23.07.2017
„Unpopulär, aber sozial gerechter“ – ausgezeichnete TUD-Promotion
(porträtiert im Jahr 2017)
Dagmar Möbius
Die ingenieurwissenschaftliche Dissertation von Dr. Thilo Becker wurde im Juni 2017 in Berlin mit dem zum ersten Mal verliehenen „BUND-Forschungspreis" gewürdigt. Sie hat viel mit Gesundheit zu tun.
Ungefähr sechs Jahre arbeitete Thilo Becker an seiner Doktorarbeit. Anfang 2016 schloss er die an der Professur für Verkehrsökologie der TU Dresden und von Professor Udo Becker betreute Arbeit zum Thema „Sozialräumliche Verteilung von verkehrsbedingtem Lärm und Luftschadstoffen am Beispiel Berlins“ ab. Die mit einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung geförderte Promotion war Bestandteil des interdisziplinären Graduiertenkollegs „DIKE - Kostenwahrheit im Verkehr“.
„Insgesamt fünf Doktorarbeiten wurden aus Perspektive verschiedener Fachrichtungen bearbeitet, wobei der Teamgedanke ganz entscheidend war“, berichtet der 34-Jährige und lobt: „Ohne unsere gegenseitige Unterstützung wäre ich sicherlich noch nicht fertig.“ Deshalb unterstützt er seine Kolleginnen bei deren noch nicht ganz fertigen Promotionen.
Kaum bekannt: Verkehrssystem kann zu sozialer Ungleichheit führen

Jahrelang forschte Dr. Thilo Becker zu Luftschadstoffen
„Die wenigen früheren Studien zum Thema hatten meist kleine Stichproben und befragten die Menschen zu ihrem Sozialstatus und der gefühlten Lärm- oder Luftschadstoffbelastung“, erklärt Dr. Thilo Becker. Er untersuchte deshalb, wie stark verschiedene sozio-ökonomische Gruppen durch Umweltwirkungen des Verkehrs belastet sind und verknüpfte erstmals objektive Umweltdaten, ökonomische Bewertungen und die Sozialstatistik einer deutschen Großstadt. Konkret: „Ich habe auf modellierte Belastungsdaten für das gesamte Stadtgebiet aufgebaut und somit ganz Berlin analysiert.“ Warum Berlin? Zum einen konnte das Statistische Landesamt Berlin-Brandenburg extrem kleinräumig strukturierte Sozialdaten zur Verfügung stellen. „Ich kannte für jeden Straßenabschnitt den Anteil der Hartz-IV-Empfänger und den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund. Solche Daten hat nach meinem Kenntnisstand keine andere Stadt in Deutschland“, so der Preisträger. „Zum anderen lief bei der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt ein eigenes Forschungsprojekt zu Umweltgerechtigkeit, in das ich mich einklinken konnte. Diese fachliche Beratung und Diskussion war ein ganz entscheidender Erfolgsfaktor. Ich finde es bemerkenswert, dass eine Stadtverwaltung über mehrere Wahlperioden so ein innovatives, aber politisch manchmal umstrittenes Thema konsequent weiterverfolgt.“
Ergebnisse befürworten Verkehrswende
Die flächendeckende Auswertung für Berlin zeigte, dass ein niedriger sozialer Status mit einer höheren Belastung durch verkehrsbedingten Lärm und Luftschadstoffe einhergeht. Betrachtet man externe Kosten durch Luftschadstoffe von jährlich 1,9 Milliarden Euro, zeigte sich, dass Straßenabschnitte mit hoher Migrationsquote 2,8-fach stärker belastet sind als solche mit niedriger Migrationsquote. Bei Straßenlärm mit jährlich 130 Millionen Euro externen Kosten liegt der Faktor zwischen niedriger und hoher Migrationsquote bei 3,4. „Alle Ergebnisse sind hoch signifikant und korrelieren. Zudem können sozial schwache Menschen kaum vor der Belastung ausweichen“, sagt
Dr. Thilo Becker und leitet Hausaufgaben für Politik und Verwaltung aller staatlichen Ebenen ab:
