenten der Chemie, Materialwissenschaften und Physik beigebracht, Festkörperwerkstoffe so zu modellieren (d. h. durch quantenmechanische Rechnungen die Eigenschaften von Festköpern vorherzusagen), indem man ihre chemische Zusammensetzung, die Anzahl und den Ort ihrer Elektronen und schließlich die Rolle der komplizierteren Wechselwirkungen berücksichtigt. Ein internationales Team von Wissenschaftlern hat jedoch vor kurzem herausgefunden, dass ein zusätzlicher Bestandteil – der mathematische Begriff der elektronischen Bandtopologie – ebenso berücksichtigt werden muss wie die Materialchemie, die Geometrie und die Wechselwirkungen.
Topologische Materiephasen wurden erstmals vor 15 Jahren vorhergesagt. Topologische Materialien weisen an ihren freiliegenden Oberflächen und Kanten ungewöhnlich robuste Zustände auf und wurden als Schauplatz für die Beobachtung und Manipulation exotischer Effekte vorgeschlagen, darunter die Umwandlung von elektrischem Strom und Elektronenspin sowie die Speicherung und Manipulation von Quanteninformationen. Obwohl eine Handvoll topologischer Materialien durch chemische Intuition aufgedeckt wurde, galten topologische elektronische Zustände in Festkörpern im Allgemeinen als selten und esoterisch.
Mit Hilfe von Hochdurchsatz-Rechenmodellen entdeckte das Team jedoch, dass mehr als die Hälfte der bekannten 3D-Materialien in der Natur topologisch sind. Das Team führte vollständige Hochdurchsatzberechnungen nach ersten Grundsätzen durch und suchte nach topologischen Zuständen in den elektronischen Strukturen aller 96.196 in der "Inorganic Crystal Structural Database" erfassten Kristalle, einem etablierten internationalen Repository für die Erfassung experimentell untersuchter Materialien. Die Daten des Teams wurden der öffentlich zugänglichen Topological Materials Database frei zugänglich gemacht.
Das Team entdeckte auch überraschend, dass fast alle Materialien – fast 90 % – topologische elektronische Zustände aufweisen, die von ihrer eigentlichen Elektronenzahl, dem so genannten Fermi-Niveau, abweichen. Obwohl diese Zustände in vielen experimentellen Sonden schlummern, sind sie mit Hilfe von Techniken wie chemischer Dotierung, elektrostatischem Gating, hydrostatischem Druck und Photoanregungsspektroskopie dennoch leicht zugänglich.
Die Allgegenwärtigkeit der in numerischen Simulationen beobachteten topologischen Merkmale führte zu einer naheliegenden Frage: Wenn man den Ergebnissen Glauben schenken wollte, hätten experimentelle Signaturen topologischer Zustände bereits in früheren Untersuchungen vieler Materialien beobachtet werden müssen. Bei der Durchsicht von Daten aus früheren Photoemissionsexperimenten stellte das Team fest, dass dies tatsächlich der Fall ist. Bei experimentellen Untersuchungen von Bi2Mg3, die vor vier Jahren durchgeführt wurden, beobachteten die Autoren zum Beispiel unerklärliche "Oberflächenresonanzen", die in der aktuellen Studie als übersehene topologische Oberflächenzustände abseits des Fermi-Niveaus erkannt wurden. "Unsere Datenbank ist ein so mächtiges und praktisches Werkzeug", bemerkt Claudia Felser vom Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe. "Wenn ich mich für eine topologische Eigenschaft interessiere, zeigt mir die Datenbank sofort die besten Kandidaten an. Dann muss ich die Proben nur noch in meinem Labor züchten - kein Rätselraten mehr."
M. G. Vergniory, B. J. Wieder, L. Elcoro, S. S. P. Parkin, C. Felser, B. A. Bernevig, N. Regnault,
All topological bands of all non-magnetic Stoichiometric materials,
Science 376, 6595 (2022) (arXiv)