03.11.2020
Lachen, bis es wehtut
Im Schloss Herrenhausen in Hannover tagten TUD-Forscher zum Thema »Cringe«-Humor
Wieland Schwanebeck
Die Langenscheidt-Redaktion hat gesprochen – und auf Platz 2 der Jugendwörter des Jahres (knapp hinter »lost«) das Wort »cringe« gewählt, mit dem die körperliche Verkrampfung beschrieben wird, die uns im Moment extremer peinlicher Berührtheit und Fremdscham überkommt. Humoristische Formate, die auf »cringe« beruhen, haben im Moment Konjunktur. Sie stellen klassische Lachtheorien vor ein Problem, die eigentlich davon ausgehen, im Lachen drücke sich immer ein Wohlgefallen aus. Diese Annahme greift heute wohl nur noch bedingt, weiß man doch beim US-Präsidentschaftswahlkampf oder dem einen oder anderen Reality- Format im Fernsehen längst nicht mehr so genau, ob das Ganze noch zum Lachen ist oder ob man den Anblick überhaupt bis zum Schluss erträgt.
Auf Einladung von Dr. Wieland Schwanebeck (Professur für Englische Literaturwissenschaft der TUD) kamen im Rahmen eines von der Volkswagen- Stiftung geförderten Symposiums Mitte Oktober Forscher aus Literatur- und Medienwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Kulturanthropologie im Schloss Herrenhausen (Hannover) zusammen, um das Phänomen des »Cringe« zu untersuchen. Zu den Vortragenden zählten weitere TUD-Angehörige wie Patrick Wöhrle (Lab für Organisations- und Differenzierungsforschung) und mit Katja Kanzler und Gesine Wegner zwei Leipziger Literaturwissenschaftlerinnen, die im SFB 1285 »Invektivität« mitwirken. Im Lauf von drei Konferenztagen, in denen sowohl vor Ort als auch per Videokonferenz ins In- und Ausland diskutiert wurde, widmeten sich die Beteiligten nicht nur den neuronalen Abläufen, die die Erfahrung der Fremdscham charakterisieren, sondern auch zahlreichen Fällen, in denen Humor vorsätzlich Schmerzen bereitet – nicht nur in den ätzenden Bonmots erfolgreicher TV-Serien wie »Veep«, sondern auch als Herabsetzungsstrategie unter Fußballhooligans und auf der Bühne der Stand-up-Comedy. So erniedrigend und lähmend die Erfahrung des »Cringe« für die beteiligten Akteure sein kann, die versammelten Forscher kamen auch immer wieder überein, dass in der geteilten Erfahrung der Fremdscham stets die Hoffnung keimt, man könne aus der Situation so belehrt und gefestigt hervorgehen wie aus der erschütternden Katharsis in der antiken Tragödie. Das gilt nicht nur, wenn britische Comedy- Shows wie »Alan Partridge« oder »The Office« vorführen, wie betreten eine Gesellschaft aus der Wäsche schaut, in der zu jeder Zeit die Kameras eingeschaltet sind, sondern auch, wenn Menschen mit Behinderung auf gewitzte Art »Cringe« in ihre Performances einbauen oder Komiker auf die beschwerliche Isolation in Zeiten der Corona-Pandemie aufmerksam machen.
Im Abendprogramm der Veranstaltung war der amerikanische Comedy- Regisseur Robert Weide aus Kalifornien für ein Live-Gespräch zugeschaltet. Weide, der so erfolgreiche Fremdscham- Comedys wie »Mr. Sloane« und »Curb Your Enthusiasm« geschaffen hat, ist für seine legendären Peinlichkeits-Pointen im Internet mittlerweile zum Synonym für komische Katastrophen geworden (oder wie er es ausdrückt: »zum wandelnden Meme«). Er berichtete über seine Erfahrungen in der Comedy-Praxis, zeigte aufschlussreiche Querverbindungen in die Geschichte der amerikanischen Komiktradition auf und machte anhand seiner Erfahrungen als Schöpfer einiger der provokativsten und meistdiskutierten Comedy-Szenen der jüngeren Fernsehgeschichte deutlich, dass guter Humor eben manchmal wehtun muss.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 17/2020 vom 3. November 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.