15.06.2021
Das (vermeintliche) Schweigen der Bäume
Literaturwissenschaftlerin Dr. Solvejg Nitzke befasst sich an der TUD mit Mensch-Baum-Beziehungen
Seit diesem Jahr fördert die Fritz Thyssen Stiftung das Forschungsprojekt »Fremde Verwandtschaft. Eine Kulturpoetik der Bäume (Making Kin with Trees)« von Dr. Solvejg Nitzke, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur. Um mehr darüber zu erfahren, wie das Forschungsprojekt entstanden ist und warum die Beschäftigung mit der Mensch-Baum-Beziehung auch Erkenntnisse für andere Wissenschaften in sich birgt, hat das UJ mit der Literaturwissenschaftlerin gesprochen.
UJ: Wie sind die ersten Ideen zum Forschungsvorhaben entstanden?
Dr. Nitzke: Eine Kollegin aus Bochum sagte im Sommer 2017 aus Spaß, man müsse mal einen Workshop zu Bäumen in der Literatur machen. Dabei fiel mir auf, wie viele Bäume (nicht nur Wälder) mir in meinem Open Topic Postdoc Positions (OTPP)-Projekt »Prekäre Natur« begegnet waren und vor allem darüber hinaus. Wir haben also im Frühjahr den Workshop »Bäume in der Literatur« an der Ruhr-Uni veranstaltet, aber das reichte mir nicht. Ich konnte einfach nicht aufhören, über Bäume zu lesen und sie anzuschauen.
Interessant, wohin ein Scherz führen kann! Wie ging es dann weiter?
Ich habe gemerkt, dass es zum Thema kulturwissenschaftlich noch zu viel zu tun gibt, um das aufzuschieben. Da das die Fritz Thyssen Stiftung offenbar genauso sah, schreibe ich jetzt ein Buch über Bäume.
Wie sieht denn der bisherige Forschungsstand zum »Baum« in der Literatur und Kultur aus?
Es gibt natürlich schon Literatur- und Kulturwissenschaft zu Bäumen, aber erstens ist da die neue und neueste Welle von fiktionaler und nichtfiktionaler Baumliteratur noch gar nicht mitbedacht und zweitens ist vieles, was da ist, sehr verengt auf Bäume als Bildgeber – Baum als Metapher, Baum als Allegorie, Baum als Spiegel. Da stehen Bäume in Texten dann immer für etwas (meistens menschliches) anderes und nicht für sich selbst.
Wie knüpft Ihr Forschungsvorhaben daran an?
Mein Ziel ist es zu zeigen, dass Bäume (auch als Bild oder Modell) sich in Texte einschreiben, dass sie verändern, wie etwas erzählt werden kann und dass Texte nicht erst jetzt auf Baumwissen reagieren. Dabei stellen sich auch grundsätzliche Fragen für die Wissenschaften, die ja am Ende alle sprachlich agieren: Wie kann Wissen über Bäume vermittelt werden? Welche Rolle spielen rhetorische und erzählerische Mittel wie die Vermenschlichung? Warum fühlen sich so viele Autor:innen zu Bäumen hingezogen? Und schließlich: Wie müssen sich Literatur- und Kulturwissenschaften im Lichte ökologischer Prekarität und »kommunizierender« Bäume verändern.
Welche Gegenstände erforschen Sie hierbei genau?
Alles wo ein Baum drauf oder drin ist, wird mein Gegenstand. Vor allem lese ich Texte, aber da ist von historischer Forstökologie über »Nature Writing« bis zu Romanen und Lyrik alles dabei. Ich schaue mir aber auch Ausstellungen, Comics, Filme und Dokumentationen an. Es gibt auch einige digital erzählende Formate, die mich interessieren. Wichtig ist, dass es um eine Erzählsituation geht, aber das fasse ich hier bewusst im allerweitesten Sinne.
Wie kann man sich Ihre Forschung vorstellen? Wie gehen Sie dabei vor?
