Nov 27, 2018
Über die unmerkliche Veränderung der (politischen) Verhältnisse
Die französische Autorin Cécile Wajsbrot liest am 28.11. in Dresden aus ihrem neuesten Roman "Destruction" (2019)
„Sie erinnern sich vielleicht, dass wir allmählich – statt nach hinten zu schauen, um sicherzugehen, dass uns das Ungeheuer nicht mehr auf den Fersen ist – Sie erinnern sich vielleicht“, so adressiert die Ich-Erzählerin im ersten Kapitel des Romans die Leser, „dass wir nach und nach begonnen haben, den Horizont abzusuchen, getrieben von einer leichten Beunruhigung, einem Unbehagen, einem Vorgefühl.“ Im Mittelpunkt von Cécile Wajsbrots neuestem Roman steht eine Frau, die ihr bisheriges Leben dem Lesen und Schreiben gewidmet hatte und der als künstlerisches Ausdrucksmittel in der gerade frisch etablierten Diktatur ihres Landes von einem geheimnisvollen Auftraggeber nur noch ein Audio-Blog zugestanden wird. Im kontrastiven Zusammenspiel verschiedener Stimmen befragt diese visionäre Dystopie die angsteinflößende Veränderung der Gesellschaft hin zu einem autoritären Regime: Wie konnte es soweit kommen, welches waren die ersten Anzeichen, was hätte man ihr entgegensetzen können? Wieviel Verantwortung trägt der Einzelne, waren wir alle zu unbekümmert, zu sorglos? Und selbst wenn alles nur ein Albtraum war, wie das Ende des Romans in einer möglichen Lesart zu suggerieren scheint: Braucht es eine veritable Diktatur, um sich über den Zustand einer Gesellschaft und die Rückkehr der Gespenster der Vergangenheit Sorgen zu machen?
Mit Destruction liefert Cécile Wajsbrot nicht nur eine Diagnose gegenwärtiger Gesellschaften, sondern beendet auch ihre Pentalogie über die Entstehung verschiedener Kunstformen, ihre Rezeption und ihre Funktionen. Cécile Wajsbrots jüngster Roman zeigt einmal mehr, dass sich ihr literarisches Werk nicht nur aufgrund seiner (musikalischen) Stimmigkeit und Kohärenz, sondern auch wegen seines dichten Gewebes intertextueller und intermedialer Verweise zu einem ‚einzigen Buch’ entwickelt. All ihre Texte gehen aufgrund ihrer innovativen ästhetischen Form das Risiko einer ‚Reise‘ zu unbekannten Kontinenten der Literatur ein.
Cécile Wajsbrot wurde als französische Autorin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin mehrfach ausgezeichnet: 2014 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis, 2016 den Prix de l’Académie de Berlin, seit 2017 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Dichtung. Die Autorin mit polnisch-jüdischen Wurzeln lebt abwechselnd in Paris und Berlin und gilt deshalb als eine exemplarische Vertreterin des ‚ZwischenWeltenSchreibens‘ (Ette 2005). Darauf gründet ihr einzigartiger Platz innerhalb der aktuellen französischen Literatur, da ihr Werk nicht nur wie ein Seismograph die unmittelbare Gegenwart befragt und erfasst, sondern sich zugleich durch Geschichtsbewusstsein und ein Interesse an kulturellen Vermittlungsprozessen auszeichnet.
Zur Zeit ist Cécile Wajsbrot im Rahmen eines DRESDEN Fellowships die Inhaberin der Poetik-Dozentur am neu gegründeten Centrum Frankreich | Frankophonie der Technischen Universität Dresden, das durch Vernetzung und Internationalisierung zu Weltoffenheit und Diversität beitragen möchte.
Cécile Wajsbrot, Destruction (2019) – Lesung mit anschließender Diskussion (Deutsch/Französisch)
Zeit: Mittwoch, 28. November 2018, Beginn: 19.00 Uhr
Ort: Literaturhaus Villa Augustin, Antonstr. 1, 01097 Dresden.
Centrum Frankreich | Frankophonie: https://tu-dresden.de/gsw/slk/romanistik/das-institut/einrichtungen/cff
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