01.12.2020
»Ich möchte Musik machen«
Der Chilene Helmuth Reichel Silva ist der neue künstlerische Leiter des Universitätsorchesters der TU Dresden
Am 1. April 2020 wurde Helmuth Reichel Silva zum neuen künstlerischen Leiter des Universitätsorchesters der TU Dresden berufen. UJ sprach mit dem 1983 in Santiago de Chile geborenen Dirigenten.
UJ: Helmuth Reichel Silva, das Jahr 2020 werden viele Musiker aus ihrem Gedächtnis wohl so schnell wie möglich streichen wollen. Für Sie hat es aber eine aufregende berufliche Herausforderung gebracht: Am 1. April wurden Sie zum neuen künstlerischen Leiter des Universitätsorchesters der TU Dresden berufen. Können Sie zuerst einmal Ihren Werdegang bis hierher nach Dresden schildern?
Helmuth Reichel Silva: Ich hatte das Glück, direkt nach meinem Schulabschluss in Chile nach Deutschland zu kommen, um Musik zu studieren, zunächst Violine und danach Orchesterleitung. Direkt nach meinem Violinstudium durfte ich wertvolle Erfahrung als Orchestermusiker sammeln, sowohl in einem Symphonieorchester als auch an einem Opernhaus, dabei hat mich die Arbeit mit tollen Dirigenten sehr geprägt, insbesondere mit Jonathan Nott und Mariss Jansons, von denen ich besonders viel für meine spätere Laufbahn als Dirigent mitgenommen habe. In dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt, wie ein Orchester agiert und funktioniert, das hat mir sehr geholfen, die Rolle eines Dirigenten besser zu verstehen. Während der letzten Jahre habe ich nicht nur mit tollen professionellen Orchestern, sondern auch mit Jugend und Laienorchestern arbeiten dürfen - der Weg hat mich nun glücklicherweise nach Dresden geführt.
Die Konkurrenz um die Nachfolge Filip Paluchowskis war hart, glaubt man den Stimmen aus dem Orchester. Wie haben Sie die Probedirigate erlebt, wie war Ihr erster Eindruck vom Orchester? Und wann haben Sie erfahren, dass Sie die Stelle haben?
Das Orchester hat etwas, das mich sofort begeistert hat, und das ist seine Offenheit. Ich habe tatsächlich sofort gespürt, dass wir uns sowohl musikalisch als auch menschlich gut verstehen können, und das ist wichtig, damit die zukünftige Zusammenarbeit für beide Seiten bereichernd ist. Die Freude am Musizieren und die Neugier sind für mich essenziell. Die Entscheidung des Orchesters habe ich mit Freude wenige Tage danach erfahren.
Ihre erste Amtshandlung dürfte gewesen sein, die nächsten Proben des Orchesters abzusagen. Und nun stehen im November schon wieder alle Uhren still – oder haben Sie irgendwelche Möglichkeiten gefunden, die Musikerinnen und Musiker auf die Konzerte, die für Januar und Februar 2021 geplant waren, vorzubereiten? Sind die Termine zu halten?
Am Anfang, im April 2020, war es tatsächlich schwierig, denn wir mussten ein geplantes Projekt in Zusammenarbeit mit dem Universitätschor absagen. Im Moment ist es sehr schwierig zu planen, trotzdem bereiten wir uns nach wie vor auf unsere Konzerte im Januar und Februar vor. Obwohl wir nicht wissen können, wie sich die Lage weiterentwickelt, hoffen wir sehr, dass die Probearbeit im Dezember und Januar fortgeführt werden kann, damit wir weiterhin im Januar und Februar auftreten können.
Das Universitätsorchester wird nächstes Jahr 60 Jahre alt. Da wird es sicherlich ein großes Festkonzert geben? Mit Ankündigungen müssen wir ja nun demütig sein, aber schildern Sie doch bitte, was für das Jubiläum geplant war und noch geplant ist.
Es sind mehrere Aktivitäten geplant, vor allem ein Jubiläumskonzert für Juli 2021 im Kulturpalast. Auf dem Programm stehen Béla Bartóks Tanzsuite, Bernsteins Symphonische Tänze aus West Side Story und Dvořáks 8. Sinfonie, alles Werke, die die Fröhlichkeit und festliche Stimmung unserer Feierlichkeiten unterstreichen. Dazu möchten wir unter anderem die Geschichte des Orchesters und die Erinnerungen aus diesen 60 Jahren durch eine sehr schöne Ausstellung der Öffentlichkeit präsentieren.
Ein Universitätsorchester ist naturgemäß ein Ort für häufige Besetzungswechsel; jedes Jahr wachsen neue Musikerinnen und Musiker nach. Gibt es in diesem Herbst eigentlich Probespiele?
