Oct 20, 2020
Arbeitnehmer über 60 nicht stigmatisieren
Das Alter spielt bei der Schwere einer Covid-19-Erkrankung eine deutlich geringere Rolle als bisher angenommen
Ines Mallek-Klein
Der Dresdner Arbeitsmediziner und Epidemiologe Professor Andreas Seidler warnt davor, Arbeitnehmer über 60 generalisiert als Risikogruppe zu stigmatisieren und sie zum Fernbleiben vom Arbeitsplatz zu bewegen. Die negativen psychischen und wirtschaftlichen Folgen für die Betreffenden seien immens, so Seidler, der seit 2019 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) ist.
Die Haupturlaubszeit ist längst vorbei, viele Beschäftigte sind an ihre Arbeitssplätze zurückgekehrt. Aber nicht alle. Einige sind über 60 Jahre alt und gelten damit als Risikogruppe im Falle einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus.
Welchen Einfluss das Alter tatsächlich auf die Schwere des Krankheitsverlaufs hat, wollte Prof. Andreas Seidler herausfinden. Der Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin an der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden hat gemeinsam mit Wissenschaftskolleginnen und -kollegen zwölf internationale Studien ausgewertet. Die systematische Recherchearbeit erfolgte im Rahmen des Kompetenznetzwerks Public Health Covid-19, das Professor Seidler als Vertreter der DGSMP zusammen mit anderen Fachgesellschaften gegründet hat.
Im Ergebnis kommt der Arbeitsmediziner zu einer klaren Einschätzung: »Eine pauschale Gleichsetzung von Personen über 60 Jahren mit Personen, die an teilweise schweren Vorerkrankungen leiden, ist willkürlich und unverhältnismäßig. Diese undifferenzierte Einstufung über 60-jähriger Beschäftigter als Risikogruppe kann einer Stigmatisierung Älterer Vorschub leisten. Sie birgt die Gefahr erheblicher biografischer Einschnitte, psychischer Probleme und nicht zuletzt auch ökonomischer Notlagen«, fasst Professor Seidler die Ergebnisse zusammen, die am 17. August 2020 im International Journal of Environmental Research and Public Health (https://doi.org/10.3390/ijerph17165974 ) veröffentlicht wurden.
Bleiben ältere Beschäftigte ihrem Arbeitsplatz fern, ist das vielfach verbunden mit sozialer Isolation, die zu psychischen Beschwerden und Erkrankungen führen kann, so das Forscherteam weiter. Dr. Karla Romero Starke, federführende Autorin der Analyse, macht deutlich: »Faktoren wie erhöhter Blutdruck, Diabetes, obstruktive Lungenerkrankungen, Nierenerkrankungen oder Krebsleiden haben insgesamt einen weitaus größeren Einfluss auf die Schwere des Verlaufs als das Alter allein.« Vor diesem Hintergrund rät Prof. Seidler, durch zielgerichtete Arbeitsschutzmaßnahmen den älteren Arbeitnehmern weiterhin eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, schließlich sei das Alter eine wesentliche und unabwendbare Eigenschaft eines Menschen.
Nähere Informationen:
Medizinische Fakultät der TU Dresden, Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, Prof. Andreas Seidler, E-Mail:
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 16/2020 vom 20. Oktober 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.