14.10.2025
MIDEM Polarisierungsbarometer: Bei welchen Themen Deutschland wirklich gespalten ist

Die Studie fokussiert auf insgesamt 15 Sachfragen in den Themenfeldern Zuwanderung, Sicherheit, Klimawandel, Wirtschaft und Soziales sowie Wertvorstellungen. Zu jedem Feld wurden die Befragten nicht nur nach ihrer Position, sondern auch nach ihrer emotionalen Haltung gegenüber Andersdenkenden gefragt. © Mathilda Rave/generiert mit DALL-E
MIDEM Polarisierungsbarometer zeigt die ideologische und affektive Polarisierung in Deutschland 2025
Mehr als 81 Prozent der Deutschen nehmen die Gesellschaft als gespalten wahr. Dabei wird dem Thema Zuwanderung das größte Spaltungspotenziel zugeschrieben. Das stärkste Maß an ideologischer Polarisierung kommt den Themen Klimaschutzmaßnahmen und Unterstützung der Ukraine zu. Zusammen mit dem Thema Zuwanderung ist hier auch die höchste affektive Polarisierung festzustellen. Das zeigt das Polarisierungsbarometer des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) an der TU Dresden. Die Befragung von knapp 34.000 Personen in acht EU-Ländern, darunter fast 4.400 in Deutschland, macht deutlich: Bei manchen Themen gehen die Meinungen weit auseinander, ohne dass der demokratische Zusammenhalt leiden muss. Bei anderen eskalieren Konflikte, weil aus politischen Gegnern Feinde werden. Und wieder andere Themen zeigen: Selbst dort, wo inhaltlich weitgehend Konsens herrscht, blockiert eine hohe Emotionalität die konstruktive Auseinandersetzung.
Zwei Formen der Polarisierung
Das Polarisierungsbarometer unterscheidet zwischen ideologischer Polarisierung (inhaltliche Meinungsunterschiede) und affektiver Polarisierung (emotionale Abwertung Andersdenkender). „Es vergeht kein Tag, an dem nicht mahnend auf eine wachsende Spaltung hingewiesen wird", sagt Studienleiter Prof. Dr. Hans Vorländer. „Das verkürzt aber die Analyse. Wir müssen differenzieren: Wann gefährdet Polarisierung die Demokratie wirklich? Und wann ist sie normaler Bestandteil pluralistischer Politik?" Ideologische Polarisierung ist bis zu einem gewissen Grad in Demokratien notwendig. Affektive Polarisierung hingegen kann den demokratischen Zusammenhalt schwächen, weil sie Verständigung blockiert und aus politischem Wettbewerb Feindschaft macht.
Ältere Menschen, Männer und Geringverdienende sind besonders stark affektiv polarisiert
Insgesamt zeigen ältere Menschen, Männer und Geringverdienende die höchsten affektiven Polarisierungswerte. Auffällig: Wer sich politisch klar ‚links‘ oder ‚rechts‘ verortet, ist stärker polarisiert – am rechten Rand allerdings deutlich stärker. Besonders ausgeprägt ist die emotionale Ablehnung Andersdenkender bei Anhängern von AfD und Grünen – zwei Lager, die sich in dieser Haltung ähneln. Bei CDU/CSU-, SPD- und FDP-Unterstützern bleiben die Werte deutlich niedriger.
Vier Diskurszonen mit unterschiedlichen Herausforderungen
Aus dem Zusammenwirken von ideologischer und affektiver Polarisierung lassen sich vier idealtypische „Diskurszonen" ableiten, die unterschiedliche Herausforderungen für Politik und Gesellschaft markieren. „Politik, Medien und Zivilgesellschaft müssen unterschiedlich agieren – je nachdem, ob sie es mit einem Spaltungsthema, einem Konfliktthema oder einem Reizthema zu tun haben“, sagt Vorländer. „Pauschale Warnungen vor ‚der Spaltung' helfen nicht weiter. Wir brauchen differenzierte Diagnosen für differenzierte Strategien."