Zuerst habe ich möglichst viele Texte gesammelt und gelesen und dann Schwerpunkte festgelegt, aus denen sich die Projektstruktur ergibt. Jetzt gehe ich wieder »in« die Texte, um diese Struktur zu hinterfragen und neu zu justieren, bevor ich das Buch tatsächlich schreibe. So funktioniert das auch in den Analysen: Ich schaue, welche Rolle Bäume spielen, wie sie ins Verhältnis zu Menschen, sowohl als Figuren, als auch als Erzählende, gesetzt werden und, das ist die Preisfrage, ob die Bäume in den Texten handlungsfähig sind, also »agency« haben und wie sich das auswirkt. Was ich in einzelnen Texten und Artefakten finde, vergleiche ich mit den anderen und gruppiere sie beispielsweise um Fragen nach Zeit und Erinnerung, Skalierung und Vernetzung, Konsum und Poetik.
Bäume sind nicht nur ein beliebtes Motiv in Literatur und Kunst, sondern auch Forschungsgegenstand anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Inwiefern kooperieren Sie auch mit diesen?
Ich habe tatsächlich bisher noch nie so konsequent in ständigem Austausch gearbeitet – mit Kolleginnen aus den Literaturwissenschaften, die auch Pflanzen erforschen, aber auch mit dem Botanischen Garten der TUD und vielen Leuten, die beispielsweise auf Twitter und von dort aus in Podcasts und allen möglichen Wissenschaftskommunikationsformaten Interesse zeigen und die besten Fragen stellen. Ich bewege mich also gerade in sehr interessanten Grenzräumen der Forschung.
Gibt es schon erste Erkenntnisse und/oder Ergebnisse?
Ja. Aus dem Workshop, der 2017 stattfand, ist ein Sammelband hervorgegangen: Baum und Text. Neue Perspektiven auf verzweigte Beziehungen (herausgegeben mit Stephanie Heimgartner und Simone Sauer-Kretschmer). Darin habe ich unter anderem einen Artikel zur arborealen Poetik im »Nature Writing« geschrieben und mir angeschaut, wie und warum Menschen sich erzählend dendromorphisieren, also baumförmig machen. In der aktuellen Ausgabe des Journals »Non Fiktion« habe ich über die aktuelle Welle von nichtfiktionalen Baumtexten geschrieben, die mit Peter Wohlleben in Deutschland erst so richtig ins Rollen kam. Da geht es zum Beispiel darum, wie Bäume zueinander in Bezug gesetzt werden und wieviel man »erfinden« muss, um Botanik zu popularisieren.
Wie lautet Ihr bisheriges Zwischenfazit?
Bäume, das lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, zeigen in Texten nicht nur menschliche Bedürfnisse an, sie fordern die Erzählenden und Lesenden dazu auf, ihr Verhältnis zu sich selbst (Vorstellungen von Individualität z. B.) und ihrer Umwelt zu hinterfragen. Sie rücken uns mit einigem Druck aus dem Zentrum der Weltdeutung. Es klingt trivial, ist aber gerade für die Kulturwissenschaften entscheidend: Wir leben in der Welt der Bäume, nicht umgekehrt. Das bedeutet, wir müssen sie schützen. Allerdings hat es Grenzen, wie sehr meine Arbeit dazu beitragen kann. Darüber hinaus müssen wir unsere Denk- und Erzählweisen daraufhin prüfen, wie viel Platz sie für arboreale andere lassen.
Die Fragen stellten Betty Baumann und Anna Lorenzana.
Das Projekt kann auf dem Blog ecologies.hypotheses.org verfolgt werden.
Am 20. Juni, 15.30 Uhr, wird Dr. Nitzke in der Reihe des Botanischen Gartens »Triff die Koryphäe unter der Konifere« über ihre Forschung berichten. Näheres unter: https://tud.link/2yve
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 11/2021 vom 15. Juni 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.