Wir sind sehr dankbar, dass tatsächlich sehr viele Musiker interessiert sind, in unserem Orchester zu spielen. Dieses Semester wird es uns leider nicht möglich sein, normale Probespiele durchzuführen – ausnahmsweise planen wir derzeit stattdessen Online-Probespielen, auch deswegen, weil wir damit die Kontinuität dieses Prozesses gewährleisten möchten. Das ist sowohl menschlich als auch musikalisch gut für das Orchester.
Eine Frage, die vielleicht etwas heikel ist, und die Sie mir hoffentlich nicht übelnehmen: Ein Laienorchester zu leiten, gilt nicht für alle Dirigentinnen und Dirigenten auf ihrer Karriereleiter als attraktives Ziel. Warum haben Sie sich trotzdem bewusst dafür entschieden? Und welche Reize bietet die Stelle vielleicht im Vergleich zur Leitung eines Profiorchesters?
Mein Ziel ist eigentlich sehr simpel: Ich möchte Musik machen. Dabei ist es für mich nicht entscheidend, ob es sich um ein professionelles oder ein Laienorchester handelt – mir ist es wichtig, dass wir alle als Gruppe zusammen für die Musik brennen, dass wir den Wunsch haben, die Botschaft eines Werkes dem Publikum so klar und intensiv wie möglich rüberzubringen. Das ist, was mich motiviert und glücklich macht, und ich bin jedes Mal sehr dankbar, wenn ich dieses Glück mit einem Orchester erleben darf, ob Laien oder Berufsmusiker. Die Arbeitsweise ist zwar unterschiedlich zwischen professionellen und Laienorchestern, das Ziel ist musikalisch aber gleich – wobei die Offenheit und Neugier bei Laienorchestern besonders groß und erfrischend sind.
Die letzten Chefdirigenten (und eine Chefdirigentin) haben dem Orchester jeweils einen prägnanten stilistischen Stempel aufgedrückt. Wie wird das Orchester zukünftig klingen, und welches Repertoire haben Sie vor zu studieren?
Das Wichtigste für mich ist das Gefühl, dass wir als Orchester Kammermusik machen – das heißt aufeinander hören, füreinander spielen und gemeinsam die Musik erleben. Klanglich ist mir die unmittelbare Expressivität in dem Klang eines Orchesters enorm wichtig, ebenso wie die Intensität der Klangfarben. Oder vielleicht anders gesagt, ich suche immer das Feuer und die Ehrlichkeit in dem Klang! Vielleicht deswegen reizt mich vor allem solches Repertoire, das viele Klangfarben oder starke innere Botschaften darstellen kann. Das gibt es zum Glück in allen Epochen, und wir werden das Repertoire des Orchesters erweitern, insbesonders durch Werke des 20. und 21. Jahrhunderts. Mir ist es generell auch sehr wichtig, Musik aus Lateinamerika hier in Europa aufzuführen – nicht nur die »Hits« wie »Estancias« oder »Danzon «, sondern auch wunderbare Werke, die eher unbekannt sind. Ich persönlich liebe viel zu viele Komponisten, als dass ich mich für bestimmte entscheiden könnte, aber um ein paar zu nennen, das sind Bartók, Strawinsky, Ravel, Debussy, Ginastera, Copland, Villa-Lobos, Mahler, Webern, Boulez, Rihm, Widmann und Lachenmann. Die Liste ist eigentlich zu lang, und doch fehlen noch Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Brahms, ... es ist wirklich nicht möglich, alle zu nennen!
Werden Sie versuchen, das Orchester aus seinem Universitätskontext heraus deutlicher in die Kulturstadt Dresden hinein wirken zu lassen, oder sollte das Orchester vor allem für die Uni, ihre Studenten und Mitarbeiter da sein?
Für die Universität und ihr Umfeld auf jeden Fall, aber darüber hinaus fände ich es wichtig, dass wir uns stärker in das kulturelle Leben Dresdens positionieren. Wenn die Bedingungen es erlauben, möchte ich unbedingt regelmäßig mit Schulklassen aus Dresden zusammenarbeiten, ebenfalls ist mir die Ausbildung von Dirigenten sehr wichtig. Seit einigen Jahren arbeite ich als Gastprofessor an der Fundación de Orquestas Juveniles in meiner Heimatstadt Santiago in Chile, dort bin ich als Dozent für Orchesterleitung an der Ausbildung von Dirigenten beteiligt, die später Jugend- und professionelle Orchester in Chile leiten werden. Ich würde sehr gerne in einem kleineren Rahmen diese Aktivitäten mit dem Universitätsorchester in Dresden anbieten, sodass auch junge Studenten in Dresden regelmäßig an Workshops mit uns teilnehmen können. Wir freuen uns natürlich auch sehr, wenn die Zeiten uns wieder Konzertreisen erlauben!
Die Fragen stellte Martin Morgenstern.
Weitere Informationen zum Universitätsorchester Dresden:
https://www.uniorchester-dresden.de/
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 19/2020 vom 1. Dezember 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.