- Spaltungszone – stark entgegengesetzte Meinungslager und hohe gegenseitige emotionale Aufladung: In Deutschland zählen dazu Klimaschutzmaßnahmen (42 Prozent für mehr, 40 Prozent gegen mehr), Ukraine-Unterstützung sowie Friedenssicherung und Rüstung. „Hier wird lösungsorientiertes politisches Handeln sehr erschwert", warnt Vorländer.
- Reizzone – klare Mehrheiten, hohe emotionale Ablehnung: Beim Thema Zuwanderung allgemein fordern 67 Prozent der Befragten Beschränkungen. Allerdings „kann emotionale Gereiztheit schnelle Problemlösungen blockieren“, erläutert Vorländer.
- Konfliktzone – hohe Meinungsunterschiede, niedrige emotionale Aufladung: In Deutschland ist das bei den Anforderungen an die Integration von Zugewanderten der Fall. 40 Prozent fordern umfassende kulturelle Anpassung, 47 Prozent halten Spracherwerb und Rechtstreue für ausreichend. „Hier können Kompromisse gefunden werden – mit hohem Verhandlungsaufwand", so Vorländer.
- Kompromisszone – geringe Meinungsunterschiede und niedrige emotionale Ablehnung: In Deutschland ist das beim Thema Internationale Handelsbeziehungen der Fall. Unterschiede werden akzeptiert und Lösungen genießen hohe Akzeptanz.
Themen statt Parteien: Ein neuer Forschungsansatz
Anders als bisherige Studien untersucht das Polarisierungsbarometer nicht primär Parteien. „Parteien haben an strukturbildender Kraft verloren", erklärt Vorländer. „Politik steht heute unter Druck unmittelbar artikulierter Interessen. Diskurse werden von emotional aufgeladenen Interventionen in digitalen Medien geprägt." Deshalb fokussiert die Studie auf insgesamt 15 Sachfragen in den Themenfeldern Zuwanderung, Sicherheit, Klimawandel, Wirtschaft und Soziales sowie Wertvorstellungen. Zu jedem Feld wurden die Befragten nicht nur nach ihrer Position, sondern auch nach ihrer emotionalen Haltung gegenüber Andersdenkenden gefragt.
Für demokratische Diskurskultur
„Eine lebendige Demokratie braucht Streit – aber sie darf nicht an ihm zerbrechen“, sagt Christiane von Websky, Leiterin des Bereichs Teilhabe und Zusammenhalt bei der Stiftung Mercator. „Das Polarisierungsbarometer zeigt eindrücklich, dass wir genauer hinschauen müssen: Nicht jede Differenz ist eine Spaltung, und nicht jeder Konflikt gefährdet den Zusammenhalt. Entscheidend ist, ob wir in der Lage bleiben, miteinander zu sprechen – auch über das, was uns trennt.“
Langzeitbeobachtung bis 2027
Das Polarisierungsbarometer ist die erste Welle eines auf drei Jahre in Zusammenarbeit mit YouGov angelegten Panels. „Wir werden dieselben Personen bis 2027 zweimal erneut befragen", erklärt Vorländer. „So können wir beobachten, ob sich Konfliktlinien in Deutschland und Europa verhärten oder auflösen – ein wichtiger Frühindikator für gesellschaftliche Entwicklungen." Die Erhebung erfasst Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Schweden, Spanien, Tschechien und Ungarn und knüpft an die erste MIDEM-Polarisierungsstudie von 2023 an.
Die vollständige Studie mit allen Daten, Methoden und Analysen ist ab sofort verfügbar unter: www.forum-midem.de
Über MIDEM
Das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) ist ein Forschungszentrum an der Technischen Universität Dresden, gefördert durch die Stiftung Mercator. MIDEM fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften – in einzelnen Ländern und im vergleichenden Blick auf Europa. Weitere Informationen über MIDEM können Sie unserer Website (www.forum-midem.de) entnehmen.
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