- zunehmende Umweltbelastung von sozio-ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen vermeiden
- bereits bestehendes Belastungsniveau senken, damit mehr Menschen in einer gesundheitsförderlichen Umgebung leben können
- Maßnahmen priorisieren, bei denen sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden
Dr. Thilo Becker plädiert für eine Verkehrswende, die neben einer starken Förderung der Umweltallianz auch sogenannte Push-Maßnahmen umfassen kann. Nach Angaben des Umweltbundesamtes gehören dazu beispielsweise Maßnahmen wie höhere Parkgebühren und Energiesteuern, entfernungsabhängige Mautgebühren, 30 km/h als Standardgeschwindigkeit und verbindliche Abgasnormen. Diese nicht immer populären Maßnahmen müssen zwangsläufig in eine Gesamtstrategie eingebunden werden, die spürbare Verbesserungen für Fußgänger, Radfahrer und den öffentlichen Nahverkehr mit sich bringt. Der Verkehrsplaner ist überzeugt: „Wenn der Autoverkehr reduziert wird, wird auch die Gesellschaft sozial gerechter.“ Denn weniger Belastung durch Lärm und Luftschadstoffe hilft insbesondere sozial benachteiligten Gruppen. Er weiß, dass solche Thesen aus der Wissenschaft in Deutschland noch nicht auf breite gesellschaftliche und politische Unterstützung zählen können. Industrie und Gewerkschaften argumentieren, dass höhere Umweltstandards und deren tatsächliche Einhaltung
den „kleinen Leuten“ aufgrund höherer Kosten schaden würden. Er entgegnet: „In Wirklichkeit sind es jedoch genau diese Gruppen, die überproportional von Lärm und Luftschadstoffen belastet werden. Aus anderen Studien wissen wir, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status viel weniger zum Autoverkehr und den damit verbundenen Umweltbelastungen beitragen.
Arbeit open access veröffentlicht

2. Platz beim Dr.-Hut-Wettbewerb der TUD-Graduiertenakademie in Kooperation mit der SLUB.
Seine Dissertation und eine Zusammenfassung der Arbeit hat Dr. Thilo Becker open access veröffentlicht. „Das war selbstverständlich für mich, denn ich wurde während der Bearbeitungszeit durch unterschiedliche öffentliche Mittel finanziell unterstützt. Die Öffentlichkeit hat somit aus meiner Sicht ein Recht an den Ergebnissen.“
Zur Person
Von 2003 bis 2009 studierte Thilo Becker Verkehrsingenieurwesen mit den Schwerpunkten Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der TU Dresden. Zwischenzeitlich absolvierte er ein Master-Studium für Transportsysteme an der KTH in Stockholm. Zudem kann er auf mehrere berufliche Auslandsaufenthalte, unter anderem in Kenia und Russland, verweisen. Von 2009 bis 2017 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Verkehrsökologie der TU Dresden in zahlreiche Forschungsprojekte involviert, unter anderem zu Radverkehrsplanung, Lärm- und Luftschadstoffen, stationsunabhängigem Car-Sharing und Energieeffizienz im Verkehr.
Als Referatsleiter Strategische Verkehrsplanung in Bremen ist er seit Mai 2017 für die Umsetzung des Verkehrsentwicklungsplans zuständig. „Aktuell planen wir beispielsweise eine 40 Kilometer lange Fahrradpremiumroute quer durch die Stadt, wir bereiten Projekte zu Elektromobilität und autonomem Fahren vor und sind in die Beschaffung von neuen Straßenbahnfahrzeugen involviert.“
Kontakt:
Strategische Verkehrsplanung, Bremen
Referatsleiter
Dr. Thilo Becker
E-Mail
TUD-Filmclips zum Studium der Verkehrswissenschaften:
Studium der Verkehrswissenschaften © rederei-agentur.de
Studium der Verkehrswissenschaften © TUD 2023
Studium der Verkehrswissenschaften © TUD 2021